Geschrieben am 4. August 2012 von für Bücher, Crimemag

About Crime Fiction – Pick of the Week N° 9

Pick of the Week N° 9

– Seit Jahren bibliographiert, archiviert und kommentiert der Ehrenglauser-Preisträger Thomas Przybilka in seinem BoKAS (= Bonner Krimi-Archiv Sekundärliteratur) wissenschaftliche und publizistische Arbeiten aus aller Welt, die sich mit den unendlichen Facetten von Kriminalliteratur befassen. In unregelmäßig regelmäßigen Abständen erscheinen dann seine unschätzbar wertvollen Zusammenfassungen der aktuellen Sekundärliteratur, die jeder zur Kenntnis nehmen muss, der sich auch nur ein bisschen über seine Lieblingsliteratur kundig machen möchte. Ein solcher „Newsletter“ hat leicht einmal 160 bis 200 Seiten; deswegen empfiehlt CrimeMag jede Woche ein paar Titel aus dieser Fülle, die uns besonders bemerkenswert erscheinen.

 Wieser, Doris: Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrhundertwende

Vor einigen Jahren hatte ich bereits das Vergnügen, auf eine Veröffentlichung von Doris Wieser zur lateinamerikanischen Kriminalliteratur aufmerksam zu machen. Der Hinweis auf „Crimenes y sus autores intelectuales“, eine Sammlung von Interviews mit lateinamerikanischen Krimiautoren, erschien im KTS 55 / 2010. Die jetzt vorliegende Analyse zur lateinamerikanischen Kriminalliteratur – die unter den Bezeichnungen „novela policial“, „novela negra“ und „novela negrocriminal“ firmiert, beschäftigt sich mit insgesamt zehn hispanoamerikanischen und brasilianischen Kriminalschriftstellern, die exemplarisch für die südamerikanische Kriminalliteratur im Allgemeinen und deren verschiedenen Gattungen im Besonderen stehen. In sechs Teilen wirft Doris Wieser ihren Blick auf die Kriminalliteraturen von Argentinien, Mexiko, Kuba, Brasilien, Chile, Peru, Kolumbien und weiteren lateinamerikanischen Ländern. Im ersten Teil unterzieht sie die allgemeine Gattungsdefinition einer kritischen Revision und bietet hier einen neuen „Vorschlag für eine global gültige, thematische Minimaldefinition des Genres“ an. Im zweiten Teil stellt die Autorin audiovisuelle (z. B. US-TV-Krimi-Serien), literarische (lateinamerikanische Kriminalromane) und, wie sie es definiert, „lebensweltliche“ (womit Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika gemeint ist) Aspekte in einen Kontext. Der kurze dritte Teil leitet dann zu der eigentlichen Untersuchung über und stellt die später zu analysierenden Krimis vor. Die Teile vier, fünf und sechs beschäftigen sich mit drei Untergattungen des Krimis, nämlich mit den „Ermittlungsromanen“, den „Gewaltromanen“ und den Parodien oder fantastischen Kriminalromanen, welche als „Ludische Kriminalromane“ bezeichnet werden. In diesen insgesamt zwölf Detailstudien werden von Doris Wieser „die Prozesse der Transkulturation des Genres als Durchbrechung pseudonormativer Vorstellungen“ dargelegt. Eine Bibliographie der herangezogenen Primärwerke und eine umfangreiche Bibliographie der Sekundärliteratur komplettieren das Werk, das einen tiefen Einblick in die zeitgenössische Kriminalliteratur Lateinamerikas anbietet.

  • Inhalt: 1. Das Genre „Kriminalroman“ (Begrifflichkeit / Annäherung an die Gattungsbestimmung). 2. Audiovisuelle, lebensweltliche und literarische Kontexte (Die Aneignung einer fremden Gattung / Audiovisuelle Kontexte – Die Prägung des Erwartungshorizonts / Lebensweltlich Kontexte – Gewalt und Verbrechen in Lateinamerika / Literarische Kontexte – Die Entwicklung des Kriminalromans in den lateinamerikanischen Ländern). 3. Methodik und Korpus. 4. Ermittlungsromane (Parametrisierung – Leonardo Padura / Globalisierung – Roberto Ampuero / Marginalisierung – Luiz Alfredo Garcia-Roza). 5. Gewaltromane (Strukturelle Kriminalität – Patrícia Melo & Jorge Franco / Institutionalisierte Gewalt – Raúl Argemí & Santiago Roncagliolo / Attentate auf Politiker – Élmer Mendoza & Alonso Cueto). 6. Ludische Kriminalromane (Parodie – Jô Soares / Fantastik – Pablo De Santis / Intertextualität – Luis Fernando Verissimo). Fazit – Wege der Aneignung. Bibliographie.

