Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019, News

CulturMag Highlights 2019, Teil 6 (Groschupf – Hartl – Harvey – Hechelhammer)

Johannes Groschupf –
Günther Grosser –
Jonas Grundmann –
Peter Christian Hall –
Sonja Hartl –
John Harvey –
Bodo V. Hechelhammer –

© Mike Auerbach

Johannes Groschupf: Meine Favoriten 2019

Ausstellung: Wenzel-Hablik-Museum Itzehoe: Klaus-Peter Dienst: Kalligrammatische Typografie und poetische Textbilder

Anfang Januar sah ich im Letterform Archive in San Francisco seine kleinen RHINOZeros-Hefte aus den frühen 60er-Jahren liegen. Klaus-Peter Dienst (1935 – 1982) war einer der Ersten, die Beat-Literatur nach Deutschland gebracht haben, und dann gleich typografisch collagiert, exaltiert, optimiert. Er trieb die Textkonfigurationen experimentell bis zur Unlesbarkeit, verdingte sich in seiner Heimatstadt als Kunstlehrer, stellte seine scripturalen Experimente ein, starb früh. Im Frühling 2019 dann in Itzehoe die Werkschau, die im Jahr zuvor in Düsseldorf konzipiert und gezeigt wurde: alle Blätter, Hefte, Bücher – eine manische, innige Liebeserklärung an die Schrift. Er war einer der großen, fast vergessenen Typografen. 

Im Herbst kam dann noch der wunderbare Katalog zu seinem Werk, herausgegeben von Holger Jacobs und Victor Malsy, Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Design.

Kneipenbekanntschaft: Nach einer Lesung in Bad Segeberg, auf der Suche nach einer Kneipe in der Innenstadt. „Spätschicht“ hat offen, ich stelle mich an den Tresen, der Mann neben mir sagt: „Was bist du, Gerichtsvollzieher? Mein Schwager war Gerichtsvollzieher, der trug auch immer Jackett.“ Es stellt sich heraus: ein Bochumer, gestrandet in Bad Segeberg, redet wie Alfred Tegtmeier, legt einem nach dem zweiten Bier freundschaftlich den Arm um die Schulter. Beim Erzählen der hochgereckte Zeigefinger, wenn er zur Pointe kommt: „Und jetz pass auf!“ War mal Klempermeister mit eigenem Betrieb, aber das lohnt nicht mehr.

Konzert: Flötenkonzert in Sibiu/ Hermannstadt, acht Stücke von mir völlig unbekannten rumänischen Komponisten der Moderne, zwölf oder vierzehn Querflöten und Blockflöten, die von einem temperamentvollen Mann dirigiert wurden. Ich saß am frühen Abend im Stadtpark und sah die Leute in die Filarmonica gehen, traute mich erst in der letzten Minute hin, setzte mich dazu, großartiger Saal der Bibliothek, bis auf den letzten Platz besetzt. Die Musik berührte tiefe Seelenschichten. Am Ende sang das Publikum ein Volkslied mit, ich hörte einfach nur zu, die Melodie schwang noch am nächsten Tag in mir nach.

Serie: „Chernobyl“ (HBO). Schon der Suizid in der Eingangssequenz: das ganze Elend der sowjetischen Jahre. Dann das endlose Prasseln der Geigerzähler, die verwaschenen Farben der 80er-Jahre, das Gefühl einer unaufhörlichen Katastrophe. 

Buch: Marek M. Kaminsky: Games Prisoners Play. The Tragicomic Worlds of Polish Prisons. Princeton University Press, 2004.

1985 ist Kaminsky ein zweiundzwanzigjähriger Soziologiestudent in Polen, der nebenbei eine Untergrundpresse für die Solidarnosc-Bewegung betreibt. Er wird festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt. „After just several hours I just knew I was entering a bizarre, terrifying, and incredibly interesting enviroment. Rapes, knife fights, suicides, brutal sex, blunt talk, and self-injuries appeared to be its chief attributes. (…) I decided to make the best of my personal misfortune and use it as a unique opportunity to study this fascinating society-within-society. (…) If you, my reader, are ever unfortunate enough to be jailed, I highly recommend the strategy of ‚researching prinson‘.“

Er beschreibt die herrschende Klasse im Knast, die grypsmen, ihre Sprache, Verhaltensregeln, Codes und die Techniken, um Neuankömmlinge zu testen und zu dominieren. Zudem schildert er die innere Logik scheinbar absurde Verhaltensweisen wie etwa das kollektive Furzen. Tiefschwarzer Humor.

