Geschrieben am 31. Dezember 2019 von für Highlights 2019, News

CulturMag Highlights 2019, Teil 2 (Baker – Baron – Bassoff – Beckmann)

Sandi Baker –
Rolf Barkowski –
Ulrich Baron –
Jon Bassoff –
Gerhard Beckmann –

Sandi Baker:  Jam, Shakespeare and Inequality in South Africa

South Africa is one of the most unequal countries in the world with a Gini coefficient ( the Gini coefficient measures inequality) of between 0.660–0.696 where ‘0’ represents a perfectly equal society and ‘1’ a completely unequal society. So, it is no surprise that to survive people take to the streets where they beg at traffic lights, clean car windows, sell sweets and fizzy drinks and perform acrobatics. Some even offer to take the rubbish for a small fee. Of course, some just beg. They are often either missing limbs, nursing babies, are blind or performing a dance routine.

From the outskirts of Johannesburg city centre heading north along the leafy suburbs to the more affluent northern suburbs, there are clusters of beggars at all the intersections of the main arterial roads. Some motorists give money. Some give food and water, but most ignore the beggars only narrowing avoiding them as they speed off once the traffic light has changed.

One woman who does not ignore the beggars but actively seeks them out, is one of South Africa’s most renowned actors, Dorothy-Ann Gould. In the course of her career, she has travelled the world, performing in America, Canada, Europe and in London’s West End where she played opposite Sir Anthony Sher, Sir Ian McKellen, Dame Janet Suzman, and Sir Derek Jacobi, amongst others. Her career spans over three hundred theatre productions, many TV series and international films. She is well known for performing Shakespeare, having played 18 Shakespearian female characters. 

Dorothy-Ann actively engages the people on the street, acknowledging them in the understanding that they too could be her brothers, fathers, uncles, aunts, sisters and mothers and need love. She has been teaching and working with a group of people from a soup kitchen in Hillbrow, to form Johannesburg Awakening Minds – JAM. It is through this process that these people of the street find not only sanctuary from the harshness of their lives but also find their voice, self-respect and sense of dignity. The group does Shakespeare, T.S. Elliot and some of their own works. It is perhaps no surprise that they tend to gravitate towards Shakespeare, whose works transcend time and culture. The group members translate him into their own language so that they can better understand the meaning when they perform him in English. The rawness of their emotions come through in their performance, the crafting of which is exquisitely underpinned by the subtlety of their movement, the Shakespearian wording and storytelling, and the integrity that comes from having lived on the street and having seen through societal artifice.

JAM has attracted national recognition and has played in auditoriums and schools. Some of the members have gone on to study at the Market Theatre laboratory, be leads in TV commercials and play in local soapies. One even was short-listed for an international film. The group has had international visits from Shakespeare’s Globe Theatre, German TV and the BBC and has won local awards for innovation in theatre. On winning the award, the group spontaneously performed an excerpt from Hamlet in English and Zulu, which led to 2000 people giving a standing ovation.

It is a testament to people like Dorothy-Ann and the group of actors who, against all the odds, have managed to not only be seen but who have become a magnetic presence with a voice that can speak out against injustice and who have truly considered whether ‘tis nobler in the mind to suffer, the slings and arrows of outrageous fortune, or to take arms against a sea of troubles, and by opposing end them…’ 

And therein lies the rub, in a country such as South Africa with such inequality and corruption, what will happen when more people are given a voice and can consider what action they can and should take?

