Geschrieben am 3. Mai 2014 von für Bücher, Crimemag

Artur Domosławski: Ryszard Kapuściński. Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters

domoslawski_kapuscinskiSozialrealistische Reportage oder aufgehübschter Neofabulismus?

‒ Zu Artur Domosławskis kritischer Biografie des „Jahrhundertreporters Ryszard Kapuściński. Von Peter Münder

„Unsere Phantasie lechzt nach der kleinsten Sensation, dem geringsten Signal einer Bedrohung, dem schwächsten Pulvergeruch, saugt alles gierig auf, um es dann unverzüglich zu monströsen, überwältigenden Ausmaßen aufzublasen. Ich wußte aber auch, daß alle sozialen Eruptionen, jene Momente, da sonst ruhige, träge Wasser zu brodeln und zu sieden beginnen, Momente des allgemeinen Chaos, heilloser Unordnung, wahnwitziger Verwirrung sind. Bei solchen Gelegenheiten kann man leicht nur wegen des herrschenden Durcheinanders sein Leben verlieren, durch einen Irrtum, weil einer etwas nicht richtig verstanden oder nicht rechtzeitig bemerkt hat. In solchen Tagen erlebt der Zufall seine große Stunde, wird zum wahren Herrn und Meister der Geschichte“.

Ryszard Kapuściński 1958 beim Anflug auf Sansibar, um eine Reportage über einen Putsch zu schreiben („Afrikanisches Fieber“, Eichborn Verlag Frankfurt, 1999, S. 81)

The_Legend_Kwame_NkrumahDie Witwe Alicja Kapuścińska wollte diese bereits 2010 in Polen erschienene Biografie gerichtlich verbieten lassen, Millionen polnischer Bewunderer des „Jahrhundertreporters“ waren entsetzt über die angebliche Diffamierung einer nationalen Ikone, ein polnischer Politiker beschimpfte den Biografen Domosławski als Verfasser eines „Bordellführers“: Selten war eine Biografie so umstritten wie die über den legendären Reporter Ryszard Kapuściński. Wollte der 47-jährige Artur Domosławski, Journalist der linksliberalen Warschauer Tageszeitung Gazeta Wyborcza, sich als Denkmalschänder profilieren und den wohl bekanntesten polnischen Autor nach dessen Tod als Faktenfälscher, Spion, Frauenheld und KP-Mitläufer verunglimpfen? Keineswegs!

Offenbar haben viele empörte Kritiker das Buch gar nicht gelesen ‒ denn bei der Lektüre wird schnell deutlich, dass es dem ehemaligen Freund und Schüler Kapuścińskis, der sich drei Jahre lang mit Reisen rund um den Globus auf die Spuren seines ehemaligen Mentors begab, nicht um Diffamierung und Häme geht, sondern um die Trennung von Dichtung und Wahrheit. Offenbar hatte Kapuściński an einigen ihn verklärenden Legenden selbst mitgestrickt, etliche spektakuläre Gefahrensituationen überpointiert dargestellt oder sie einfach im „neo-fabulistischen“ Stil märchenhaft übertrieben. Diesen Widersprüchen und Ungereimtheiten wollte Domosławski nur mit wohlwollend prüfendem Blick nachgehen ‒ bis daraus eine drei Jahre andauernde Recherche zu ehemaligen Reportage-Schauplätzen und früheren Freunden und Kollegen Kapuścińskis wurde.

Ryszard Kapuściński  (Foto: Mariusz Kubik/wikimedia commons)

Ryszard Kapuściński (Foto: Mariusz Kubik/wikimedia commons)

Gepackt vom afrikanischen Fieber

Schon als er 1957 zum ersten Mal nach Afrika flog, um aus Ghana zu berichten, fühlte sich Kapuściński (1932‒2007) wie zu Hause: „War dieser Geruch der Tropen nicht derselbe, der den kleinen Kolonialwaren-Laden von Herrn Kanzmann in der Perez-Straße in Pinsk erfüllt hatte?“, überlegt er nach der Landung ‒ und der junge Reporter fühlt sich sofort selbst wie ein Afrikaner. Die Hitze, das sympathische Lachen der Menschen, ihre Offenheit, das Licht: Alles Afrikanische ist ganz nach seinem Geschmack, auch wenn er später in Uganda, Angola, Kongo, Liberia und anderen afrikanischen Staaten den Terror als Augenzeuge bei Putschversuchen und Befreiungskämpfen sowie die gnadenlosen Gemetzel der Stämme und die Angst in unsicheren Grauzonen zwischen den Fronten kennenlernt. Die gerade erworbene Unabhängigkeit Ghanas erlebt er als triumphales Fest, den neuen Nationalismus als selbstverständlichen Befreiungsakt vom Kolonialismus und als Ausdruck einer beflügelnden kollektiven Identitätsfindung.