Fotos aus Belarus © Johannes Groschupf

Lesereise: Einladung nach Weißrussland (oder, wie sie es lieber hören: Belarus) – drei Lesungen an Schulen in Brest, Pinsk und Minsk. Der Nachtzug ab Berlin braucht elf Stunden bis Brest, die Passkontrolle an der Grenze ist scharf wie zu Sowjetzeiten. Am Vormittag stehen Schulkinder stramm in der Gedenkstätte Brester Festung, die 1941 einige Tage lang gegen die Deutschen gehalten wurde. Die Kinder marschieren alle Viertelstunde ab, die nächsten kommen. In der Schule sind die Jugendlichen so schüchtern, dass sie keine Fragen stellen. Anderntags im Morgennebel weiter nach Pinsk, man zeigt mir stolz die neuen Wohnsiedlungen, überall wird gebaut, auch Kirchen, für die reichlich gespendet wird. Eine Lehrerin verdient etwa 300 Euro im Monat.

In der Schule gibt es eine Militärklasse, die Jugendlichen sitzen in Uniform in der Lesung und verstehen nicht, wie man sich für „Lost Places“ interessieren kann. Mit einem Marschruta-Kleinbus nach Minsk. Sowjetische Prachtboulevards aus der Stalin-Zeit, an manchen Ecken stehen heute noch Lenin-Büsten. In der ehemaligen Eliteschule glänzt der Parkettboden, in den Schulklassen sitzen schlaue Diplomatensöhne und Töchter reicher Eltern, sie sind neugierig, wach. Abends auf einer Fluss-Halbinsel ein ehemaliges Fabrikgebäude, das jetzt von Künstlern besetzt ist. Im Treppenhaus eine Foto-Ausstellung: Schwule in ihrer privaten und ihrer offiziellen Kleidung. Polizei und Geheimdienst sind im Alltag stets gegenwärtig, aber es herrscht eine eigenartige Atmosphäre von Mut und Aufbruch. Im Nachtzug zurück nach Berlin mit dem Versprechen, im nächsten Jahr wiederzukommen.

RIP: Ingomar von Kieseritzky, ein nahezu vergessener Autor, der in den 70er- und 80er-Jahren seine Erfolge hatte: Trägheit (1978), Die ungeheuerliche Ohrfeige (1981), Das Buch der Desaster (1988), Anatomie für Künstler (1989), später kamen noch Da kann man nichts machen (2001) und Traurige Therapeuten (2011), da war sein Witz aber schon erschöpft. Zudem schrieb er etwa 100 Hörspiele, um sich finanziell über Wasser zu halten. 

Er saß immer an der elektrischen Schreibmaschine, wenn ich ihn besuchen kam und ihm Zigaretten und ein Sixpack Bier mitbrachte, was nichts an seiner Verbitterung änderte. Kennengelernt hatten wir uns in Wewelsfleth, im Alfred-Döblin-Haus, er servierte dem Maulwurf, der dort emsig den Rasen aufwühlte, Milch und Bananenscheiben auf einer Untertasse. Kieseritzky war unheimlich belesen und ließ mich das auch spüren mit einem höhnischen, verzweifelten Auflachen, wenn mir wieder mal ein Buch aus dem 18. Jahrhundert nicht geläufig war. Diese Bitterkeit steckte wohl seit seiner Kindheit in ihm, die Mutter, die er nur als „Nazikuh“ titulierte, bekam ihn als Folge eines „Etappenficks“ und beklagte das „minderwertige Erbmaterial“ ihres Sohnes. Einen glücklichen Moment seines Lebens erzählte er mal: In der Wüste vor Kairo hatten sie ihm, der kaum reiten konnte, einen Araber-Hengst gegeben, der, als die anderen Reiter angaloppierten, ebenfalls in scharfen Galopp fiel und Kieseritzky, der sich panisch an der Mähne festklammerte, den Triumph des Sieges verschaffte.