Rolf Barkowski: Freundschaft

Freundschaft – das zentrale, das beherrschende Thema in meinem 2019. „Freundschaft bezeichnet ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander, das sich durch Sympathie und Vertrauen auszeichnet. Eine in einer freundschaftlichen Beziehung stehende Person heißt Freund oder Freundin. Freundschaften haben eine herausragende Bedeutung für Menschen und Gesellschaften.“ Soweit Wiki. Soweit so gut – sollte man sich öfter ins Bewußtsein rufen. Heißt es doch nicht umsonst: Freundschaften pflegen….Und: „Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert: Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht. Ich hätte 1. in meiner Produktion meine Individualität, ihre Eigentümlichkeit vergegenständlicht und daher sowohl während der Tätigkeit eine individuelle Lebensäußerung genossen, als im Anschauen des Gegenstandes die individuelle Freude, meine Persönlichkeit als gegenständliche, sinnlich anschaubare und darum über alle Zweifel erhabene Macht zu wissen. 2. In deinem Genuß oder deinem Gebrauch meines Produkts hätte ich unmittelbar den Genuß, sowohl des Bewußtseins, in meiner Arbeit ein menschliches Bedürfnis befriedigt, also das menschliche Wesen vergegenständlicht und daher dem Bedürfnis eines andren menschlichen Wesens seinen entsprechenden Gegenstand verschafft zu haben, 3. für dich der Mittler zwischen dir und der Gattung gewesen zu sein, also von dir selbst als eine Ergänzung deines eignen Wesens und als ein notwendiger Teil deiner selbst gewußt und empfunden zu werden, also sowohl in deinem Denken wie in deiner Liebe mich bestätigt zu wissen, 4. in meiner individuellen Lebensäußerung unmittelbar deine Lebensäußerung geschaffen zu haben, also in meiner individuellen Tätigkeit unmittelbar mein wahres Wesen, mein menschliches, mein Gemeinwesen bestätigt und verwirklicht zu haben. Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete.“ (1) Der Idealfall der menschlichen Verwirklichung, den Marx hier beschreibt. Was hat das mit Freundschaft zu tun? Ich finde in diesem Zitat eine Menge Kriterien für Freundschaft (oder besser: das Ideal einer Freundschaft). Gegenseitige Anerkennung, Respekt, Empathie – ist alles hier enthalten. Es sind die Freunde, die Freundschaften, die uns als Spiegel entgegen leuchten. Die wir brauchen, um uns zu definieren, zu erkennen, zu überleben. (Heute gerne als ‚Feedback‘ bezeichnet – welch müder Ersatz für Spiegel). Aber: „Freundschaften werden, wenn sie nicht mehr funktionieren, entweder in der Schwebe gehalten,d. h. nur noch mit minimalem Aufwand gepflegt, oder beendet. Wie Arno Frank schrieb, sind solche Freundschaftsabbrüche – anders als Trennungen von Sexualpartnern – in aller Regel nicht von Aussprachen und expliziten Aufkündigungen der Beziehung begleitet, sondern erfolgen fast immer schleichend und ohne aufweisbaren Schlusspunkt. Dies geschieht etwa dadurch, dass der Andere immer seltener kontaktiert wird und auch Kontaktgesuche des anderen schließlich ganz ignoriert werden.“ Ebenfalls Wikipedia. Heißt doch: Spiegel werden trüb, werden blind – wenn sie nicht geputzt werden. Festes Ziel für 2020: Immer schön Spiegel putzen! 

P.S. Ohne viele Worte: Guitar Gabriel – Do You Know What It Means To Have A Friend?

(1) Karl Marx: Auszüge aus James Mills Buch Eléments d’économie politique, in: Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung (Hg.): Marx – Engels – Werke, Berlin 1990, Band 40, S. 462f. 

Rolf Barkowski, Jahrgang 1950, hat mal Sozialwissenschaften & Germanistik studiert, ewiger Student;  hat mal als Gerüstbauer, lange als Briefträger und ganz lange als Sozialarbeiter (offene Kinder-und Jugendarbeit) gearbeitet; ist musikalisch sozialisiert in den 60er Jahren mit den Stones und weißem Blues; hat im Alter den schwarzen Blues entdeckt; ist seitdem regelmäßig in Mississippi bzw. im Süden der USA unterwegs; fotografiert leidenschaftlich gerne; handelt im richtigen Leben seit 30 Jahren mit Antiquitäten und Kunst. Seine Blues-Festival- und CulturMag-Texte hier.