Doris Wieser absolvierte von 1998 bis 2003 ein Studium der Romanistik und Germanistik in Heidelberg, São Paulo und Mexiko-Stadt. 2004 arbeitete sie als freie Mitarbeiterin beim Ernst Klett Verlag (PONS Redaktion) und von 2005 bis 2008 als Schulbuchredakteurin für Spanisch im E. Klett Verlag. Ab Oktober 2008 war Doris Wieser wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Seminar für Romanische Philologie der Universität Göttingen. 2011 promovierte sie mit der vorliegenden Arbeit an der Universität Göttingen, wo sie iberoromanische Literaturwissenschaft lehrt.

Wieser, Doris: Der lateinamerikanische Kriminalroman um die Jahrhundertwende. Typen und Kontexte 2012. 395 Seiten. LIT Verlag (LIT Ibéricas – Estudios de literatura iberorománica / Beiträge zur iberoromanischen Literaturwissenschaft / Estudos de literatura ibero-românica, Bd. 1), 3-643-11688-9 / 978-3-643-11688-8. 39,90 Euro.

 

Mauz, Andreas / Portmann, Adrian (Hg): Unerlöste Fälle.

Den ersten schriftlich festgehaltenen Bericht über einen Mord findet man in der Bibel: Im Streit erschlug Kain seinen Bruder Abel. In der zeitgenössischen Kriminalliteratur spielt Religion eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mal sind es Geistliche, die in Mord- und Verbrechensfällen ermitteln (z. B. bei G. K. Chesterton), mal haben Ordensbrüder den richtigen Riecher für die Auflärung von Mord und Totschlag (z. B. bei Umberto Eco oder bei Edith Pargeter alias Ellis Peters), oder Vertreter des mosaischen Glaubens ermitteln geschickt (wie Rabbi David Small von Harry Kemelman). Und auch die Liste jener Kriminalromane, die „Gott“, „Vergebung“, „Pfarrhaus“ oder „Sünde“ im Titel führen, ist relativ umfangreich. Pastoren und Pfarrer (z. B. Christian Uecker) als Krimiautoren sind ebenso anzutreffen wie seit Neuestem der Papst als Ermittler: „Halleluja! Ein Papst-Krimi“ von Alba und Chorini! Die vorliegende Sammlung von Essays zum Thema „Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur“ basiert auf der Tagung „Unerlöste Fälle“, die im Oktober 2009 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel, dem Forum für Zeitfragen, der Katholischen Erwachsenenbildung Basel und dem Literaturhaus Basel veranstaltet wurde. „Nicht wenige Einzeltexte der neueren kriminalliterarischen Produktion“ beschäftigen sich mit „religiösen Traditionen und Problemen“, die von Wissenschaftlern verschiedener Fachrichtungen auf der o. g. Tagung diskutiert wurden.

  • Inhalt: Andreas Mauz / Adrian Portmann: Religion und zeitgenössiche Kriminalliteratur. Zur Einführung / Joachim Linder: „Fäulnis unter glänzender Decke“. Religion und ihre Repräsentanten in literarischen Kriminalitätsdarstellungen des 19. Jahrhunderts / Jochen Vogt: „Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben“. Varianten der Kriminalliteratur von Schiller bis Highsmith / Thomas Wörtche: Tod und Kontingenz. Der Kriminalroman als Trutzburg der Sinnhaftigkeit, als Trostbüchlein gar? / Folkart Wittekind: „Verkappte Religiosität“ im Krimi? Überlegungen zum Verhältnis von Gattungsgeschichte, Religionsgeschichte und Literaturtheologie / Brigitte Boothe: Verbrechen, Religion und der Ermittler als kluges Kind / Christoph Gellner: „Kismet“, „Letzte Sure“, „Mord im Zeichen des Zen“. Interkulturelle Krimikonstellationen – mehr als Mystifikation und exotische Kulisse? / Tobias Gohlis: Ein moderner philosophischer Kriminalroman. Friedrich Ani, das richtige Leben und sein Krimialroman „Die Idylle der Hyänen“ / Regine Munz: Banalität des Bösen? Religion in der Kriminalliteratur von Frauen / Elio Pelling: Teuflische Schöpfer, detektivische Ärzte und göttliche Mörder. Religion – Medizin – Kriminalistik in Schweizer Texten / Adrian Portmann: Heruntergekommene Erlöser: Über Michael Chabons Kriminalroman „Die Vereinigung jiddischer Polizisten“ / Mike Gray: Cracking the God Code? Sense and Transcendence, Arousals and Deferrals in Religious Thrillers / Christine Stark: Sonntagsabendkreuz. Zu religiösen Motiven im Fernsehkrimi / Petros Markaris: Verbrechen und Religion / Heinrich Steinfest: Die leise Stimme Gottes – Der Kriminalroman und das sogenannte Gute.

