Geschrieben am 27. Juni 2009 von für Bücher, Crimemag

Alonso Cueto: Die blaue Stunde

Peru: Leben nach dem Terror

Der Kriminalroman schaut in Peru auf eine ziemlich dünne Tradition zurück. Wie in vielen anderen lateinamerikanischen Ländern wurde das Thema Gewalt bis zu den 1990ern vorrangig in anderen Sparten des Romans verarbeitet, etwa im indigenistischen Roman, Revolutionsroman, Violencia-Roman oder Diktatorenroman. Mario Vargas Llosa, der sich schon früh für populäre Literaturformen interessierte, unternahm 1986 mit ¿Quién mató a Palomino Molero? (Wer hat Palomino Molero umgebracht?) einen Ausflug ins Genre; 1993 folgte Lituma en los Andes (Tod in den Anden). Davon wissen wir. Aber danach kam aus Peru lange nichts literarisch Kriminelles oder Kriminales mehr in die deutschen Buchhandlungen, obwohl das Land seit fast 20 Jahren einen kleinen Krimi-Boom erlebt. Doris Wieser hat sich für uns umgesehen.

Immerhin haben nun zwei peruanische (Krimi)Autoren den internationalen Durchbruch geschafft: Santiago Roncagliolo (*1975) und Alonso Cueto (*1954). Beide setzen sich kritisch interpretierend mit der Realität auseinander, das heißt im Falle Perus, mit dem kriegsähnlichen Kampf zwischen staatlichen Truppen und der maoistischen Terrororganisation Sendero Luminoso. Während Roncagliolo sich nur einmal am Kriminalroman versucht hat (Abril rojo, 2006; dt. Roter April, 2008) und momentan auch nichts Weiteres in diese Richtung plant, umfasst Alonso Cuetos Bibliografie (insgesamt ein gutes Dutzend Titel) nicht nur einige Kriminalerzählungen, sondern auch vier Kriminalromane, Deseo de noche (1993), El vuelo de la ceniza (1995), Grandes miradas (2003) und La hora azul (2005, Premio Herralde), von denen bisher nur der letzte auf Deutsch erschienen ist. In Die blaue Stunde (2008) nimmt der Autor die Zeit nach dem Terror in den Blick und verfolgt die Frage, was aus den Hinterbliebenen der Opfer sowie aus den Kindern der Täter geworden ist.

Die blaue Stunde

Die Handlung des Romans basiert auf einem realen Fall, von dem Alonso Cueto durch den Journalisten Ricardo Uceda erfahren hat. Uceda recherchierte jahrelang über die Verbrechen der Militärs während der Jahre 1982–1993 und veröffentlichte 2004 seinen Bericht Muerte en el Pentagonito. So erklärt sich, warum der Ich-Erzähler in Cuetos Roman seine „wahre“ Identität nicht preisgeben möchte und stattdessen das Pseudonym Adrián Ormache verwendet. Sein realweltliches Pendant findet man vermutlich in Ucedas Buch …

Adrián lebt in Lima im goldenen Käfig der Oberschicht als erfolgreicher Anwalt und glücklicher Familienvater: „Ich hatte keinen Grund, etwas gegen die soliden Mauern zu unternehmen, die mich umgaben. Mein Erfolg war ein Schlafmittel“ (S. 15). Als seine Mutter stirbt, verbiegt ein böses, dunkles, verdrängtes Etwas die schützenden Gitterstäbe. Über Andeutungen seines Bruders Rubén sowie einen Erpresserbrief, den Adrián in den Unterlagen der Mutter findet, erfährt er, dass sein Vater als Kommandant der Kaserne in Ayacucho während des Krieges unheimliche Verbrechen begangen hat. In der Familie wurde jedoch immer mit Respekt und Verehrung über den Vater gesprochen, den „Held des Krieges gegen den Sendero Luminoso“ (S. 23). Jetzt erfährt der Erzähler, dass die Soldaten ihm junge Mädchen aus den umliegenden Dörfern brachten, ganz gleich, ob sie dem Sendero Luminoso angehörten oder nicht. Der Kommandant vergewaltigte sie und überließ sie dann seinen Männern, die die Vergewaltigung fortsetzten und sie anschließend exekutierten. Ein besonders hübsches Indiomädchen namens Miriam wurde von Adriáns Vater in der Kaserne festgehalten, weil er sich in sie verguckt hatte und sie nicht den Soldaten ausliefern wollte. Doch Miriam gelang die Flucht (in der „blauen Stunde“ der Morgendämmerung). Was wurde aus ihr? Adrián erinnert sich wieder an die letzten Worte seines Vaters im Sterbebett: „Es gibt eine Frau in Huanta, in Ayacucho, ich muss dir von dieser Frau erzählen, du musst sie suchen“ (S. 53). Hier beginnt die Ermittlungsarbeit Adriáns, die ihn mehr und mehr von seiner Familie und seiner heilen Welt entfernen wird. Sein Weg führt ihn zu den Folterern Chacho und Guayo, die unter seinem Vater gedient haben, sowie in kleine Städte und Dörfer der Region um Ayacucho. Was sich Adrián von der Reise verspricht, kann er nicht artikulieren. Ist es die Angst, die Geschichte könnte nachträglich seinen Ruf beschmutzen? Sind es Schuldgefühle dem Opfer gegenüber oder doch noch etwas ganz anderes?