Ulrich Baron: Sieg der Phantasie

Da ich meinen Fernseher schon als junger Mensch weggeworfen habe, erreichen mich manche Kulturereignisse spät oder nie. Als ich in diesem Jahr zum ersten Mal Folgen von „A Game of Thrones“ sah, hatte sich dessen Grundregel scheinbar schon abschließend erfüllt: „When you play the game of thrones, you win or you die.“ Freilich erreichten mich diese Worte in einer Umgebung, die einem auch John Maynard Keynes berühmtes Diktum „In the long run we are all dead“ vor Augen führte. Nur passt solch knallharter Realismus nicht mehr in unsere Medienwelt, in der jedes Spiel jederzeit neu gestartet werden kann, und das scheint auch dem Charakter von George Raymond Richard Martins Fantasy-Romanvorlage A Song of Ice and Fire zu entsprechen, die noch nicht beendet ist, da ja die dicke Dame noch nicht gesungen hat.

Martins Werk wirft die Gewissheiten der Literaturkritik über den Haufen, die abgeschlossene Werke beurteilt, indem es immer wieder über sich selbst und über die Pläne seines Schöpfers hinauswächst, denn es treibt nicht nur immer neue Figuren und deren Perspektiven aus sich hervor, sondern erweitert auf deren Spuren auch die Bühne, die vielleicht einen Planeten umspannt, vielleicht unbegrenzt ist, während die Zahl der Spieler und ihrer möglichen Koalitionen und Konfrontationen immer weiter wächst. Durch die Verfilmung werden nicht nur die Grenzen zwischen Literatur und Film, Schrift und Bild durchlässig, sondern auch die zwischen Fiktion und Realität, denn es stört niemanden sich abwechselnd feuerspeiende Drachen, hyperaktive Untote oder Riesen und Dokumentationen über deren Animation anzuschauen. 

 „Is it true, that dragons never stop growing?“, fragt die Drachenmutter Daenerys in „A Dance With Dragons“ angesichts ihrer feuerspeienden „Kinder“. Und die Antwort lautet: „If they have food enough, and space to grow.“ Schaut man sich im Internet um, so sieht man, dass es noch Raum um Nahrung genug gibt, um diese Drachen auch ohne ihre Mutter wachsen zu lassen, und Ähnliches gilt auch für deren menschliche Zeitgenossen. Auch wenn es verfehlt wäre, Martins Epos als subtilen psychologischen Roman zu bezeichnen, entwickeln sich einige seiner Gestalten doch zu erstaunlicher Komplexität und wachsen an- und miteinander. Einmal ins Leben gerufen, sind sie den Gesetzen der Glaubwürdigkeit unterworfen, und je länger sie agieren, desto mehr wird diese Glaubwürdigkeit von ihrer Geschichte geprägt. Der brutale Schlagetot „The Hound“ etwa gewinnt als Entführer und zeitweiliger Beschützer der halbwüchsigen Arya Stark menschliche Züge, weil auch er sich als Opfer erweist. Und selbst der Zyniker Jaime Lannister erscheint durch den Kontakt mit der reinen Törin Brienne of Tarth wenn nicht veredelt so doch ein wenig nachdenklicher geworden zu sein. Dies gilt noch mehr für die Filmversion, deren Darsteller über Jahre hinweg in ihre Rollen hineinwuchsen, und ebenso für die Zuschauer, die Jahre lang Zeit hatten, sich mit den Figuren dieses Spiels anzufreunden. Oder ihnen nachzutrauern, denn so leichthändig Martin seine Figuren ins Spiel bringt, so schnell und überraschend fegt er sie auch vom Brett. Zwar können auch wir sie wiederauferstehen lassen, wie Martin es mit einigen von ihnen macht, indem wir ihre Geschichten nachlesen, sie am Monitor neu starten oder eins der Spiele zum Spiel spielen, aber die Zeit, in der man die Verfilmung gemeinsam mit einem nicht kleinen Teil der Menschheit zum ersten Mal und das über Jahre hinweg verfolgen konnte, sind unwiderruflich vorbei. Freilich hat die Verfilmung Martins Buchvorlage bereits vor Jahren überholt, was deren noch ausstehende Fortsetzungen zu einer aparten Art von alternativer Geschichtsschreibung macht. So ist das Spiel noch nicht abgeschlossen und es bleibt die Frage, welches Medium am Ende über dessen „wahren“ Ausgang entscheiden wird: Das Buch, die Verfilmung oder das Netz? Oder haben wir es nicht vielmehr mit einer win-win-win-Situation zu tun, mit einem Sieg jener seltsamen Tochter Jovis, der Phantasie? 