Johannes Groschupf ist eben gerade für Berlin Prepper mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden und führt auch unsere CrimeMag Top Ten an. 1963 in Braunschweig geboren, wuchs er in Lüneburg auf. Studium der Germanistik, Amerikanistik und Publizistik an der Freien Universität in Berlin. Viele Jahre als freier Reisejournalist für Die Zeit, FAZ, FR u.a. unterwegs. 1994 Hubschrauberabsturz in der Sahara. 1998 entstand aus dieser Erfahrung das Radio-Feature Der Absturz, das im Jahr darauf den Robert Geisendörfer Preis erhielt. Danach literarische Arbeiten, vor allem im Jugendbuchbereich, und Artikel für Tagesspiegel und Die Welt. Zuletzt erschienen: Lost Places (2013), Der Zorn des Lammes (2014), Das Lächeln des Panthers (2015) Lost Girl und Lost Boy (2017). CrimeMag-Besprechung von Ute Cohen für Berlin Prepper hier, eine von Alf Mayer im strandguthier (S. 24).

Günther Grosser

Da war die Schottin Denise Mina, wie sie in Klare Sache das Männer-Genre „Über-alle-Hindernisse-hinweg-und gegen-alle-Bösen-Gewinnen“ einfach umpolt und ihm ein anderes, neues, ein Frauen-Leben einhaucht. Die mutige Kämpferin Anna ruft da beim Allesüberwinden zwischendurch schon mal die Kinder an: „Was macht ihr grade?“

Da war Laura Dern in Noah Baumbachs Film „Marriage Story“ als LA-verseuchte Schrill-Anwältin, die wie ein überkandideltes, dauerzappelndes Opfer der Männerwelt wirkt, jedoch alle Winkelzüge des Machotums durchschaut.

Da war und ist Stefanie Reinsperger, die sich am Berliner Ensemble durch die schauspielerischen Möglichkeiten hangelt, tobt, kreischt und kichert und dabei keine Gefangenen nimmt, weder in „Max und Moritz“ noch bei Brecht.

Da war Dove Carnahan in Tawni O’Dells Country Noir Wenn Engel brennen, Polizeichefin im Hillbilly-Nirgendwo von Pennsylvania, die alle in Schach hält, auch wenn die das ganz anders sehen und dann eben in die Falle tappen.

Da war, natürlich, Patience Portefeux aus Hannelore Cayres Die Alte, Arabisch-Dolmetscherin bei der Pariser Justiz mit einer Tonne Haschisch im Keller, die sie den Drogenjungs aus Marokko weggeschummelt hat (man hört da so einiges beim Dolmetschen.) Ihr macht keiner was vor, ihre karrieregeilen Kinder nicht, die hochnäsigen Chefs nicht und die lächerlich aufgeplusterten Dope-Verticker schon gar nicht.

Da war das TAZ-Titelbild mit dem Foto von Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und Ursula von der Leyen, strahlend auf Stühlen im Schloss Bellevue, und der Überschrift „So haben wir uns das Ende des Patriarchats aber nicht vorgestellt.“

Allesamt Frauen? Ja, is´ so.

Na gut, ein Mann: Rainer Bock als Möbelpacker Walter, der sich plötzlich in den Untiefen des Sozialen wiederfindet und dann eben dort anpackt, in David Nawraths Atlas, einem brillanten Exemplar aus dem rar gewordenen Filmgenre des Sozialdramas, das man ab und zu hinter der Glitzerfront des Ironischen hervorlugen sieht.

Günther Grosser: Autor zu Genre-Themen, u. a. mit einer monatlichen Krimikolumne in der Berliner Zeitung. Theatermacher, Regisseur, Leiter des English Theatre Berlin.

Jonas Grundmann

Im Frühjahr die erste bewusste Buchmesse. Allmähliche Betrachtung jedes Geschehnisses, das öffentlich und mit Literatur verknüpft ist, als Mosaikstück einer Kulturlandschaft. Und Kultur, das abstrakte Staubkorn, als durchaus lebendig. 
Die Leipziger Messe lässt auch keinen Raum für romantische Konventionellen-Träume von Form und Ordnung in der Literaturwelt – denn es gibt keine Literaturwelt. Es sind Welten, gewissermaßen so viele, wie die Menschen Köpfe haben.

