Ein schräger Trip in die Vergangenheit
– Die Geschichte wiederholt sich, so lautet eine beliebte These über die Entwicklung der Menschheit. Bewiesen ist das bislang nicht, aber eines ist klar: Die Geschichte wiederholt sich in den Geschichten. Die Historie auszumalen, zu erklären, neu zu denken, umzudeuten – das ist eine der, wie man so sagt, vornehmsten Aufgaben der Literatur. Von Ulrich Noller
In diesem Zusammenhang kann man zurzeit einen erstaunlichen Trend beobachten: dass allerorten im globalen Dorf Autoren die psychischen Folgen der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf die nachfolgenden Generationen aufarbeiten. So zum Beispiel auch der Italiener Andrea Bajani, geboren 1975, in seinem neuen Roman „Liebe und andere Versprechen“.
Der Ich-Erzähler Pietro, ein Grundschullehrer von Mitte 30, Alter Ego des Autors, muss machtlos mit anschauen, wie seine Liebesbeziehung scheitert, dabei wollten Sara und er doch eine Familie gründen und mindestens zwei oder drei Kinder in die Welt setzen. Aber daraus wird nichts, Sara wird nicht schwanger, und irgendwann herrscht zwischen ihnen bloß noch Starre.
Gerade als seine Geliebte auszieht, ruft Pietros Mutter an: „Mario ist tot.“ Welcher Mario, fragt sich Sara, die nichts von Pietros Großvater wusste. Denn der lebte seit Jahrzehnten in einer Irrenanstalt, traumatisiert von seinen Erlebnissen als faschistischer Soldat an der Ostfront des Zweiten Weltkriegs, später vergessen und verschwiegen in der Familie.
In seinem vielschichtigen, klugen, geschickt in den Dimensionen des Themas kreisenden Roman spürt Andrea Bajani nun den verschiedenen Facetten des Geschehens nach: Was mag damals passiert sein? Warum war Mario jahrzehntelang einfach aus der Familie verschwunden, ohne mit seinen Erlebnissen ein Thema zu sein? Und wie hat all das einen Einfluss auf Sara und Pietro und ihre Beziehung gehabt?
Kreativ-kraftvoller Roman
Die Antworten auf all diese Fragen liefert Bajani als Reise in die Vergangenheit – die eigene, die der Familie, die der Gesellschaft. Und erst, als sich Pietro im Auftrag eines anderen Alten tatsächlich und leibhaftig auf den Spuren der Großväter aufmacht in die entlegenste russische Provinz, entsteht der Raum, den es braucht, damit sich in seinem eigenen Leben etwas bewegen kann. Ein Abenteuer, bei dem es übrigens ziemlich schräg und verschroben zugeht.
„Liebe und andere Versprechen“ ist ein in der Sache behutsamer, aber sprachlich kreativ-kraftvoller Roman, den die Schriftstellerin Pieke Biermann kongenial ins Deutsche übertragen hat. Seinem Thema wird er dadurch gerecht, dass er auf beweis- und belegbare Erklärungen gar nicht aus ist, aber durch die richtige Anordnung von Fragen trotzdem gute Antworten liefert. Und das ist vermutlich die „vornehmste“ Kompetenz der Geschichten, wenn sie von unserer Geschichte erzählen.
Ulrich Noller
Andrea Bajani: Liebe und andere Versprechen (Ogni promessa, 2010). Aus dem Italienischen von Pieke Biermann. München: DTV premium 2012. 240 Seiten. 14,90 Euro. Zur Verlagsseite von Andrea Bajani, ein Interview mit dem Autor finden Sie hier.