Für den Mann aus Pinsk, der immer auf der Seite der Unterdrückten, Ausgebeuteten und Ausgegrenzten war („Ich mied offizielle Routen, Paläste, wichtige Gestalten und die große Politik“), stellte sich die Heldenverehrung Nkrumahs mit dem Beginn der postkolonialen Ära als beeindruckender Abnabelungsprozess dar. „Kapu“ konnte wenige Jahre nach dem Tod Stalins, als von einem Tauwetter in Polen noch nicht viel zu spüren war, die Sehnsucht der Afrikaner nach einem unabhängigen Neuanfang sehr gut nachvollziehen. Ihn als Historiker faszinierten die großen politischen Umwälzungsperioden ebenso wie auch die alltäglichen, fremden und faszinierenden Details. Bezeichnend und typisch für ihn war, dass er etwa bei einer Konferenz ugandischer Rebellen mit Regierungsvertretern nicht mit den anderen Reportern den Phrasen und Verlautbarungen der Militärs und Provinz-Potentaten lauschte, sondern sich lieber mit den zerlumpten Soldaten auf der Straße unterhielt, die ihm ihr Leid klagten: Sie hatten schon seit Monaten keinen Sold und kein Essen bekommen ‒ kein Wunder, dass sie als Marodeure alles plünderten, was ihnen zwischen die Finger kam.

So basisbezogen kam er oft zu anderen, realistischeren Einschätzungen der politischen Situation als die in klimatisierten Komfortzonen sedierten Kollegen. Insgesamt 27 Putsche und Revolutionen hatte er als Reporter beobachtet und beschrieben. Das mörderische Treiben des Schlächters Idi Amin hatte er verfolgt, die wahnwitzigen Rivalitäten und Kämpfe der verschiedenen Befreiungsgruppen in Angola („Wieder ein Tag Leben“) hautnah beim Herumziehen mit MPLA-Kämpfern und in der umkämpften Hauptstadt Luanda erlebt. Damals war Kapu der einzige westliche Reporter, der den Zerfall sozialer und moralischer Strukturen, aber auch die Machenschaften ausländischer Geheimdienste und die Aktivitäten kubanischer Militärs beobachtete. „Ein Kapuściński ist tausend graue Journalistenphantasien wert und seine atemberaubende Mixtur aus Reportage und Kunst bringt uns das, was er das nicht vermittelbare Bild des Krieges nennt, so nahe, wie es Lektüre irgend nahe bringen kann“, urteilte Salman Rushdie begeistert über die 1976 veröffentlichte Angola-Reportage „Wieder ein Tag Leben“.

Meine Reisen mit HerodotAuch die Aktivitäten südamerikanischer Guerillas hatte Kapu beschrieben, wobei er sich auf die Spuren von Che Guevara begab und später die Legenden seiner angeblichen Freundschaft mit Che ebenso kommentarlos tolerierte oder als vom Verlag fabrizierte Klappentext-Information abtat wie die Hinweise auf seine Treffen mit dem afrikanischen Befreiungspropheten Patrice Lumumba, die sich inzwischen jedoch als reine Fiktion herausstellten.

Domosławski hat diese und viele andere Unstimmigkeiten und von Kapu selbst fabrizierte Stilisierungen in seiner kritischen, doch wohltuend unpolemischen Biografie enthüllt. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, mit der Aufarbeitung der polnischen KP-Vergangenheit und der „Durchleuchtung“ (die „Lustration“ in Polen wurde vorübergehend zur modernen Inquisition) ehemaliger KP-Mitglieder war auch Kapuściński ins Visier der neoliberalen Aufklärer geraten, die ehemalige Partei-Profiteure und Gomulka-Sympathisanten entlarven und verurteilen wollten. Doch Domosławski reiht sich eben nicht ein in diese Generalabrechner, die Kapu nun als Opportunisten und Spion im Dienste des SB-Geheimdienstes entlarven wollen. Der Biograf nimmt die Vita des großen Reporters zwar gründlich unter die Lupe und enthüllt diverse Schwachpunkte ‒ aber er nimmt den Jahrhundertreporter auch wirklich ernst und würdigt Kapuszinski etwa auch als Denker und Gesellschaftskritiker, der sich mit Francis Fukuyamas leichtfertigem Geschwätz vom „Ende der Geschichte“ nicht zufrieden gibt.