Und was für Köpfe im Frühjahr in Leipzig!
Sich umsehende Augen – Bebrillte und nackte Blicke der Neugier, kritisch gerunzelte Stirnen, bebende Böden, wenn wieder Wellen Wissbegieriger an- und fortstromern, hin und weg. Gleichsam grell Verhüllte, bunt Maskierte, völlig Zielstrebige und total Verirrte – und das war nur eine Halle. 
Messe also mit Schleifen und Schliffen. 

Die Moderation zweier gar nicht bis spärlich besuchter Lesungen und die Arbeit am Stand gaben mir nicht großartig das Gefühl, die Buchbranche und ihre Akteure kennen gelernt zu haben. Vielmehr einmal mit eigenen Fühlern der Annahme nachgespürt, Print sei ein sterbendes Medium. Großer Schwachsinn, wenn ich mir die Massen und Abermassen von Begeisterten, Suchenden, Forschenden, Wertschätzenden überleg, die ich in Leipzig sehe.

Seither aufgeschlossener der Leserei gegenüber, führte mein Leben hier herum, dort entlang, da hinten vorbei, rauf und runter, bis ich im September dem sich leise aufgestauten Drang, mich in Ausbildung zu begeben, nachgab. 

Also hinein in die Wirklichkeiten der Welten, in eine intensive Befassung mit all dem, das mir im Frühjahr noch surreal und fremd vorkam.

Aber fremd kenn ich seit Frankfurt.

Der gefühlt siebzehnfache Maßstab, die viel niedrigeren Decken in Hallen ohne Licht und Luft vom Tag, weniger bunte Verrücktmenschen, mehr graues Business-Menschen.

Auch hier: Alles Lesemenschen.
Und der ursprüngliche Gedanke auf diesem Weg beginnt zu keimen. 
Meine Synapsen scheinen in der Idee, ein Leben mit Literatur zu versuchen, Wurzeln zu bilden und diese Ausbildung jetzt wird der Nährboden.

Eine kleine Sache aus der Berufsschule

Eine Gleichung für Wirtschaft im Fach Geschäftsprozesse und Märkte sieht aus wie folgt:

Bedürfnis
wie Hunger, Durst, Dach überm Kopf, Hygiene, Fairer Job

Bedarf (konkretisiertes Bedürfnis)
wie Nahrung, Wohnraum, sauberes Wasser, Berufsorientierung, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen

Nachfrage
Lebensmittelprodukte, Flaschenwasser, Wohnungs-, Job- und Stellenmarkt 

Mir leuchtet nicht ein, wie unter den Bedürfnissen (die die vermeintliche Notwendigkeit von Märkten überhaupt erst suggerieren) das nach Freiheit fehlen kann.
Gerade weil die Freiheit, alle oben genannten Bedürfnisse stets befriedigen zu können, das Privileg des Kaufens und Verkaufens, eines Marktes also, voraussetzt.
Fehlte es nicht, wäre doch offenkundig, dass welche Nachfrage auch immer entstünde, indem Bedürfnisse von Menschen konkret sind, das Stillen jener durchs Befriedigen derer nicht die Freiheit von Menschen, egal was für welchen, egal wo, jemals einschränken darf.

Wir nennen sie so oft „die anderen“. Sprechen von anderen Menschen. Werden sie nicht auch dadurch so abstrakt und prima übersehbar in feschen Marktgleichungen und Geschäftsprozessanalysen noch und nöcher?

Mir ist klar, dass Freiheit weniger mal eben schnell nebenher für alle definierbar ist als Hunger oder Bleibe – das ist, glaube ich, der Grund, aus dem wir wirklich mehr und öfter miteinander sprechen müssen. Geduldig und Forschend. 

Und alle miteinander, wann immer es geht. 

Denn Freiheit kann ein abstraktes großes Heiligtum bleiben, wenn wir sie nicht besprechen.
Sie ist Haltung, die erprobt werden wird. Sie ist Handlung, wenn wir uns trauen und sie üben.

Es war ein Jahr der Skepsis gegenüber kulturellen Komfortzonen.

So viel zu 2019…

Jonas Grundmann ist ein Suchender, politisch, künstlerisch und musikalisch unterwegs, über seine Eltern schon lange mit Buchbranche und Krimigenre verbandelt und seit 1. September 2019 Auszubildender und Teammitglied im Argument Verlag mit Ariadne.