Ulrich Barons Texte bei CulturMag hier.

Jon Bassoff

Jon Bassoff

It’s pretty tough to scare me (not that I’m tough, just desensitized), but the Netflix show Marianne“ came really close. Usually I don’t think horror when I think of France, but this series is really good. The plot revolves around the young novelist Emma whose diabolical characters begin appearing in the real world. Victoire Du Bois, as the lead, is brilliant, and Mireille Herbstmeyer’s character freaked me the fuck out, partly because she looked like this: 

I also became obsessed with the German show „Dark“. I’m not usually in to time travel shows or movies, but this one is so clever, compelling, and, well, dark, that I was hooked. It’s rare that a show with such a complicated plot (and it’s really fucking complicated) will also have characters that you care about, but „Dark“ gets it done. Hoping for Season 3. 

My movie viewing was pathetically low. I saw, and loved, „The Joker“, but it’s more about the movies that I haven’t seen that I know I have to: „Midsommar“, „The Lighthouse“, „Us“. I just need a month or two or three to get caught up in my viewing. 

I’m thankful as hell for all the beautifully dark novels out there. Just finished Fever Dream by Samantha Shweblin which reads like, well, a fever dream, and is really chilling. Coyote Songs by Gabino Iglesias is the novel we need right now in the United States, a stunning depiction of Us vs. Them in the post-Trump United States. I’m a huge fan of Paul Trembley, and his novel, The Cabin at the End of the World didn’t disappoint. Also read and loved The Shadow Year by Jeffrey Ford, and finally got around to reading Nabakov’s Pale Fire. I could live to 876 and never be able to match what Nabakov does. 

And now onto 2020, which I hope will be filled with an equal dose of artistic bloodlust. 

Der Roman Zerrüttung (Corrosion) von Jon Bassoff ist bei Polar erschienen. Besprechung von Thomas Wörtche hier. Ein Interview von Alf Mayer hier.

Gerhard Beckmann: Zwei besondere Bücher dieses Jahres

Andrea Wulfs Graphic Novel Die Abenteuer des Alexander von Humboldt führt zu einem abenteuerlich neuen Lesen und Verstehen der Natur:

Andrea Wulfs Biographie des bahnbrechenden deutschen Naturforschers hat dem international kaum bekannten Alexander von Humboldt endlich weltweit Anerkennung und Ehre verschafft. Ihr neues Buch ermöglicht uns nun ein Nahverständnis seiner Forschungen, die bis heute von einer wegweisenden Bedeutung sind.

 Heute fragt man sich in der ganzen englisch-sprachigen Welt: Wie konnte es denn nur möglich sein, dass Alexander von Humboldt außerhalb Deutschlands so gut wie unbekannt geblieben ist?

