Geschrieben am 11. Dezember 2013 von für Bücher, Litmag

Ben Lerner: Abschied von Atocha

U1_XXX.inddAuf der Suche nach der verlorenen Erfahrung

– In seinem Debütroman lässt der amerikanische Lyriker Ben Lerner den amerikanischen Lyriker Adam Gordon ein Jahr als Stipendiat in Madrid verbringen und ein ebenso unterhaltsames wie tiefsinniges „Forschungsprojekt“ rund um die Themen Ich-Bewusstsein, Kunst und Politik durchführen – Ähnlichkeiten zwischen dem Autor und dem Held sind dabei wohl nicht ganz ausgeschlossen. Von Karsten Herrmann

Die meiste Zeit seines Forschungsprojektes verbringt Adam Gordon ganz relaxt mit Kaffetrinken, Kiffen, Schlucken von Anti-Depressiva und Besuchen im Prado, wo er die flämischen Meister meditativ betrachtet und auf eine tiefgreifende Kunsterfahrung wartet. Nur selten widmet er sich inmitten seiner extensiven Selbst- und Weltbeobachtungen dem Gedichtschreiben beziehungsweise vielmehr dem Collagieren und Dekonstruieren von Lorca-Gedichten und Realitätsschnipseln: „eine Anhäufung von Materialien, aus denen sich Gedichte bauen ließen, sie waren reine Potenzialität, die der Artikulation harrte“.

Zutiefst erleidet Adam Gordon die seit Hugo von Hofmannthals „Lord Chandos“-Brief immer wieder beklagte „Inkommensurabilität von Sprache und Erfahrung“. Allen Versuchen der Intensivierung der Gegenwart zum Trotz bietet das Leben im Zeitalter der fortschreitenden Globalisierung und Virtualisierung ihm keine authentischen Erfahrungen mehr, die sich in Literatur und Kunst ummünzen ließen. Es bleibt nur die „Als ob“-Inszenierung der eigenen Existenz und so fühlt Adam Gordon sich zwischen seinen beiden schamlos belogenen Freundinnen Isabel und Theresa wie ein „Kleindarsteller in einem Endlos-Infomercial für das beschädigte Leben“. Doch dann bricht die Realität in Form der Al Quaida-Anschläge vom 11. März auf den Madrider Bahnhof Atocha doch noch mit aller Macht in das Leben herein und fordert ihn auf Stellung zu beziehen.

Voller Selbstironie, Witz und psychologischem Feingespür geht Ben Lerner in seinem Roman der Frage nach, inwiefern Kunst und Literatur im 21. Jahrhundert noch möglich sind und parodiert zugleich deren permanente, überinstrumentierte (Selbst-) Inszenierung. Im Kern scheint die seit der Moderne oft variierte Sehnsucht und die Suche nach einem nicht entfremdeten und authentischen Leben durch, zu dem jedoch schon Theodor W. Adorno anmerkte: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Die existentiellen Suchbewegungen und Welterkundungen des Künstlers als junger Mann sind nicht neu, aber in Ben Lerners „Abschied von Atocha“ hoch intelligent und originell sowie in einer wunderbar geschliffenen, nuanciert dahin surrenden Prosa umgesetzt.

Karsten Herrmann

Ben Lerner: Abschied von Atocha. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingel. Rowohlt Verlag 2013. 254 Seiten. 19,95 Euro.

Tags :