Andrzej Stasiuk gilt als Polens wichtigster jüngerer Gegenwartsautor. In seinem neuen Roman blickt er hinter die osteuropäische Blechwand, Carl Wilhelm Macke stellt das Buch vor.
„Wer hat uns so verarscht?“
Der Eiserne Vorhang – bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein trennte die Berliner Mauer und ein unendlich langer Stacheldrahtzaun quer durch Europa den Osten vom Westen, die Freiheit von der Unfreiheit, die Marktwirtschaft von der Planwirtschaft, kurz, das „Gute“vom „Bösen“. Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, des Ost-West-Konflikts wissen wir, dass es auch Grautöne gab in dieser „Schwarz-Weiß-Welt“, dass man vom Westen aus gesehen vieles so genau von der Alltagswelt im Osten auch nicht wissen wollte. Und dass im Osten neben täglich erlebter Unterdrückung auch fatalistische Ergebenheit in die miserablen Verhältnisse verbreitet war.
Zu den Schriftstellern, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ständig unterwegs waren in den immer am Rande der Scheinwerfer gelegenen Regionen Ostmitteleuropas gehört sicherlich der Pole Andrzej Stasiuk. Bücher wie „Die Welt hinter Dukla“, „Unterwegs nach Babdag“ oder „Galizische Geschichten“ gehören inzwischen schon zu den Klassikern der Literatur aus den Zeiten unmittelbar nach der Epochenwende von 1989. Diese Erkundungen im Niemandsland irgendwo in den vergessenen Winkeln Polens, der Ukraine, der Slowakei, von Moldawien und Rumänien setzt er jetzt mit seiner bislang umfangreichsten Erzählrecherche im „blinden Fleck Europas“ fort.
Die beiden Hauptfiguren Pawel und Wladek tingeln mit ihren Billigtextilien von einem Markt zum anderen quer durch gottverlassene Gegenden in den polnisch-, ukrainischen-, rumänischen Grenzgebieten. Der Kommunismus hat dort nichts als verwüstete Landschaften und richtungslos herumirrende Menschen hinterlassen. Hart heißt es an einer Stelle, dass die Menschen hier „eben nie imstande waren, selbständig zu leben, sie waren nicht imstande, Entscheidungen zu treffen und sie haben kein Gefühl mehr dafür, dass man falsch entscheiden kann“. Die Menschen, die Wladek und Pawel auf den Märkten treffen, haben die Schnauze voll, von allen Heils- und Zukunftsversprechen. „Sie glauben an nichts und wollen die Wahrheit wissen. Vor allem wollen sie wissen, wer sie so verarscht hat.“ Wenn sie noch irgendeine Sehnsucht haben, dann nach einem endlich auch hier aufblühenden Kapitalismus, der bisher aber nur als schlechte Kopie und dritte Wahl angekommen ist. Überall stößt man auf Gebrauchtwagenmärkte, auf technischen Billigschrott aus Fernost, auf Massenkonsumware, die nach kurzem Gebrauch auch schon wieder auf dem Müll landet. Und wo mit diesen Waren kein Geld mehr zu machen ist, verlegt man sich eben auf den lukrativen Menschenhandel, um die einschlägigen Nachfragen auf den Westmärkten zu befriedigen.
Chronist einer im Untergang befindlichen Welt
Wären da nicht die beiden trotz allem lebenshungrigen Hauptfiguren und einige kauzig verschrobene Menschen auf den Märkten, dann würde dieser Roman nichts weiter als eine einzige triste Reise in das Herz einer verwüsteten Waren-und Seelenlandschaft bieten. Mit seiner kräftigen, manchmal fast barocken, mit einigen der Figuren auch liebevoll umgehenden Sprache – mitreißend von Renate Schmidgall ins Deutsche übersetzt – schafft es Andrzej Stasiuk aber, den Leser keinen einzigen Moment lang zu langweilen. Bis zur letzten Seite glaubt der Leser zusammen mit den beiden Hauptfiguren über die Landstraßen in der Welt „hinter Dukla“ zu rumpeln und hinter dem Verkaufsstand mit Billigklamotten auf den Dorfmärkten zu stehen.
Die literarische Qualität des Romans steht in einem umgekehrten Verhältnis zum Warenschrott, der hier den armen Käufern angedreht wird. Manchmal scheint es in dieser Tristesse von Armut und Resignation tatsächlich noch einen Erzählreichtum zu geben, von denen wir auf der anderen Seite der Blechwand oft nur noch träumen können. Und Andrzej Stasiuk dient mit diesem Buch – wie auch schon mit seinen früheren Veröffentlichungen – nur als Chronist einer im Untergang befindlichen Welt.
Man kann dieses Buch auch lesen als ein einziges großes Requiem auf die mittelosteuropäische Kultur nach den kommunistischen und dann kapitalistischen Verwüstungen. „Sie schwitzten, sie strengten sich an wie vor hundert, vor zweihundert Jahren, aber es war das Ende. Sie würden verschwinden, untergehen, an Altersschwäche sterben.“ Und den Rest erledigen und verscherbeln dann die Chinesen, die heute schon dabei sind, die Provinzmärkte Osteuropas zu erobern. Dieses Buch sollte lesen, wer immer noch von den „blühenden Landschaften“ nach dem Ende der staatlichen Planwirtschaft träumt und glaubt mit aufdringlichen Parfümwolken schöner Worte die Menschen in denGegenden „hinter der Blechwand“ eine gerechte Zukunft zu versprechen. „Das hier ist die letzte Generation“, sagt Wladek an einer Stelle. „Danach gibt’s nur noch die Rotzlöffel, die mit diesem Müll aufgewachsen sind.“
Carl Wilhelm Macke
Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand. Roman. Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall. Suhrkamp Verlag 2011.349 Seiten. 22,90 Euro.