Unversicherte Erpresser
Alfred Hellmann, in Berlin lebender Journalist, Drehbuchautor, Kolumnist, Kabarettist und Übersetzer aus dem Niederländischen, legt nach zehn Jahren Pause seinen zweiten Kriminalroman vor. Das Warten hat sich gelohnt! Meint „Hammett“-Buchhändler Christian Koch.
In Berlin wird ein vermeintlicher Kaufhauserpresser von mehreren Unbekannten in seinem Haus umstellt und erschossen. Die Polizei ermittelt schnell, dass in den vergangenen Jahren mehrere Produkt- und Kaufhauserpresser deutschlandweit drangsaliert und bedroht worden sind. Die eingeschüchterten Opfer berichten übereinstimmend von einer maskierten und militärisch anmutenden Tätergruppe, die in ihrem Auftreten an ein Spezialeinsatzkommando der Polizei erinnert. Für Irina Heinrichs und Viktor Land von der 9. Berliner Mordkommission beginnen Ermittlungen in diverse Richtungen.
Eine sorgsam dargestellte Grundfrage macht die hohe Qualität von Alfred Hellmanns Roman aus: Ist es möglich, dass in Deutschland eine Gruppe von Polizisten zur Selbstjustiz greift? Dies über einen längeren Zeitraum hinweg und ohne das Bemerken und Eingreifen von Kollegen? Diese Frage bildet das Gerüst für Vor den Hymnen. Sie reicht aber wegen ihrer ernsthaften Behandlung und konsequenten Einbettung in das Buch vollkommen als tragendes Element aus. Der Autor schafft mit dem Gegensatz zwischen Hoffen und Bangen bei den ermittelnden Beamten zudem Nähe zum Leser. Dieser geht den gleichen Weg zwischen anfänglicher Ungläubigkeit und mutmaßlich zunehmender Klarheit betreffs der Täterfrage.
Grundsolides Lesevergnügen
Die Bedeutung von Produkterpressungen für die jeweiligen Unternehmen, aber auch für die zuständigen Versicherungen wird knallhart und nüchtern dargestellt: Denn diese sehen eine Erpressung vorrangig als Schaden an, ähnlich wie ein Unwetter oder Brandstiftung. So entsteht mehr Breite hinsichtlich möglicher Täterhintergründe. Das erpresste Geld ist letztlich ein Versicherungsschaden und wird nicht durch die betroffenen Unternehmen getragen. Aus diesem Grund sind auch in diesem Versicherungsbereich Bestrebungen nach Schadensminimierung naturgemäß an der unternehmerischen Tagesordnung. Aber wie weit würde eine Versicherung hier gehen?
Aus dem Brei des wahllos veröffentlichten Mittelmaßes hebt sich Vor den Hymnen nicht zuletzt durch die unterschiedlichen Stimmen seiner Akteure hervor. So hat hier jeder seine eigene Sprache. Hier im Roman genauso wie im Leben selbst. Zu einem grundsoliden Lesevergnügen wird der Roman zudem durch die ausnahmsweise realistisch dargestellte Arbeit der Berliner Polizei. Übergeordnete politische Vorgaben, Kompetenzgerangel und endloses Aktenstudium finden ebenso Platz wie nachvollziehbare Unaufmerksamkeiten bei den Ermittlungen. Ein Sahnehäubchen liefert Hellmann mit der letzten Romanseite und der darauf zu findenden Auflösung des seltsam anmutenden Romantitels. So gehört sich das.
Christian Koch
Alfred Hellmann: Vor den Hymnen. Roman. Emons Verlag 2008. 240 Seiten. 9,90 Euro.
Christian Koch betreibt in Berlin die besuchenswerte Krimibuchhandlung „Hammett“.