Bloody Chops – kurz und blutig
Heute auf dem Block – John Burley: „Angstgespenster“, Tess Gerritsen „Der Schneeleopard“, Ben Berkeley „Das Haus der tausend Augen“, Matz/Walter Hill/Jef „Querschläger“.
Beilführend heute: Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM) und Thomas Wörtche (TW)
Aufs Angenehmste verunsichernd
(JF) Der neue Patient ist „schön auf eine bei Männern seltene Art“. Dr. Lise Shields ist beeindruckt. Denn die Menschen, mit denen es die Psychiaterin normalerweise zu tun hat, sind unheilbar krank, und man sieht es ihnen auch an. Seit sie vor fünf Jahren ihre Ausbildung abgeschlossen hat, arbeitet Lise in Menaker, einer forensischen Klinik in der Nähe Baltimores. Und in dieser Zeit hat sie viel gelernt. Sie ist „Zweiundzwanzigjährigen begegnet, die wie vierzig aussahen, und Sechzigjährigen, die noch immer in der Pubertät gefangen schienen“. Doch Jason Edwards, der junge Mann, um den sie sich nun kümmern wird, passt nicht in das übliche Schema. Es gibt keine Akte über ihn. Und auf den ersten Blick wirkt er vollkommen normal. Das erste Gespräch fördert nur spärliche biografische Details zutage, doch schon bald öffnet sich der Patient und erzählt von traumatischen Kindheitserlebnissen. Weshalb er allerdings in Menaker ist, erfährt Lise noch immer nicht. Der Leser von John Burleys Thriller „Angstgespenster“ aber weiß schon bald, dass es um ein Gewaltverbrechen gehen muss, denn Rückblenden konfrontieren ihn direkt mit Jasons Erinnerungen, während Lise immer mehr den Eindruck gewinnt, verfolgt zu werden. Gleichzeitig häufen sich die Indizien, dass die Psychiaterin als Erzählerin nicht unbedingt zuverlässig ist. Schon aus diesem Grunde darf der vorläufigen Aufklärung des Rätsels ungefähr auf halber Strecke des Romans misstraut werden.
„Angstgespenster“ ist eine clever konstruierte Variante des Psychiatrie-Thrillers. John Burley versteht es, auf poetische Weise von der fließenden Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit zu erzählen. Das ist spannend und berührend zugleich, auch wenn der Plot nicht unbedingt überrascht. Wer mit der Handlung von Hitchcocks „Ich kämpfe um dich“ (Spellbound, 1945) vertraut ist, wird so manche Anspielung erkennen können. Aber so wie im Falle dieses klassischen Thrillers die visuelle Gestaltung – vor allem in Hinsicht auf die von Salvatore Dali ausgestattete Traumsequenz – eindrucksvoller ist als die Auflösung des Kriminalfalls, steht in Burleys Roman die Sprache, in diesem Fall natürlich die der gelungenen deutschen Übersetzung, im Vordergrund. In scheinbarer Präzision wird eine isolierte Welt beschrieben, die, wie wir schon im ersten Satz erfahren, „Albtraum und Rettung zugleich“ ist. Wie Recht die Erzählerin mit dieser Einschätzung hat, leuchtet dem über weite Strecken aufs Angenehmste verunsicherten Leser allerdings erst am Ende dieses bemerkenswerten spannungsliterarischen Exerzitiums ein.
John Burley: Angstgespenster (The Forgetting Place. 2015). Roman. Deutsch von Andreas Heckmann. Köln: Egmont-Lyx 2015. 363 Seiten. 9,99. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.
Haarsträubend, aber nicht zu viel
(AM) Kann man einer Katze je vertrauen? „Die Beziehung zwischen Katzen und Menschen ist nicht einfach eine zwischen Jäger und Beute, sie ist viel komplexer. Eine Hauskatze mochte auf deinem Schoß sitzen und dir aus der Hand fressen, aber sie hatte immer noch die Instinkte eines Jägers“, heißt es im letzten Drittel von „Der Schneeleopard“. Kurz zuvor war zu lesen, wie die Menschen der afrikanischen Urzeit auch dadurch überlebten, dass sie wohl auch den Leoparden die auf Bäumen gelagerte Beute raubten. So mussten sie selbst keine schnellen Antilopen jagen und konnten sich an den Leoparden-Bäumen wie im Fast-Food-Restaurant bedienen.