Dass er jetzt im ganzen Erdkreis als Berühmtheit gilt,  ist einem einzigen, einzigartigen Buch und dem Engagement seiner großartigen Autorin zu verdanken – der in England lebenden, gebürtigen deutschen Kunsthistorikerin Andrea Wulf und der Biographie, die sie über Alexander von Humboldt geschrieben hat. Ihre Biographie wurde zu einem internationalen Bestseller. Und sie ist auch noch fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung bei zahlreichen deutschen Buchhändlerinnen und Buchhändlern ein hochgeschätzter Longseller.
Auf „Authentizität“ kommt es unserer Zeit in besonders hohem Maße an: Andrea Wulf hat einen neuen Weg gefunden, um die Forschungsreise Alexander von Humboldts  zu einem authentischen Lese-Erlebnis werden zu lassen. Und nun hat Andrea Wulf – rechtzeitig zu seinem 200. Geburtsjubiläum im September – unter dem Titel Die Abenteuer des Alexander von Humboldt. Die Entdeckungsreise des großen preußischen Wissenschaftlers präsentiert, die ihn von 1798  bis 1804 durch Südamerika führte. Es ist ein wissenschaftliches Werk – als ebensolches ist es auch von der Göttinger Akademie der Wissenschaften ausgezeichnet worden – , das gleichwohl mit einer wundervollen sprachlichen Leichtfüßigkeit daherkommt. Außerdem besticht es durch die Kreativität der Illustrationen, die von der amerikanischen Künstlerin Lillian Melcher stammen.

Andrea Wulf hat Alexanders von Humboldts Tagebücher und Notizen, Reisetagebücher und Briefe sowie zeitgenössische Quellen als Fundgrube genutzt, um seine Spuren Schritt für Schritt in wortechten Darstellungen nachzuzeichnen. Lillian Melcher hat, soweit als möglich, Zeichnungen aus Humboldts Papieren zu collage-ähnlichen Bildern herangezogen. Seite an Seite stehen diese Texte und Illustrationen neben- und zueinander. Wie in einer einer Graphic Novel unserer Tage – nur dass hier alle Details eben (nahezu) alles aus historischen und faktischen Quellen kommt, wie der gesamte Handlungsverlauf des Buches auch.

Das Buch ist weitaus mehr als nur eine Ergänzung der Humboldt-Biographie Andrea Wulfs. Es erschließt seine Reisen und Forschungen auf sensationell neuartige Weise von anderen Seiten. 

Biographien erzählen den Gang und die Bedeutung der Geschichte eines Menschenlebens – so wie es exemplarisch auch Andrea Wulf in ihrer Biographie tut. Diese wissenschaftliche Graphic Novel aber bringt jedes bedeutsame einzelne Moment, jede Phase, jede Station dieser Geschichte zur Anschauung. Eine Biographie schildert und verfolgt den Verlauf der Geschichte. Dieses Buch aber macht nun jeden Schritt, jede Beobachtung, jedes Forschungsergebnis, jede Erkenntnis Humboldts im einzelnen nachvollziehbar. 

Es ist eine eigenartige Lese-Erfahrung, die ich diesem Buch verdanke – und die mir Alexander von Humboldt so nahe gebracht und so verständlich gemacht hat wie nie zuvor. Andrea Wulf und Lillian Melcher entschleunigen das Lesen. Und die Entschleunigung bringt einen so überraschenden wie befriedigenden Erfahrungsreichtum und Erkenntnisgewinn mit sich.

Es lohnt sich. Denn Alexander von Humboldt war ein Pionier – wie Charles Darwin nach ihm. Er hat als erster wissenschaftliche Messungen und Vermessungen als Details einer integrialen Vision unseres Planeten und der Natur. Er ist bis heute ein Wegweiser für uns – für vieles fundamental Wichtige, das – auch hier zu Lande – von Politik und Wirtschaft noch immer nicht begriffen oder beherzigt wird. Andrea Wulfs „Graphic Novel“ über Alexander von Humboldts Endeckungsreise ist darum auch ein ideales Geschenkbuch zum Lesen-, Denken- und Leben lernen.   