Dichtung und Wahrheit: Wen kann es überraschen, dass der Geheimdienst Kontakte zu Kapu herstellte, um an Informationen aus der Dritten Welt zu gelangen? Ohne das Okay der Partei, des Geheimdienstes und anderer Stellen wäre Kapu nie eine Ausreisegenehmigung erteilt worden. Domosławski hat gewissenhaft eruiert, dass der Reporter sich nie auf die Denunziation von Kollegen einließ, keine Geheimnisse verriet und damals natürlich auf die Reisegenehmigungen offizieller Stellen angewiesen war. Er hatte zwar lockere Kontakte zum SB, doch er lieferte laut damaliger Aktenvermerke und Aussagen von Geheimdienstmitarbeitern keine wirklich relevanten, brauchbaren Informationen. Er hatte es genauso gemacht wie Graham Greene, der ja jahrelang MI-6-Mitarbeiter war, aber sich viele Informationen einfach ausgedacht hatte ‒ für Greene stellte der Dienst die ideale Möglichkeit dar, die Welt zu bereisen: „Der Geheimdienst ist das beste Reisebüro der Welt“, schwärmte er nach seinen Reisen in exotische Länder.

Graham_Greene_(wiki), Abbildung Green: Forgács Máté

Graham Greene (wikimedia commons/Forgács Máté)

Andererseits: Greene hatte sich immer über den MI 6 mokiert, mit „Our Man in Havana“ eine glänzende Satire über die Unfähigkeit der Dienste fabriziert und nach Kim Philbys Flucht nach Moskau diesen damaligen „Staatsfeind Nr. 1“ in Moskau interviewt und ein schmeichlerisches Vorwort zu Philbys Autobiografie „My Silent War“ verfasst. Wie Domosławski enthüllt, muss man Kapu dagegen ‒ und dies ist ein gravierender Schwachpunkt des Historikers ‒ dreiste Geschichtsklitterung vorwerfen. Denn die in „Schah-in-Schah“ gelieferte kritisch-objektive Abrechnung mit den Machenschaften der CIA, die zur Beseitigung des iranischen Premiers Mossadegh führte, unterschlägt er in der amerikanischen Übersetzung. Rund fünfzehn Seiten über die Attentatspläne und den CIA-Coup hatte Kapu für die amerikanische Ausgabe einfach eliminiert, weil er befürchtete, bei seinen Vortragsreisen durch die USA Nachteile in Kauf nehmen zu müssen oder kein US-Visum zu bekommen ‒ ein klarer Fall von Selbstzensur und Opportunismus. Domosławskis Vermutung, Kapu hätte amerikanische Hinweise auf seine eigene Mitarbeit für den polnischen Geheimdienst befürchtet, ist sicher berechtigt. Aber deshalb die Schere im Kopf zu aktivieren, ist unverzeihlich, zumal für einen so engagierten Historiker wie Kapuściński.

shah-in-schahDas Ende der Legenden: Kapuściński war nie, wie er behauptet hatte, vor ein belgisches Erschießungskommando einer Fallschirmjäger-Einheit gestellt und beinah umgebracht worden; auch die in „König der Könige“ beschriebenen, speziell für die auf Schuhe von Gästen pinkelnden Hunde zuständigen Beamten am Hof des Kaisers hatte es nicht gegeben ‒ Kapu war wohl einem kreativen Märchenerzähler auf den Leim gegangen. Aber erfasst diese märchenhafte Nuance nicht genau den Geist eines größenwahnsinnigen Potentaten?

Faszinierend ist, dass Domoslawsi mit ehemaligen Kapu-Freunden und Kollegen sprach, die sich gut an Treffen und Diskussionen mit Kapu erinnern konnten. Bei einem Seminar, das Kapu zusammen mit dem befreundeten Gabriel García Márquez  (Zum Nachruf in CM) in Mexico für junge Journalisten abhielt, kam es zu lebhaften Diskussionen. Denn Márquez fand überhaupt nichts dabei, seinen magischen Realismus auch in einer Reportage aufleuchten zu lassen und etwa die Tränen einer alten Frau im Text munter fließen zu lassen, obwohl sie bei der Begegnung mit dem Reporter überhaupt nicht geweint hatte. Márquez fühlte sich darin offenbar von Kapu bestätigt, den er direkt fragte: „Du hast ja auch oft geflunkert und wärst ja sicher nicht gegen diese künstlerische Freiheit gewesen?“ Doch Kapu lächelte damals nur vielsagend, ohne sich mit einem eindeutigen Kommentar dazu zu äußern. Diese neutrale Haltung hat Kapu offenbar oft gezeigt, wenn er Freunde nicht enttäuschen und Konflikte vermeiden wollte.