Tess Gerritsen hat quer durch das ganze Buch einiges an solchen Informationen parat, im Nachhinein wird klar, welch ein erzählerisch raffinierter Einstieg die Safari in Botswana war, wo mit einer aus dem Ruder laufenden Safari die Komfortzone wie eine Zeltplane zerfetzt wird und die Wildnis Einzug hält. Nur scheinbar ist Boston dazu ein Gegensatz. Ein Tierpräparator und Großwildjäger wird dort übel zugerichtet aufgefunden, ausgeweidet und wie eine Jagdbeute an den Beinen aufgehängt. Die Polizistin Jane Rizzoli und die Gerichtsmedizinerin Maura Isles haben einen neuen Fall. Einen, bei dem selbst die abgebrühte Maura am Abend lieber nichts mit Fleisch isst.
Tess Gerritsen ist gelernte Ärztin, vor den Rizzoli & Isles-Romanen schrieb sie Medical Thriller. Für die Erfordernisse einer sich (auch) an Pathologiebefunden ergötzenden Mainstream-Leserschaft ist sie also wirkliche Fachfrau. Sie übertreibt es nicht, setzt ihre Schnitte und Schockeffekte sparsam. Stephen King nannte sie einmal „den besseren Michael Crichton“. 2001 erfand sie ihre Frauenfiguren Rizzoli und Isles, „Der Schneeleopard“ ist deren elfter Fall. Als Fernsehserie läuft „Rizzoli & Isles“ (auf Vox) bereits in der fünften Staffel. 74 Folgen sind es bisher insgesamt, ein Zeichen dafür, dass sich da eine Figurenkonstellation behauptet.
Die tritt im „Schneeleoparden“ fast ein wenig zugunsten der Ich-Erzählerin Millie aus dem Busch zurück, einer interessant zähen Frauenfigur. Ereignisse der Vergangenheit, etwa wie Jane ihren Mann fand, den FBI-Agenten Gabriel Dean, werden nur kurz gestreift. „Eine Familie ohne Drama wäre nicht meine Familie“, sagt Jane einmal.
An nicht wenigen Stellen werden sich in diesem Buch bei Katzenliebhabern oder Vegetariern die Haare sträuben, werden Fleischesser und Tierschützer vielleicht einen Buckel machen. Frau Doktor Gerritsen hat für sie alle kleine Piksnadeln bereit. In einer Zeit, in der sich viele fragen, woher und wie das Essen auf den Tisch kommt, bietet „Der Schneeleopard“ einen erfrischend unbefangenen Blick in atavistische Abgründe und auf heutige Selbstverständlichkeiten. Besonders gelungen sind die Safari-Kapitel, Spannungsliteratur in altmodisch gutem Sinne. Das kann nur jemand schreiben mit dem richtigen Schuss von „Been there, done that“. Die Rizzoli & Isles-Serie ist noch nicht auserzählt. Jetzt am 12. Juni 2015 ist Tess Gerritsen 62 geworden.
Tess Gerritsen: Der Schneeleopard (Die Again.2015). Roman. Deutsch von Andreas Jäger. München: Limes Verlag 2015. 416 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch, mehr zur Autorin.
Mit Identifikationspotential
(JF) Kurz bevor eine Gesetzesvorlage, die der Datensammelwut der Geheimdienst enge Grenzen setzen würde, dem US-Kongress zur Abstimmung vorgelegt werden kann, wird Gary Golay, der als stellvertretender Stabschef im Weißen Haus für die Gestaltung dieses National Security Privacy Acts verantwortlich ist, verhaftet. Er soll eine Edelprostituierte erstochen haben. Natürlich ist er unschuldig, aber dass er Kontakt zu der Ermordeten hatte, kann er nicht leugnen. Aber die Wahrheit spielt keine Rolle. Offensichtlich ist Golay Opfer einer Intrige geworden, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Verabschiedung „seines“ Gesetzes mit allen Mitteln zu verhindern.