Warum das neue Buch  – Wir Herrenmenschen von Bartholomäus Grill, dem langjährigen Afrika-Korrespondenten des SPIEGEL ein überaus aktuelles und dringend notwendiges deutsches Sachbuch ist: 

Die deutsche Kolonialherrschaft in Ost-West- und Südwestafrika, China und der Südsee fand mit dem Abschluss des Versailler Friedensvertrages am 28. Juni 1919 ein bitteres Ende. Bartholomäus Grills Wir Herrenmenschen wird aber nicht nur wegen dieses hundertsten Jahrestages große Beachtung finden – weil es das erste umfassende moderne Sachbuch zu diesem Thema ist. Er hat auch die  nötigen Qualitäten und äußeren zeitgenössischen Umstände für sich, um zum Longseller zu werden  – wie schon Grills Titel Ach Afrika (2003), von dem der Buchhandel als Hardcover, Paperback und Taschenbuch insgesamt mittlerweile fast 90.000 Exemplare verkauft hat. 

Den Rahmen dieses Buches bildet eine bewegende persönliche Erzählung mit zeitlich, geographisch und politisch weiten Horizonten – eine Familiengeschichte , die über drei Generationen geht. 

Der Großvater, geboren 1895, war ein leidenschaftlicher Anhänger der Kolonialbewegung, die in der Weimarer Republik für die Rückgabe der Kolonien kämpfte, die Deutschland mit dem Vertrag von Versailles verloren hatte; in seinen Vorstellungen lebte das kaiserliche deutsche Großreich fort. Der Vater, geboren 1928, hatte schon als Hitlerjunge gehofft, dass „der Führer“ diese überseeischen Gebiete zurückerobern würde. So wuchs Bartholomäus Grill, der Enkel, geboren 1954, im kindlichen Glauben an das alte deutsche Kolonialreich auf. Und mit dem Fund einer kolonialen großväterlichen Bibliothek inmitten des Gerümpels auf dem Dachboden des oberbayerischen Bauernhauses  begann in Bartholomäus Grill dann eine Sehnsucht nach dieser untergegangenen Welt zu erwachen, die ihn nie mehr losließ und seine berufliche Zukunft bestimmen sollte. 

Wenn einer eine Reise tut…

„Ich wurde Korrespondent in Afrika, reiste dreißig Jahre lang kreuz und quer durch den Erdteil und stieß immer wieder auf Spuren der deutschen Kolonialzeit.“  Daraus ist nun eben das entstanden, was die beispiellose Faszination dieses historischen Sachbuchs ausmacht: Es wird für den Leser tatsächlich zu dem Erlebnis, das ihm der Untertitel Leser verspricht: zu einer persönlichen „Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“.

Das Bild von den „guten und anständigen deutschen Kolonialherren“, mit dem Bartholomäus Grill aufwuchs, ist bei seinen oft erschütternden Erkundungen in Afrika und Asien endgültig zu Bruch gegangen. Insofern ist dieses Buch ein wesentlicher Beitrag zur historischen Aufarbeitung unserer Vergangenheit, die noch lange nicht abgeschlossen ist. Aktuell bedeutsam ist es freilich keinesfalls bloß wegen der hundertsten Wiederkehr des Tages, als Deutschland seine Kolonien verloren hat.

Es gab keinen „sanften deutschen Kolonialismus“. 

