Geschrieben am 18. September 2013 von für Bücher, Litmag

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge

Adriana Lisboa_Der Sommer der schmetterlinge30 Jahre danach gegen das Vergessen

– Farben, Formen, Töne und Körperspuren, Schweigen und Schuld spielen in dem Roman der brasilianischen Autorin Adriana Lisboa eine zentrale Rolle. Die Schwestern Maria Inês und Clarice werden in ihrer unterschiedlichen Umgangsweise mit einer traumatischen Vergangenheit begleitet. Dreißig Jahre nach dem Ereignis, das erst Bildfragment für Bildfragment in seiner ganzen Abscheulichkeit offenbar wird, treffen sie sich wieder an dem Ort, wo das Unaussprechliche stattgefunden hat. Von Christiane Quandt.

Wege der Erinnerung

Spiralförmig nähert sich der Erzähldiskurs diesem Ereignis an, man erahnt immer mehr, dass es sich um sexuelle Übergriffe handelt und dieser Verdacht wird auch bestätigt. Das Ausmaß allerdings wird erst Stückchen für Stückchen offenbar – die Wege der Erinnerung sind – sofern man dies in einem solchen Kontext sagen kann – relativ gnädig. In starken Bildern entfaltet sich der Text vor den Augen der Leser – die wissenden, aquamarinblauen und stets geschminkten Augen der Mutter bleiben viel zu lange vor der Wahrheit verschlossen; der von Alkohol, Drogen und zwei Narben an den Handgelenken gezeichnete Körper von Clarice sehnt sich nach Ruhe; der Körper von Maria Inês, dessen Narben von einer Blinddarmoperation und einem Kaiserschnitt herrühren, gleicht dem der Symphonie in Weiß Nr. 1 von James Whistler. Und die Figuren sind eingeteilt in diejenigen, die ‚wissen‘ und diejenigen, die ‚nicht wissen‘ – und die Wissenden erzählen, von einem ‚Davor‘ und einem ‚Danach‘.

Bilder, Musik, Plastik

Die Symphonie in Weiß ist nicht das einzige Bild, das bei der Lektüre vor dem inneren Auge ersteht; erdrückend dreidimensional ist das Bild der Männerhand an einer Mädchenbrust, die an der Brustwarze dreht, als würde sie eine Uhr aufziehen. Dazu erklingt das Geräusch herabfallender Zypressenzapfen gefolgt von eiligen Schritten eines Kindes, das flieht. Ein Steinbruch. Die Narben an Clarices Handgelenken. Die offene Tür zum Schlafzimmer. Und die Geräusche der Fazenda, die sich mit Brahms‘ Trio für Horn, Violine und Klavier vermischen. Der Choral „si, ch’io vorrei morire‘ von Monteverdi, der die Todessehnsucht von Clarice untermalt. Und schließlich die unmögliche tönerne Plastik „Das Vergessen“, die Clarice immer wieder beginnt und die ihr jedoch nicht gelingen kann. Denn ein Vergessen ist nicht möglich. Nicht mit Drogen, nicht mit Alkohol, nicht mit einem Olfa-Messer.

Kunstvoll sind visuelle, akustische und haptische Eindrücke in den Text eingeflochten und verstärken noch dessen machtvolle Wirkung. Indem im Erinnern immer wieder fast die gleichen Bilder und Eindrücke aufgerufen werden, erhalten die Zwischenräume eine besondere Bedeutung. Denn während sich einzelne Momentaufnahmen wiederholen, werden die Lücken dazwischen mit Erinnerung gefüllt. Die erträglichen Bilder dienen als Leiter ins Unterbewusste, wo das Unerträgliche schlummert.

Adriana Lisboa

Adriana Lisboa by Julie Harris

Versehrte Körper – versehrte Seelen

Schon die Enttäuschung der Mutter Otacília, die nie körperliche Lust erfahren durfte, weist auf die große Bedeutung der nicht nur weiblichen Körper in dem Roman hin. Noch auf dem Sterbebett bemerken die Töchter, dass der Körper der Mutter zwar Wunden, doch keine Narben aufweist, wohingegen sowohl Clarice als auch Maria Inês sichtbare Narben tragen. Auch der Körper von Tomás, der großen, und verschmähten, Liebe von Maria Inês, trägt die Spuren des harten Lebens auf der Fazenda. Auch ist bemerkenswert, wie präzise einzelne Körperteile fokussiert werden wie die Augen der Mutter, die Hand des Vaters und, tatsächlich, die unterschiedlichen Narben der Töchter. Die Zeichen auf der Haut können als Hinweise auf verletzte Seelen gelesen werden – aber waren die Wunden so tief, dass die Figuren keine Ruhe finden können?

Familienbande?

Nach Jahren wird der Pakt des Schweigens zwischen den Schwestern gebrochen. Die Erinnerung an das Ereignis, das erstmals stattfand, als die 15-jährige Clarice nach dem Baden im Fluss allein mit dem Vater ist und das die neunjährige Maria Inês durch die offene Tür mitbekommt, wird wieder präsent. Und auch die Erinnerung an das, was am Steinbruch geschah, als der nun alkoholkranke Vater Afonso Olímpio seinen Töchtern nachfolgt, um ihnen schuldbewusst die Hand auszustrecken.

Schuld, Scham, und Wut werden schließlich übermächtig und suchen sich ihren Weg. Der Steinbruch wird zum Ort eines kathartischen Ereignisses, das allerdings wieder zu einem Schweigen führt. Erst dreißig Jahre nach dem ersten Missbrauch, in der Gegenwart des Romans, wird es möglich, darüber zu sprechen.

Mit einem flauen Gefühl legt man den Roman, der bemerkenswerter Weise von einem männlichen Übersetzer ins Deutsche übertragen wurde, beiseite und denkt noch lange darüber nach. Die Wiederholung, die starken Bilder und die Präsenz von Musik und Plastik, doch auch die Thematik, die buchstäblich unter die Haut geht, machen diesen Roman zu einem intensiven körperlichen Erlebnis, das ein Vergessen unmöglich macht. Hoffen wir, dass die Unmöglichkeit des Wegsehens und des Vergessens ihre Spuren in der Realität hinterlässt.

Christiane Quandt

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge. Aufbau Verlag  20013, Übersetz von Enno Petermann. 284 Seiten. 19,99 Euro. Foto Adriana Lisboa by Julie Harris, Quelle.

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