Geschrieben am 19. November 2011 von für Bücher, Crimemag

Arnaldur Indriðason: Abgründe

Notbesetzung vor Gordischem Knoten

– Island war Gastland auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Die Schwemme isländischer Krimis war bedrohlich.  Immerhin, Arnaldur Indriðason hat es inzwischen auch ohne „Welle“  zur wichtigen, kriminalliterarischen Stimme gebracht. Ulrich Baron macht sich dennoch Sorgen …

Dieser im Boomjahr 2005 angesiedelte Roman ist nun schon der zweite Kommissar-Erlendur-Krimi ohne  Kommissar Erlendur. Der ringt in den Ostfjorden weiterhin mit den Gespenstern seiner Familiengeschichte, sprich mit den langen Schatten, die das spurlose Verschwinden seines Bruders nicht nur auf seine Kindheit geworfen hat. Und langsam macht man sich doch Sorgen. Nicht nur um Erlendur, sondern um die ganze Serie, die qualitativ ja ohnehin recht abwechslungsreich ausgefallen ist, und die nun ziemlich durchhängt. Denn wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch.

Das war in „Frevelopfer“ Erlendurs Mitarbeiterin Elinborg und das ist in „Abgründe“ nun deren männliches Gegenstück Sigurður Óli. Beide waren bislang klassische Sidekicks, die neben dem grüblerischen Eigenbrötler Erlendur für Abwechslung, Stichworte und Routineermittlungen sorgten. Elinborg konnte diese Nebenrolle durch das Schreiben von Kochbüchern kompensieren. Sigurður Óli hingegen war der typische Besserwisser, der von seinem Studienaufenthalt in den USA ziemlich rigide Vorstellungen von zeitgemäßer Polizeiarbeit mitgebracht hatte.

Man braucht solche Figuren, um nicht den Eindruck aufkommen zu lassen, bei der Polizei handele es sich um ein Ein-Mann-Unternehmen. Aber das genau ist sie beim klassischen Kommissar-Roman, der dem Detektiv-Roman sehr viel näher steht als die „richtigen“ Polizeiromane etwa eines Joseph Wambaugh. Ohne den Chef will die Sache dann auch nicht in Gang kommen, und da Sigurður Óli ihn vielleicht zeitweilig vertreten, aber nicht auch noch sein eigenerer Assistent sein kann, macht sich diese Personalnot schmerzlich bemerkbar: „Sigurður Óli ächzte laut“, sind dann  die Worte, mit denen der Ärmste in eine Geschichte gerufen wird, in der er die Hauptrolle spielen soll. Kurz zuvor hat ein Mann, der uns im Roman noch öfter begegnen wird, eine Ledermaske studiert, die man Schlachtvieh aufs Haupt spannt, um den tödlichen Metallstift zu halten, der ihm ins Hirn gerammt werden soll.

Ächzzzz

Sigurður Óli aber ächzt aus anderen Gründen: „Er saß schon seit drei Stunden in seinem Auto vor diesem Haus, ohne dass irgendetwas passiert wäre.“ Mit diesem Haus hat es folgende Bewandtnis: Irgendein Schuft klaut der Freundin von Sigurður Ólis Mutter immer die Sonntagsausgabe der Zeitung aus dem Briefkasten. Warum Sigurður Óli deshalb die klassische Observierungsstellung einnimmt, statt den Übeltäter durch Hinzuziehung einer uniformierten Fußstreife abzuschrecken, wird nicht klar. Vielleicht ist das ja auch nur komisch gemeint und soll Sigurður Óli zudem Gelegenheit geben, schon mal über den noch zaghaften Beginn eines weiteren Falls nachzudenken, bei dem er später vom Dienstweg abweichen wird. Freunde eines Bekannten sind bei einer Swinger-Party einem Erpresserpärchen auf den Leim gegangen, und nun soll Sigurður Óli mal den harten Bullen raushängen lassen, um dieses „Gesocks“ einzuschüchtern. Wenig später steckt er mitten in einem Mordfall, bei dem er wegen ebendieser Gefälligkeit keine gute Figur abgibt.

Und das ist merkwürdig. Ausgerechnet der naseweise Supercop Sigurður Óli macht sich als Beschützer von Sonntagszeitungen und als Bad Guy lächerlich, denn aus dem Umstand, dass hier massive Dienstpflichtsverletzungen vorliegen, macht Indriðason wenig, weil er Óli als Ersatz-Kommissar nicht entbehren kann. Für einen Fall ganz anderen Kalibers, einen Mord im Banken-Milieu nämlich, der zum Pflichtprogramm aktueller Island-Krimis zählt. Derweil läuft im Hintergrund die Story mit dem Mann und der Ledermaske weiter, und die ist das Beste am ganzen Roman, kommt aber leider zu kurz.

Arnaldur Indriðason

Arnaldur Indriðason will hier zu viel auf einmal. Er will die Schattenseiten, ja die „Abgründe“ der ökonomischen Scheinblüte Islands enthüllen – kaputte Beziehungen und mörderische Gier. Und zugleich will er die Geschichte eines gebrochenen Mannes erzählen, der für sein zerstörtes Leben schreckliche Rache nimmt und daran endgültig zugrunde geht. Sieht man von den Sonntagszeitungen ab, so hat man hier drei Fälle, die auf sehr zweifelhafte Weise miteinander verbunden sind, und von denen einer auch noch Spezialkenntnisse im Bankenwesen verlangte. Und dieser Gordische Knoten soll dann von der Notbesetzung gelöst werden?

Statt seine Gestalt Sigurður Óli glaubhaft weiterzuentwickeln, hat Arnaldur Indriðason sie mit Arbeit, sprich Handlung überhäuft und dabei zumindest einen guten Stoff sinnlos verpulvert. Und weil die Figur Óli all dem nicht gewachsen ist, muss sich der Fall mit der Schlachtmaske am Ende quasi selbst aufklären. So läuft hier die Routine einer Krimiserie weiter, obwohl sie inzwischen kopflos ist, und wenn Erlendur dereinst zurückkehren sollte, ist uns Arnaldur Indriðason eine sehr gute Erklärung schuldig.

Ulrich Baron

Arnaldur Indriðason: Abgründe (Svörtuloft, 2009) Roman.  Deutsch von Coletta Bürling. Köln: Lübbe 2011. 429 Seiten. 19,99 Euro. Verlagsinformationen zum Buch.

Tags :