Geschrieben am 26. Juli 2014 von für Bücher, Crimemag

Andrea Camilleri: Mein Ein und Alles

U1_Camilleri_einundalles_LT.inddFalsch etikettiert oder Überrascht uns doch!

Das Cover gibt Stoff zum Grübeln. Andrea Camilleri als Erotiker, als Moravia unserer Tage? Stefan Linster hat sich das mal genauer angesehen.

Als kleines Mädchen […] hatte sie sich ihr Ein und Alles gebaut, von dem keiner wusste, […] denn das Ein und Alles gehörte ihr ganz allein und basta […] eine Art Höhle ... (S. 39 f)

Eigentlich könnte die ganze Sache für alle Beteiligten ein Glücksfall sein, als Giulio, gesetzteren Alters, wohlhabend und gerade verwitwet, sich noch auf dem Friedhof in die wunderschöne Arianna verliebt und sich ihrer, die selbst gerade ihren Mann verlor, augenblicklich annimmt, wirkt sie doch nicht nur ihrer überaus starken Sinnlichkeit wegen so anziehend, sondern weckt auch noch eigenartige Beschützerinstinkte in ihm. Und weil Giulio, der nach einem Unfall nicht mehr in der Lage ist, mit ihr zu schlafen, es Arianna ermöglicht, ihre ausgeprägten sexuellen Bedürfnisse einmal die Woche mit einem Epheben ihrer Wahl zu befriedigen. Allerdings nie öfters als zweimal mit dem selben und stets in seinem Beisein, in einer Badehütte am Strand oder einer eigens dafür erworbenen Wohnung … Ein nur vorteilhaftes Arrangement also, möchte man meinen, wäre da nicht der berüchtigte menschliche Faktor, ein sich nicht mit Brosamen begnügender Galan und die Verführbarkeit einer nur bedingt reflektierten und zu Widerstand fähigen Kind-Frau.

Denn wie man aus der parallel zur fortlaufenden Handlung erzählten Vergangenheit Ariannas erfährt, war sie, sehr früh Waise und bei der Großmutter aufgewachsen, schon in jungen Jahren ständigem Missbrauch ausgesetzt, was einerseits paradoxerweise ihre eigene Sexualität befeuerte, sie andererseits aber in einer duldsamen Regression verharren ließ, deren deutlichstes Anzeichen die Fluchten in das titelgebende Ein und Alles (ein tuttomio eben, welch schönes Wort) war und blieb. Als Ventil jedoch entwickelte sie eine gewisse Lust an Grausamkeit und, wurden die Bedrängungen zu groß, ein gefährliches Geschick für „schnelle und sichere Lösungen“ (S. 103) …

© Basso Cannarsa

© Basso Cannarsa

So weit die Prämissen für eine keineswegs misslungene Erzählung, in der Andrea Camilleri, in einer Anmerkung bekennend, neben Faulkners „Freistatt“ auch einen „tragischen Kriminalfall“ sowie Biografien diverser Straftäterinnen verarbeit. Gewiss versteht es der von mir zumeist verehrte Grande nach wie vor, mit leichter Hand Charaktere hinzutuschen und Handlungsstränge zu entwickeln, mit geschickten Auslassungen zu operieren und Fatalitäten aufzuzeigen, in denen sich seine Figuren unentwirrbar verstricken. Und ebenso einfühlsam wie bestürzend gelingt ihm die Schilderung von Ariannas Kindheit, die Darstellung ihres gefahrvollen, amoralischen Infantilismus, dessen Folgen und Verdrängungen.

Ja, sogar die vom Verlag leidlich angepriesene Erotik kommt nicht nur nicht zu kurz, sondern obendrein recht ungezwungen daher, ohne Verdacht auf altherrenhafte Attitüden und Schlüpfrigkeiten, selbst bei den heiklen Aspekten etwa der kindlichen Sexualität, dem Erleben der heranwachsenden Heldin herrscht beinahe so etwas wie Unbekümmertheit vor, ohne Verharmlosung wohlgemerkt. Unbekümmertheit, die sich auch in sprachlicher Frische äußert, im Original vorausgesetzt, in der deutschen Übersetzung jedenfalls gegenwärtig. Nur wurde dann aus all dem kein Thriller, wie uns auf U4 großspurig verheißen, dafür erscheint der Ausgang viel zu zwangsläufig, wiewohl es an Spannung nicht mangelt! Was aber auch weder der Autor selbst noch dessen italienischer Verlag (jedenfalls bei der Präsentation auf der eigenen Website) je behauptet hätten. Da dies kein Einzelfall ist, hier ein Appell an die Verlage: Überrascht uns doch, statt uns mit falschen Erwartungen zu verärgern. Wer gute Äpfel will, möchte keine Birnen, mögen sie so gut sein, wie sie wollen. Düpierte Leser sind bisweilen nachtragend.

Stefan Linster

Andrea Camilleri: Mein Ein und Alles (Il tuttomio). Roman. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Reinbek b. Hamburg (Kindler) 2014. 160 Seiten. 19,95 Euro. Verlagsinformationen zu Buch und Autor. Camilleri bei uns gibt es hier, hier und hier.

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