Peter Christian Hall: in nassen kies gestampft

für Neo
aus novembertrüben himmeln
achtlos hingestreut
die pracht des ganzen jahrs
bald totes laub am weg
in nassen kies gestampft
auf asphalt aufgewalzt
teppich des lebens
blatt um blatt um blatt
gedankenlos zertreten
zarteste gebilde
jahr um jahr 
kunststücke sonder zahl
ein um das andere meisterwerk
und keins dem anderen gleich
verschwendet sich das jahr 

Peter Christian Hall, geboren 1940, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Tübingen und Zürich. Er war Nachrichtenredakteur beim Süddeutschen Rundfunk, Redakteur der legendären Zeitschrift medium – zusammen mit Alf Mayer – und stellvertretender Chefredakteur beim Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Er veröffentlicht Aufsätze in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Zuletzt besorgte er Ausstellung und Katalog zu Delphine in Offenbach über den Illustrator Marcus Behmer. 2019 erschien seine Studie Grotesk. Der Vermittlungsmodus ‚falsches Zugleich‘. CulturMag-Besprechung hier.

Sonja Hartl

Januar bis März

Das erste Buch des Jahres ist gleich ein Volltreffer: Attica Lockes Bluebird, Bluebird. Hochspannende Hauptfigur, richtig schöner Südstaaten-Plot. Ohnehin ist der Januar ein großartiger Krimi-Monat: die Lit-Prom Tagung in Frankfurt ist dieses Jahr zum Thema „Global Crime. Ich rede mit Candice Fox über Psychopathen, quatsche Gary Victor todesmutig auf Französisch an, interviewe Jeong Yu-jeong und begegne vielen anderen interessierten Krimimenschen. 

Es folgt: die Berlinale mit den unvergessenen „Systemsprenger“, „Der goldene Handschuh“ und „The Souvenir“. Graham Norton in London. Die Peanuts-Ausstellung in London. Ein Kreativmeeting mit tollen KollegInnen, das im Sommer zu einer Artikelreihe über Chemnitz führen wird. „High Flying Bird“, der beste Soderbergh- und beste Sportfilm seit langem, läuft weitgehend unbeachtet bei Netflix.

Außerdem: Sara Gran: Das Ende der Lügen, Lesley Nneka Arima: Was es bedeutet, wenn ein Mann vom Himmel fällt, Annie Ernaux: Der Platz

April bis Juni

Ich reise quer durch die Republik, um mit Autorinnen über Mutterschaft zu reden. In Paris treffe ich Deborah Levy. Ihr Was das Leben kostet ist mein Buch des Jahres, es ist unfassbar klug und lustig; ich kenne niemanden, der so schreibt wie sie. Deshalb lese ich seither alles, was ich von ihr finde und was über sie geschrieben wurde. 

Ich arbeite an dem Manuskript meines ersten Radio-Features, schaue den letzten „Avengers“-Film – nun sollen andere sich mit ihnen beschäftigen. (Ein Vorsatz, der der mittlerweile durch den „Black Widow“-Trailer zunichte gemacht wurde. Ich lerne es nie.). Reise nach Modena zur Franco-Fontana-Retrospektive, erlebe die unglaublichste Fußballwoche des Jahres (Go Spurs!) und sehe, wie Jackie Bradley Jr. einen Ball fängt, der unmöglich zu fangen ist. 

Außerdem: Die herzzerreißende Einsamkeit eines Kindes in Ray Billinghams Ray & Liz. Die himmelschreiende Ungerechtigkeit in Ava DuVernays When They See Us. Anke Stellings Bodentiefe Fenster, Berit Glanz‘ Pixeltänzer, Jenny Offills Amt für Mutmaßungen, Johannes Groschupfs Berlin Prepper

Juli bis September

Eine Woche in Chemnitz, Recherchereise. Drei Wochen in Finnland, Urlaub. Ich lese unzählige Bücher, glaube für einen kurzen Moment, die Welt wieder zu verstehen. Dann kommt Boris Johnson und dieser kurze Moment ist wieder vorbei. Die Brüche werden größer, allenthalben. 

Zum ersten Mal bin ich bei einem Podcast dabei, es geht um True Crime. Seit Jahren schaue ich „Grey’s Anatomy“ – die Folge „Stumme Schreie“ („Silent All These Years“) beschäftigt mich sehr lange. Selten wurde so deutlich, warum so wenige Frauen sexualisierte Gewalt anzeigen und wie wichtig Solidarität ist. Hoffentlich wird diese Folge verändern, wie im Fernsehen und anderen Medien über sexualisierte Gewalt verhandelt wird.

