Explosiver Berlin-Cocktail
Auch André Kubiczek legt kein „Berlin Alexanderplatz II“ vor, bietet aber einen hochvergnüglichen Streifzug durch die Gemenge- und Gemütslagen der Hauptstadt.
Seit der Wiedervereinigung warten Kritik und Leserschaft brennend auf den großen Berlinroman, der durch die neue Unübersichtlichkeit dieser brodelnden, von Medien-Mythen verhüllten Metropole führt und den tausendstimmigen Zeitgeist zwischen den Jahrtausenden spürbar macht.
Nachdem André Kubiczek in seinem Debüt „Junge Talente“ (2002) den Weg seines Helden Less aus der ostdeutschen Provinz in die Boheme und Subkultur Berlins beschrieben hat, ist sein neuer Roman nun ganz und gar im Spannungsfeld der deutschen Hauptstadt angesiedelt. In „Die Guten und die Bösen“ zappt sich der 34-Jährige durch Berlins bunt schillernde Gemenge- und Gemütslagen – von der Prosecco schlürfenden und Sushi knabbernden Neuen Mitte am Prenzlauer Berg über Cyber-Piraten und kleinbürgerliche Stasi-Revoluzzer bis zu den dumpfen Freizeitfaschos aus Marzahn.
Episoden aus den Berliner Operetten-Vierteln
Episodenhaft führt André Kubiczek sein skurriles und mit so überaus sprechenden Namen wie Zigmund Fraud, Zeus, Nadine Dunkel oder Dr. Roberto Schwarzhaupt ausgestattetes Personal ein. Mitten unter ihnen auch Raymond Schindler, ein Gin saufender verhinderter Literat und Philosoph, der als Philip-Marlowe-Verschnitt und Ich-Erzähler durch die Straßen von Berlin streift. Mit süffisant-ironischem Unterton und blühenden Metaphern nimmt er die „Liga der Mittelmäßigkeit“ und die Berliner „Operetten-Viertel“ ins Visier: „Stehen auf Stehempfängen, Chablis trinken auf Vernissagen, August Macke bunt finden und Kapitalisten für kulturvoll halten, wenn sie Thomas Mann sagten …“
Nach dem endgültigen Ende der Utopien und der Entsorgung der drögen 68er treibt die dekadente Spaßgesellschaft der Neuen Mitte wundersam-obszöne Blüten und steuert auf den Untergang zu. An ihren Rändern perforieren anarchistisch-subversive Techno-Freaks wie Zeus und Zigmund die Schöner-Wohnen-Welt, leiten fremde Gelder und Waren in die eigene Tasche oder bringen die Websites multinationaler Konzerne zum Absturz. Selbst bierbäuchige Vereinigungsverlierer und Gartenlauben-Romantiker wie Leit Wolf, der „sämtliche Erlebnisse des Niedergangs, der Schande und Degradierung“ am eigenen Leib erfahren hat, finden ihr letztes Heil in terroristischen Anschlägen. Auf die apokalyptische Spitze getrieben wird dieser explosive Berlin-Cocktail durch das Reality-TV „Flashpixx“ mit seiner skrupellosen Frontfrau Bolèmia Hetschel.
Parodistischer Parforceritt
„Die Guten und die Bösen“ ist ein hochvergnüglicher, parodistisch übersteigerter Parforceritt durch die kaleidoskopischen Metropolen- und Geisteslandschaften Berlins. Diese sind wohl schon längst nicht mehr mit einem mythisch grundierten Epos wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“, sondern nur noch durch ein locker und asynchron verknüpftes Gespinst von Menschen und Ereignissen zu erfassen – und durch dieses navigiert André Kubiczek trotz einiger Kompositionsschwächen mit ungeheurem Sprachwitz, sprühender Fantasie und einem bemerkenswerten Repertoire an Anspielungen und Verballhornungen.
Karsten Herrmann
André Kubiczek: Die Guten und die Bösen. Rowohlt Berlin 2003. Gebunden. 320 Seiten. 18,90 Euro. ISBN 3-87134-468-0