HérodotHerodot als Lehrer und Reporterkollege

Mit Herodot als Unterhalter, Aufklärer, Militärhistoriker und Geograph im Gepäck war der junge Reporter von „Sztandar Mlodych“ („Jugendfahne“) schon 1957 durch Indien gereist ‒ damals hatte ihm eine Redakteurin den Band „Historien“ mit auf den Weg gegeben. Für Kapu war es natürlich ‒ zur Zeit strikter Reisebeschränkungen ‒ ein märchenhafter Befreiungsakt, auch wenn er völlig unvorbereitet und ohne Englischkenntnisse nach Indien geschickt wurde. Für heutige Network-Nerds, Smartphone-Adepten, Chatroom- und E-Mail-User ist es sicher schwer nachvollziehbar, dass die Berichte damals per Telex an die Zentrale übermittelt wurden und die Ferngespräche mit der Heimat erst umständlich vorangemeldet und wegen der hohen Kosten auf ein Minimum reduziert wurden. Herodot (485‒425 v.Chr.) erwies sich als Kapus Wegweiser und Lehrmeister: Das Überschreiten von Grenzen war für den Polen ebenso ein Ereignis wie für den großen Griechen, das Gespräch mit dem Mann von der Straße war für ihn genauso entscheidend, und bald erkannte Kapu im Historien-Erzähler auch den großen Reporter, der seinen Stoff aus den Reiseeindrücken bezog.

Über den Tag hinaus, jenseits aktueller News, interessierten ihn die exotisch-grotesken und brutalen Zustände in Afrika, Asien und Südamerika als Versatzstücke und Bestandteile kafkaesker Parabeln, die auch Rückschlüsse auf polnische Verhältnisse zuließen: Glich das Verhalten der Hofschranzen, die er im Dunstkreis des märchenhaften Kaisers Haile Selassie erlebte, nicht dem Gebaren der Genossen, die sich bei den höheren KP-Chargen anbiederten? Ähnelten der erbärmliche Lebensstandard, die Zensur und ewige Bevormundung in Ländern der Dritten Welt nicht den polnischen Verhältnissen? Jedenfalls hatte Kapu schon früh den Blick über den engen tagesaktuellen Nachrichtenhorizont gerichtet und Stoff für größere Reportagen und Berichte gesammelt, den er dann in seinen meistens auch preisgekrönten Büchern literarisch veredelte: „König der Könige“ (1984), „Schah-in-Schah“ (1986), „Imperium“ (1993) sind akribische Reportagen, die belletristische Passagen enthalten, mit denen die grotesken Exzesse der Macht sowie chaotische Konflikte und apokalyptische Gewaltexzesse nach Revolutionen verdichtet und überhöht wurden.

haile_Selassie

Kaiser Haile Selassie

Reportage oder schöngeistige Literatur

Die Kontroversen und die polemische Kritik polnischer Publizisten, die sich auf den vermeintlichen Denkmalschänder Domosławski konzentrieren, geraten jedoch aufgrund einer Erbsenzähler-Detailhuberei und einer unsäglichen Fixierung auf Etiketten und Schubladen mit dem Label „Reportage“ oder „Literatur“ zur kleinkarierten Posse. Sind diese Label nicht ziemlich irrelevant, wenn es letztlich, wie Domosławski konstatiert, um Kulturvermittlung geht? Denn als Kulturvermittler hatte sich Kapuściński selbst verstanden: Das Ausgrenzen von anderen, von Minderheiten, anderen Kulturen, von Fremden, ging ihm auch bei seinen Reisen in den ehemaligen Sowjetstaaten (in „Imperium“ großartig beschrieben) furchtbar auf den Geist. Und seine Reportagen sollten eben auch das Verständnis für diese „andere“ Welt wecken.