KrimisMachen 4 in Köln. Drei Tage mit anderen Krimi-Menschen. Es ist toll, kontrovers, inspirierend. Weiterhin beschäftigt mich die Frage, wie sich Krimis positionieren – am Markt, im Feuilleton. Und wie es gelingen kann, dass wir nicht mehr nur zählen, wie viele Frauen wo von wem besprochen werden, sondern einen Schritt kommen.  

Außerdem: Gary Dishers Kaltes Licht, Tawni O’Dells Wenn Engel brennen, Paula Knights The Facts of Life, Denise Minas Klare Sache, Marja Kjos Fonns Kinderwhore.

Oktober bis Dezember

Buchmesse in Frankfurt, wie immer schön, lustig und anstrengend. Zurück in Berlin setze ich einen langgehegten Plan um: arbeite etwas weniger, lese querbeet vor allem ältere Titel und Sachbücher, bin viel in der alten Heimat. 

Die Nationals schaffen das Unmögliche und schlagen die Astros; Sons 3:0 gegen Burnley ist das beste Tor des Jahres. Einer der besten Politthriller seit langem ist „The Report“, er läuft bei Amazon. Durch die zweite Staffel von „Fleabag“ verstehe ich, warum alle so begeistert von der Serie sind; nicht nur wegen des hot priest, sondern sie hat das perfekte Serienende. 

Außerdem: Regina Nösslers Die Putzhilfe, Chanel Millers Ich habe einen Namen, Daniel Siemens‘ Sturmabteilung

Das ganze Jahr

Tolle Gespräche mit Kolleg*innen, die inspirierend und unterstützend sind. Lustige Abende bei Talk Noir. Hadern mit sozialen Netzwerken. Dorothy B. Hughes. Und natürlich: Deborah Levy. (Sie hat es verdient, hier wiederholt zu werden.)

Sonja Hartl ist Jurymitglied der Krimi Bestenliste, ab 2020 verstärkt sie auch unsere Redaktion. Ihr CrimeMag-Beiträge hier. Ihr Blog „Zeilenkino. Wo Film und Literatur  sich treffen“ hier.

John Harvey at a poetry reading

John Harvey: Best of 2019

Here they are, not necessarily the best, more my favourite books, films and art exhibitions of the year; the ones that gave me the most pleasure, the ones I remember most positively and fondly.

Fiction
Bernardine Evaristo : Girl, Woman, Other
Mary Gaitskill : This is Pleasure
Lavinia Greenlaw : In the City of Love’s Sleep
Tayari Jones : An American Marriage
Liz Moore : Long Bright River
Rosie Price : What Red Was

Singers/musicians autobiography/memoir
Lily Allen : My Thoughts Exactly
Liz Moore : The Words of Every Song
Amy Rigby : Girl to City
Tracey Thorn : Another Planet

John Harvey

Poetry
Rebecca Goss : Girl
Lavinia Greenlaw : The Built Moment
Tony Roberts : The Noir American & Other Poems

Films
„Dirty God“ : Sacha Polak
„For Sama“ : Waad al-Khateab
„Foxtrot“ : Samuel Maoz
„Hale County This Morning This Evening“ : RaMell Ross

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„Last Black Man in San Francisco“ : Joe Talbot
„Marriage Story“ : Noah Baumbach
„Peanut Butter Falcon“ : Tyler Nilson & Michael Shwartz
„The Shoplifters“ : Hirokazu Koreeda

Hoping to be back next year …

John Harvey is one of Britain’s finest novelists and a CrimeMag columnist, his essays can be found here. His blog „Some Days You Do …“ is recommended, these lists appeared there first. John’s body of work here (in Deutsch). His last Charlie Resnick novel darkness, darkness appeared in Germany as Unter Tage. Alf Mayer’s review and interview here. 2018 saw the return of Frank Elder in Body & Soul, reviewed by Alf Mayer here, translated into English on John’s blog.