Andreas Mauz, Dr. theol. des., Studium der deutschen Literaturwissenschaft und evangelischen Theologie in Basel, Tübingen und Zürich; Oberassistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie, insbesondere Hermeneutik und Fundamentaltheologie der Theologischen Fakultät der Universität Zürich (www.hermes.uzh.ch/personen/mauz.html).

Adrian Portmann, Dr. theol., Studium der evangelischen Theologie in Basel und Berlin. Seit 2005 Studienleiter im Forum für Zeitfragen der Evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt (www.forumbasel.ch).

Mauz, Andreas / Portmann, Adrian (Hg): Unerlöste Fälle. Religion und zeitgenössische Kriminalliteratur 2012. 258 Seiten. Verlag Königshausen & Neumann (Interpretation Interdisziplinär, Bd. 12). 3-8260-4867-9 / 978-3-8260-4867-8. 34,80 Euro.


Hoffmann, Nele: A Taste for Crime

Ist Kriminalliteratur „richtige“ Literatur? Und wenn ja, wo wird Kriminalliteratur einzuordnen sein und welchen Stellenwert hat Kriminalliteratur? Alltagssprachlich wird Kriminalliteratur als Genre-Literatur verortet. Aber was ist unter „Genre“ und/oder „Genre-Literatur“ zu verstehen und welche Wertung impliziert diese Feststellung? Gibt es zur Festlegung des Begriffs „Kriminalliteratur“ aussagekräftige Schnittpunkte von Wissenschaft, Literaturkritik und Buchmarktwesen? Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen hat sich Nele Hoffmann für ihre Analyse Kriminalromane der 1990er und frühen 2000er Jahre angesehen und hat zur Begriffsbestimmung sechs AutorInnen ausgewählt. Anhand von Texten von Walter Mosley, Liza Cody, Henning Mankell, Pieke Biermann, Thomas Harris und Derek Raymond untersucht sie in drei ausführlichen Kapiteln die „Wertung von Kriminalliteratur in Literaturkritik und Wissenschaft“. In ihrer Einleitung (Kapitel 1) wird zunächst der Begriff „Kriminalliteratur“ gewertet und wo diese im literarischen Feld positioniert ist. Hierzu zieht sie als Beipiel zwei prominente kriminalliterarische Essays heran, nämlich „Aristotle on Detective Fiction“ – einen Vortrag, gehalten 1935 von Dorothy L. Sayers – und „The Simple Art of Murder“ – einen Essay, den Raymond Chandler im Jahr 1944 veröffentlichte. In den folgenden drei Kapiteln untermauert sie ihre These anhand von Werken der o. g. AutorInnen. Mein Faible für Bibliographien, wichtige Sekundärliteraturzusammenstellungen und Listen mit weiterführender Literatur zum Krimi dürfte den Beziehern des „Krimi-Tipp Sekundärliteratur“ ja inzwischen mehr als bekannt sein! Hier also wieder einmal ein Loblied auf die Auswahl der Literaturliste(n) in „A Taste for Crime“: Ein wahrhaft umfangreiches Literatur- und Quellenverzeichnis (inklusive Hinweisen auf Websites) – zunächst gegliedert nach den einzelnen Kapiteln, im Anschluss daran dann allgemeine Forschungsliteratur zur Kriminalliteratur – beschließt „A Taste for Crime“.

  • Inhalt: 1. Einleitung / 2. Jenseits der urbanen Grenzen. Bottom dogs und hard-boiled fiction [darin: Walter Mosley und Liza Cody] / 3. Eine demokratische Perspektive? Das police procedural [darin: Henning Mankell und Bieke Biermann] / 4. Fascinating maniacs? Die serial killer novel [darin: Thomas Harris und Derey Raymond] / 5. Schlussfolgerungen / 6. Literaturverzeichnis.

Nele Hoffmann, Jahrgang 1975. Studium der Deutschen Philologie und der Mittleren und Neueren Geschichte. 2007 bis 2010 Stipendiatin des Promotionskollegs VolkswagenStiftung „Wertung und Kanon“. Danach Projektreferentin an der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) und Koordinatorin am Zentrum für Mittellater- und Frühneuzeitforschung (ZMF) der Georg-August-Universität Göttingen.

Hoffmann, Nele: A Taste for Crime. Zur Wertung von Kriminalliteratur in Literaturkritik und Wissenschaft 2012. 333 Seiten. Blumenkamp Verlag. 3-942958-05-8 / 978-3-942958-05-9. 35,00 Euro.

Thomas Przybilka

Zur Homepage des BoKAS.

Tags : , , , ,