Vergifteter Boden
Anna Politkovskajas „Russisches Tagebuch“ ist besonders an den Stellen von atemberaubender Dichte, wo sie über die Opfer einer Politik schreibt, von denen die dem Kreml devoten russischen Medien schweigen.
Vorne auf dem Podium in einem Leipziger Hotel sitzen eine Journalistin und ein Journalist. Er gelassen, vollkommen souverän, bewundernswert stoisch, große Professionalität ausstrahlend. Professionell auch sie, aber ihre Statements kommen härter, getriebener, leidenschaftlicher. Erst heute, zwei Jahre danach, registriert man als damaliger Zuhörer, an welcher, für den Journalismus historischen Veranstaltung man da teilgenommen hat. Bei dem so gelassenen amerikanischen Profi-Journalisten handelte es sich um Seymour Hersh, der mit seinen großen Recherchen im „New Yorker“ die amerikanische Regierung bei jeder Veröffentlichung erzittern läßt. Bush dürfte auf den Namen Seymour Hersh nicht gut zu sprechen sein. Aber beide, der Journalist wie der Präsident, können sich auf eine gewachsene demokratische Verfassung und Kultur ihres Landes verlassen. Und genau das ist auch der fundamentale Unterschied zu der hart und getrieben argumentierenden Anna Politkovskaja, die in jener Stunde in Leipzig neben Hersh saß. Ihre Recherchen über die Verkommenheit der Putin-Administration unterschieden sich um nichts von denen ihres amerikanischen Kollegen über die Irak-Politik der republikanischen Bush-Regierung. Aber die Politkovskaja ging mit jedem ihrer journalistischen Artikel ein hohes, ein lebensgefährliches Risiko ein. Einigen im Saal schienen ihre Angst um die Zukunft Rußlands – nicht um ihre eigene Person – etwas übertrieben zu sein. Heute wissen wir, daß die Ängste der Anna Politkovskaja gut begründet gewesen sind. Wer sie kannte, war über die Nachricht ihrer Ermordung erschüttert, aber überrascht hat sie niemanden.
Spätestens seit der Ermordung von Anna Politkovskaja hat auch in Deutschland ein Nachdenken über den Zustand der Demokratie und der Menschenrechte im ‚neuen Rußland‘ des Wladimir Putin eingesetzt. Mit großem persönlichen Risiko haben in der Vergangenheit viele Journalisten, voran Anna Politkovskaja, in vielen Winkeln der russischen Gesellschaft recherchiert, da, „wo sich die Elite nicht blicken läßt“. Und sie haben kritisch die aggressiven Einsätze russischer Spezialeinheiten vor allem in Tschetscheinien mit Reportagen und Kommentaren begleitet. Zwei Jahre lang, von 2003 bis 2005 hat Anna Politkovskaja sowohl die auch bei uns bekannt gewordenenen ‚großen Ereignisse‘ ( zum Beispiel die Tragödie in der Schule von Beslan ) kommentiert wie auch Reportagen über das ‚andere‘ arme, vergessene Russland geschrieben. Ihr „Russische Tagebuch“ ist besonders an den Stellen von atemberaubender Dichte, wo sie über die Opfer einer Politik schreibt, von denen die dem Kreml devoten russischen Medien schweigen. Aber auch in den deutschen Medien, die mit beschämend wenigen Korrespondenten in diesem riesigen Land vertreten sind, ist die Berichterstattung oft oberflächlich und defizitär. Was erfährt man denn bei uns etwa von den Müttern der in Tschetschenien getöteten Soldaten, von den Greueltaten der russischen Armee wie auch von Seiten der ‚Befreiungskämpfer’, von der moralischen Verkommenheit einer außer Rand und Band geratenen neuen Oligarchenschicht, von dem Elend in vielen Provinzstädten, deren Namen bei uns noch nicht einmal bekannt sind. Hart greift die Autorin auch den Opportunismus von journalistischen Kollegen in den russischen Medien an. „Fernsehmoderatoren, die unablässig lügen und alles aus ihren Sendungen weglassen, was bei den Machthabern Mißfallen erregen könnte, tun das deshalb, weil sie sonst Gehälter von mehreren Tausend Dollar einbüßen würden.„ Liest man solche Anklagen wundert man sich nicht, wenn man hört, die Politkovskaja sei in den letzten Jahren eine von vielen gemiedene Journalistin gewesen. Selbstzensur, die schlimmste denkbare Form einer Zensur, scheint für sie ein Fremdwort gewesen zu sein.
Ihre Attacken gegen das „System Putin“ sind heftig und ohne jeden Kompromiss. Manchmal hat man bei der Lektüre ihrer Aufzeichnungen den Eindruck, obsessiv dem „System Putin“ verfallen gewesen zu sein. Aber wer nicht in einem Staat ohne demokratische Traditionen, ohne eine funktionierende ‚Balance of Power’, ohne eine lebendige, unabhängige Medienvielfalt lebt, sollte sich mit seiner Kritik an einer angeblichen Einseitigkeit der Anna Politkovskaja zurückhalten.
„Wer in Moskau landet“, schreibt Sonia Mikich in ihrem leidenschaftlichem Vorwort zu diesem Buch, „wähnt sich eher in einem supermodernen, teuren Kaufhaus als im Warteraum zum Gulag. Und dennoch lassen sich Politkovskajas düstere Beobachtungen nicht verdrängen. Auf vergiftetem Boden wachsen weder Demokratie noch Hoffnung. Er begünstigt Kriechertum, Korruption und – Killer.“ Die langjährige ARD-Korrespondentin in Moskau Sonia Mikich, ist auch heute als Moderatorin des Magazins ‚Monitor’ nicht zimperlich in ihren Urteilen über deutsche Zustände. Aber sie weiß sich so wie Seymour Hersh in den USA geschützt von einer leidlich stabilen demokratischen Verfassung und einer allseits respektierten Presse-und Meinungsfreiheit.
Anna Politkovskaja hatte diese Sicherheit nicht und deshalb mußte sie bei ihren Recherchen über die Korruption der Oligarchen oder das Netzwerk der Geheimdienste buchstäblich mit allem rechnen, die Vernichtung ihrs Lebens eingeschlossen. Vertrauensvoller schaut man nach der Lektüre dieses Buches nicht auf Rußland und man versteht besser, warum Anna Politikovskaja an jenem Tag vor zwei Jahren auf dem Podium in Leipzig so getrieben leidenschaftlich die Zustände in ihrem Land anklagte.
Carl Wilhelm Macke
Anna Politkovskaja: Russisches Tagebuch. Mit einem Vorwort von Sonia Mikich. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit und Alfred Frank, DUMONT-Verlag, Köln, 2007, 458 .