Bodo V. Hechelhammer: Hurra, wir leben noch 

Nein! Bei diesem Titel kommt wahrlich kein weißhaariger Simmel einfach so daher geritten. Aber ganz im Geiste der Formann’schen Lebenserzählung hat man doch wieder irgendwas erlebt, weil überlebt. Keine Selbstverständlichkeit in der heutigen Zeit und angesichts der finalen Logik des Älterwerdens. Es wird nicht jedes Jahr hinhauen, irgendwann haut es einen selbst hin. »Der Meister kam, doch er fand ihn nicht«, flüsterte man in jüngeren Jahren in Griechenland. Doch irgendwann ist damit Schluss. Aus unverständlichem Murmeln heraus haben sich längst schon klare Worte gebildet. Sinn erschließt sich daraus nicht. Noch reichen die Kräfte zum Weghören, leisten die eigenen Soldaten befehlsgetreu Widerstand. Doch immer zahlreicher werden die Verräter in den eigenen Reihen. Eben noch als Gegenwart in den eigenen Händen federleicht zu formen, wird alles bereits eine Sekunde später nur noch zur bleiernen Geschichte. Schwer zu greifen, schwerlich zu beschreiben.

Frühes Selbstbildnis

Wenn’s richtig schief läuft, dann steht’s aber trotzdem in einem Buch. Leider lässt sich die gemeine Zeit in kein so feines Förmchen pressen, wie Plätzchen es zur Adventszeit gerne haben. Früher war ja alles besser. Dieser neue Teig will aber einfach nicht fest werden, widersetzt sich fließend. Zeit bleibt der launigste Begleiter des eigenen aggregierten Daseins. Historiker erscheinen angesichts ihrer sisyphosen Aufgabe eher wie eine von einem uralten Fluch getroffene Zunft, die offenbar nicht nur ihr Herz verkauft, sondern es auch in eine kleinliche Holzkiste verschlossen und vergraben haben muss. Doch kein Captain Jack Sparrow segelt vorbei. Er würde im Deutschland der Altvorderen auch gar keinen Lehrstuhl und somit kein Gehör erhalten. Bitte weitergehen, hier gibt es nichts zu hören, der Mann ist kein Professor. Dann tröstet eben dessen Kollege Captain Morgan. Wenigsten tragen beide einen Titel. Dr. Pepper hat allerdings promoviert. Scheiß Marzipan. Am Ende wird doch noch gemeinsam die richtige Treppe genommen, bis einem der eigene Kalender im Nerhegeb anstarrt.

Es baut sich ein sonderbares Bild des Jahres auf, ein Zerrbild vergangener Erinnerungen. Inzwischen selbst so real wie fake. Hinter einem Schlapphut mit Sonnenbrille tanzen Monatsschatten schnell hervor. Für einen Moment, nur kurz, aber konturenstark, bevor auch sie ins Grau verlaufen. »Varus, gib mir meine Legionen wieder!«. V. kann für jeden geschlagenen Feldherrn stehen. Schlachtengemälde. Hitze, Brände, überall Feuer ob in Notre-Dame oder im Amazonas. Rechts marschiert es sich zum Terror immer leichter, nicht mehr nur populistisch, sondern provokant zielsicher in Kassel und Halle. Kein Stier interessiert sich mehr für Europa. Die Tochter Agenors verkümmert. National first, notfalls mit Exit. Trotz globaler Überhitzung droht neuer kalter Krieg. Doch Deutschland stellt sich taub und macht die Augen zu, weil alles doch so gut und immer gerne. So werden Eisberge übersehen. Endlich erscheint ein garstig bärtiger Mann und spricht etwas. Kein Wort davon ist verständlich, was aber nicht verwundert, lebt man in Berlin. Ich gebe einen Obulus damit der Zauber verschwindet. Zum Glück war es kein Charon. Ich bleibe jenseits des Flusses und warte auf das neue Jahr.

Bodo V. Hechelhammer ist Chefhistoriker des Bundesnachrichtendienstes (BND) – mit einem kundigen Faible für die populärkulturellen Spiegelungen der Agenten- und Geheimdienstwelt. Seine Texte bei CrimeMag hier. „Geheimdienst ist besonders spannend unter kulturhistorischer Sicht“, ein Interview von Alf Mayer mit dem Autor über das Buch Doppelagent Heinz Felfe entdeckt Amerika. Der BND, die CIA und eine geheime Reise im Jahr 1956 hier

Seine Besprechung von Spion ohne Grenzen. Heinz Felfe – Agent in sieben Geheimdiensten hier.

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