Kapuściński selbst hat sich allerdings selbst auf diese Diskussion in seinen Sentenzen und Überlegungen in „Die Welt im Notizbuch“ eingelassen und die Diskussion auf den Unterschied von alten Print- und neuen Digital-Medien reduziert: Wegen des angeblichen Untergangs traditioneller Printmedien seien klassische Reportagen nun nicht mehr angesagt … Dieses Argument ist überhaupt nicht überzeugend, finde ich. Man merkt Kapu hier deutlich seine Aversion gegen neue Medien an ‒ er als Reporter der alten Schule hockte früher täglich am Telexgerät, kannte weder Handy noch PC und lehnte später auch die Benutzung eines PC als Schreibgerät ‒ wozu ihn seine Tochter „bekehren“ wollte ‒ nach einigen vergeblichen Versuchen rigoros ab.

Außerdem liefert er ja selbst das überzeugendste Beispiel für eine Literatur über alle Gattungsgrenzen hinweg: Seine Reportagen enthalten immer Momente von lyrischer Intensität, philosophische Betrachtungen und romanhafte Sequenzen. Zum Erfolgsgeheimnis seiner Reportagen gehört auch das sinnliche Erfassen der Welt, die intensive Beschreibung von Gerüchen und Farben sowie die Fähigkeit, sich hineinversetzen zu können in die Mentalität und die Schicksale sogenannter „einfacher“ Menschen. Und für viele Polen stellten Kapus Reportagen aus der Dritten Welt die Möglichkeit dar, einen Blick über den Eisernen Vorhang hinaus in eine bis dahin unbekannte Welt zu werfen.

Ryszard Kapuściński_König der KönigeEine wahre Offenbarung ist diese grandiose Biografie auch deswegen, weil hier viele Aspekte angesprochen und diskutiert werden, die in der Rezeption der Kapuściński-Reportagen bisher ausgeblendet blieben: Dazu gehört Kapus frühe KP-Mitgliedschaft schon als junger Student ebenso wie seine neutrale Haltung gegenüber den Solidarnosc-Demonstranten. Er hatte während der Danziger Protestaktionen zwar an vielen Diskussionen als Beobachter teilgenommen und seinen Parteiausweis zurückgegeben ‒ aber demonstrativ solidarisieren wollte er sich mit der Protestbewegung nie. Überraschend auch, an wie vielen internationalen Tagungen, Symposien und Diskussionen Kapu teilnahm und dabei meist einen sehr blassen, mausgrauen Eindruck bei den Teilnehmern hinterließ. Viele Buchprojekte realisierte er neben seiner normalen Reportertätigkeit für die polnische Presseagentur oder er plante sie noch in seinen letzten Jahren. So hatte er noch ziemlich spät die Ethnologie und Soziologie als neuen Themenbereich entdeckt und wollte eine lange Forschungsreise nach Ozeanien und zu den Trobriand-Inseln unternehmen, um auf den Spuren des bedeutenden polnisch-britischen Ethnologen Bronislaw Malinowski (1884‒1942) zu wandeln und über diesen vielseitigen Forscher noch ein Buch schreiben. Doch dazu kam es aufgrund der schweren Erkrankung, an der Kapu 2007 plötzlich starb, nicht mehr.

Bewundernswert, mit welch kritischer Hingabe Domosławski diesem großen Reporter auf seinen Wegen um die Welt nachgeht. Und mit welch scharfem analytischem Blick der Biograf dabei zwischen Kapuścińskis latent vorhandener Tendenz zur Selbstvermarktung und großer, bewegender Literatur unterscheiden kann. Das Denkmal des polnischen Reporters hat Artur Domosławski also keineswegs gestürzt, sondern von verstaubten Girlanden und verwelkten Lorbeerblättern befreit, damit wir bisher unbekannte ‒ auch umstrittene ‒ Facetten des eminenten Autors Kapuściński deutlicher erkennen können. Ein Meisterwerk!

Peter Münder

Artur Domosławski: Ryszard Kapuściński. Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters. Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska und Benjamin Voelkel. Rotbuch März 2014. 688 Seiten. 24,99 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor.
Ryszard Kapuściński: Meine Reisen mit Herodot. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Extraduck Die Andere Bibliothek Oktober 2013. 285 Seiten. 24,- Euro.
Ders: Die Welt im Notizbuch. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt (Eichborn) 2000. 336 Seiten.
Ders:: Afrikanisches Fieber. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt (Eichborn) 1999. 324 Seiten.
Ders.: Imperium-Sowjetische Streifzüge. Aus dem Polnischen von Martin Pollack. Frankfurt (Eichborn) 1999, 430 Seiten.

Zu Peter Münders CulturBooks-Essay „Feldspiel und Weltspiel, Batter und Bowler: Über Baseball, Cricket und Literatur“.

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