Es ist nämlich so, wie Bartholomäus Grill – ein Journalist, der, wie heute leider nur wenige seiner deutschen Kollegen, politisch denkt und mit selten gewordenem historischem Weitblick schreibt – in seinem Buch immer wieder erkennbar  macht: „Bis heute liegt ein gespenstisches Schweigen über den Verbrechen, die wir, der weltbeherrschende Westen“ – also auch die Deutschen, die, wenn auch nur bis 1919, und nur für kurze Zeit, landmäßig die drittgrößte europäische Kolonialmacht waren, nach Großbritannien und Frankreich, aber weitaus größer als die bis heute als „typisch“ verstandenen Kolonialstaaten Staaten Holland, Belgien, Portugal, Spanien wie die USA – „den Afrikanern und anderen Völkern angetan haben“. Dazu gehören – es sind charakteristische Elemente des Kolonialismus – „Landraub, Unterdrückung, Mord und Terror, institutionalisierter Rassismus“  und die Zerstörung der einheimischen Kulturen.  Kolonialistische Denkweisen aber sind  – trotz des Verlustes der Kolonien vor hundert Jahren – auch in Deutschland in vielfacher Weise bis heute virulent, wenn nicht gar für politisches Handeln maßgeblich. Es ist eine lange Entdeckungsreise, die Bartholomäus Grill von seinen Kindheitsträumen auf dem Dachboden des abgelegenen elterlichen Bauernhofes bis zu erschreckenden Folgewirkungen des kaiserlich deutschen Großreichs in der heutigen Berliner Republik geführt hat. Das gibt der Lektüre dieses Buches eine so hohe, so aktuelle Bedeutung.

Kolonialistische Denkspuren in aktueller deutscher Politik.

Altes koloniales Denken prägt die politischen Strategiepläne der CDU/CSU/SPD-Regierung für eine Eindämmung und Rückstauung der befürchteten neuen Flüchtlingsströme – bis zu den von Bartholomäus Grill zitierten Gedankenspielen eines hochrangigen Beraters der Bundeskanzlerin, dafür in Afrika „Schutzzonen“ (!) zu etablieren. Ihm  war von Anfang an aufgefallen, dass die Afrikanerinnen und Afrikaner  in den kolonialen deutschen Erzählungen „keine Stimme“ hatten. Er hat notiert, dass nach 1945 deutsche Historiker über zwei Generationen versäumten, afrikanische Zeitzeugen der Kolonialzeit zu suchen und deren Berichte aufzuzeichnen. Und ist von mehr als nur anekdotischer Bedeutung, dass in den Fachbeirat für die Kolonialismus-Ausstellung des Deutschen Historischen Museums 2016/17 „kein einziger Afrikaner“ (!) zur Mitgestaltung eingeladen worden war. 

Ein eminent wichtiges Buch im Kampf gegen Rechtspopulismus und  Neonazis.

Bartholomäus Grills Wir Herrenmenschen beweist auf eklatante Weise, warum es auf besondere Bücher und den langen Atem des Lesens und der Beschäftigung mit solchen Büchern ankommt, um höchstgefährliche, tiefsitzende alte, in weiten Kreisen der Bevölkerung bewusst oder unbewusst vorherrschende Denkstrukturen zu verändern. Eben jetzt wird außerdem die enorme Gefahr deutlich, dass sie von Rechtspopulisten zur Ausweitung ihrer Einflusssphären missbraucht werden. Christian E. Weissgerber hat in einem vielbeachteten Interview mit Mark Reichwein in der Tageszeitung „Die Welt“ zu seinem Enthüllungsbuch Mein Vaterland! darauf verwiesen, dass die Neonazis mit einem neuen Bewusstsein von der guten alten deutschen Kolonialzeit eine fast völkische, rassistische Abschottung gegenüber Flüchtlingen, Ansylanten und Migranten in Gang zu setzen versuchen. Daraus ergibt sich ein weiterer Anlass und Grund, für das neue Buch von Bartholomäus Grills viele Leserinnen und Leser zu gewinnen. Und seine Lektüre lohnt sich allemal.

  • Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe. Eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler, München 2019. 299 Seiten, 24  Euro.
  • Andrea Wolf: Die Abenteuer des Alexander von Humboldt. Illustriert von Lillian Melcher. Aus dem Englischen von Gabriele Werbeck. C. Bertelsmann, 272 S. Halbleinen, durchgängig farbig illustriert. 28 Euro.

Gerhard Beckmann ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im „BuchMarkt“ stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte bei uns hier.

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