Eine stilistische Besonderheit besteht zu Beginn des Romans in der gedanklichen Wiederholung besonders schmerzhafter Sätze, die der Protagonist über seinen Vater gehört hat und die ohne grafische oder syntaktische Trennung in den Erzählerbericht eingeflochten werden („Es kam vor, dass er eine Terroristin flachlegte, dann überließ er sie der Truppe, damit einer nach dem anderen drüberging, und dann schossen sie ihr an Ort und Stelle eine Kugel in den Kopf“, S. 35). Das ist schön gemacht, erweckt aber die Erwartung, dass der Ich-Erzähler den Inhalt diese Sätze in irgendeiner Weise verarbeiten und sich vor dem verbrecherischen Vater positionieren wird. Dass das nicht geschieht, verwundert dann doch sehr. Das Verhältnis zwischen Adriáns Vater und Miriam bleibt in einem seltsamen Zwielicht. Man erfährt weder, wie lange Miriam in der Kaserne festgehalten, noch wie brutal sie tatsächlich behandelt wurde. Daher kann auch Miriams Resümee („Ich habe ihn gehasst, aber später habe ich ihn geliebt“, S. 266) nur schwerlich gedeutet werden. Handelt es sich um das Stockholm-Syndrom, oder um ein wirkliches Gefühl, das Miriam mit dem Mann verband, der sie vor der Massenvergewaltigung durch die Soldaten rettete? Ein Wechsel der Erzählperspektive hätte solche Einblicke ermöglicht, aber das gehört nicht zu Cuetos Projekt, was man ihm prinzipiell nicht vorwerfen kann. Was man aber schon kritisch anmerken darf, ist, dass er diese Erwartungen weckt, sie dann aber nicht einlöst.

Trotzdem bleibt viel Gutes und sogar Hervorragendes übrig. Als Adrián Miriam findet, verwandelt sich der Roman in etwas Neues, kaum noch Kriminalistisches, aber nicht minder Spannendes. Er wird immer mehr zu einem Gesellschaftsroman, der sich dem Thema der Vergangenheitsbewältigung auf einer emotionalen Ebene nähert. Adriáns aufkeimende (und wie mir scheint etwas morbide) Liebe zu einer Frau, die von seinem Vater missbraucht wurde, seine Schuldgefühle ihr gegenüber und seine moralische Pflicht, Miriams Sohn Miguel zu helfen, bilden den Kern des letzten Drittels des Romans. Cueto gelingt es, anhand von Einzelschicksalen die verheerenden Folgen von Gewalt in der Gesellschaft einzufangen und zu zeigen, wie sie über Kategorien wie race, class, gender hinwegrollt und alle Menschen im Angesicht des Terrors gleich macht. Dass er dabei auf eine rationale Durchdringung der Traumata weitgehend verzichtet, ist vielleicht ein lateinamerikanischer Wesenszug, der nur von einem europäischen Leser als Defizit empfunden wird. Wir analysieren und rationalisieren eben häufig mit Worten, wo Lateinamerikaner lieber handeln und Emotionen zeigen.

Mit Die blaue Stunde leistet Cueto einen fesselnden und überzeugenden Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung, indem er die Seite der Opfer besonders in den Blick nimmt. Miriam gibt ihr Kriegstrauma an ihren Sohn weiter, weil sie sich weigert, ihm ihr und sein Dasein zu erklären. Das Verschweigen wird als psychische Störung in der nächsten Generation wieder sichtbar. Aber auch der weniger direkt betroffene Adrián Ormache wird aus seiner heilen Welt geschält, in die er durch Geld, Besitz, Job, Reputation und Familie gebettet war. Die faulen Zwiebelschalen fallen ab, doch es bleibt kein gesunder Kern zurück. Der Bruch ist unumkehrbar und die Gesellschaft muss sich auf den Weg der Vergebung begeben. Erster Ausdruck davon ist wahrscheinlich Miguels Dankbarkeit für Adriáns Hilfe.

Alonso Cueto hat noch einiges in petto.

Vor Kurzem erschien Das Flüstern der Walfrau (El susurro de la mujer ballena) als Taschenbuch – allerdings kein Kriminalroman. Viel Kriminelles gibt es dafür in Grandes Miradas (2003). Der Roman spielt während der Regierungszeit Fujimoris und zeigt wie verrottet, korrupt und gewalttätig eine demokratisch gewählte Regierung sein kann. Ein großartiger Roman, der in flottem Tempo das Perfil einer starken Frau ausbreitet, die es wagt, an den Pfeilern der männlichen Machtinhaber zu rütteln. Weitgehend unpolitisch ist hingegen der kurze, spannende Roman El vuelo de la ceniza (1995) über einen misogynen, rassistischen Serienmörder aus gutem Hause. Wir freuen uns auf weitere tolle Romane von Alonso Cueto, der uns ein Stück weit hilft, die Welt zu interpretieren!

Doris Wieser

Alonso Cueto: Die blaue Stunde. (La hora azul, 2005).
Aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Berlin: BvT 2008. 319 Seiten. 9,90 Euro.