Der deutsch-amerikanische Autor Ben Berkeley hat mit „Das Haus der tausend Augen“ einen Thriller vorgelegt, der auf drastische Weise die unbegrenzten Möglichkeiten des Überwachungsstaates vorführt. Nichts bleibt den kaum noch zu kontrollierenden Geheimdiensten verborgen: Telefone werden abgehört, Handys geortet, E-Mails gelesen. So eröffnet sich ein fantastisches Tätigkeitsfeld für machtbewusste Individuen mit der entsprechenden kriminellen Energie, wie Gary Golay auf schmerzlichste Weise erfahren muss. Selbst sein guter Kontakt zum Präsidenten kann ihn nicht retten. Zumindest hat es bis kurz vor dem Ende dieses gut gemeinten und durchaus spannend erzählten Romans den Anschein. Doch einen zu finsteren Schluss wollte der Autor seinen Lesern offenbar nicht zumuten. Dass es für Golay letztendlich glimpflich ausgeht, verdankt er ironischerweise ausgerechnet den Methoden, die zuvor von seinen Gegnern angewendet wurden.
Ben Berkeley organisiert sein Erzählmaterial weitgehend souverän. Die verschiedenen Handlungsfäden des (oben in ziemlich reduzierter Form wiedergegebenen Plots) werden auf 91 Kapitel, viele davon nur wenige Seiten lang, verteilt. Heraus kommt ein flott zu lesendes Buch, das vor allem Lesern gefallen dürfte, die Spannungsliteratur mit Identifikationspotential bevorzugen. Diese werden dann gewiss auch gerne über eine gewisse Hast, mit der der Autor seine Geschichte auf den letzten dreißig Seiten ihrem Ende zutreibt, hinwegsehen.
Ben Berkeley: Das Haus der tausend Augen. Roman. München: Droemer 2015. 442 Seiten. 14,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch, mehr zum Autor.
(TW) Wie grandios klassische Muster funktionieren, wenn sie dementsprechend gehandhabt werden, zeigt „Querschläger“, ein opulenter Comic (jaja, man sagt jetzt: eine graphic novel) von Texter Matz und Zeichner/Colorist Jef nach einem Originalszenario von Walter Hill. In einem schönen, kleinen Interview am Ende des Bandes betont der Actionspezialist Hill (Regisseur von The Driver, The Warriors, Southern Comfort, Last Man Standing usw. usw.) wie wichtig Gewalt und notfalls exzessive Gewalt für alle Arten von crime fiction ist. „Querschläger“ spielt während der Prohibition, einer Zeit, in denen sich bestimmte Verhaltensmuster der amerikanischen Gesellschaft formierten – eine der wichtigsten mythenbildenden Epochen des 20. Jahrhunderts und deswegen noch lange nicht „auserzählt“. Der freiberufliche Hitman Roy Nash wird aus dem Knast geholt, um für „Chicago“ in Los Angeles ein paar Probleme final zu lösen und verwickelt sich dann doch wegen einer schönen Frau in allerlei Ärger.
Wie gesagt: Klassisch. Flamboyant erzählt, brillant in Bilder umgesetzt und in grell-fahle Farben getaucht. Und ja, natürlich: in einer solch sinnenfrohen, schon wollüstig prallen und raffiniert-prächtigen Inszenierung werden Sex und Gewalt zu den faszinierenden Kategorien, die sich seit Anbeginn der Zeiten durch (fast) alle Kulturen und (fast) alle Gesellschaften ziehen. Manche sind sogar besessen davon. Und das artikuliert sich besonders offen in den Populären Kulturen. „Querschläger“ können weh tun. Dieser Comic macht Spaß.
Matz/Walter Hill/Jef: Querschläger (Balles Perdues, 2015). Graphic Novel. Deutsch von Harald Sachse. Bielefeld: Splitter Verlag 2015. 126 Seiten. 24,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.
Foto: Walter Hill 1137 von Harald Bischoff – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.