
Der Große Deutsche Schuld Roman
Am Anfang, gleich im ersten Satz, wird Paula Bloom, die Heldin dieses Buches, von einer gewaltigen Wucht bis ins Mark erschüttert. Eine immense Wasserwand trifft den Bug des Truppentransporters, auf dem sie im letzten Kriegsjahr des Zweiten Weltkriegs nach Europa unterwegs ist. „Diese eine Welle würde sie nie vergessen…“, beginnt der Roman.
Das ist mehr als eine Metapher. Die Wucht der Meereswelle, die auf eine Haut aus Stahl trifft und alle hinter diesem dicken Panzer bis ins Mark erschüttert, das ist auch die Kraft und Wucht, die in diesem Buch von Andreas Pflüger steckt – und alle, die noch ein ein Gewissen und politisches Gespür haben, ins Herz trifft. Außerdem ist es traumhaft gut geschrieben. „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“, forderte Franz Kafka. Ritchie Girl leistet das. Es ist ein Buch, wie es noch keines gab, endlich Der Große Deutsche Schuld Roman – ein weißer Wal wie die „Great American Novel“, der Don DeLillo vielleicht am nächsten gekommen ist mit Underworld. Nicht umsonst haben die beiden Autoren Gemeinsamkeiten.
Die Unterwelt in Ritchie Girl ist der Unterbau unserer westlichen Wertegemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, sind die Machenschaften, Geschäfte und Zynismen beim Aufbau einer neuen Weltordnung, ist die Demaskierung manch unserer Gründungsmythen – darunter auch die des BND –, ist der Umgang mit den unauslöschlichen zwölf Jahren des Dritten Reiches. Ist die Unfähigkeit zu trauern, wo doch gerade dies das Menschlichste wäre, aber für eine ganze Generation und ein ganzes Land schier unmöglich war. Erst am 7. Dezember 1970, 25 Jahre nach Kriegsende – und für mehr als die Hälfte des Landes immer noch zu früh, ich weiß noch den Aufschrei – kniete ein deutscher Bundeskanzler namens Willy Brandt in Warschau an einem Gedenkmal, verneigte sich vor den Opfern deutscher Täter, wurde hier als „Verräter“ beschimpft. Bis 1977 dauerte es, ehe ein deutscher Bundeskanzler Auschwitz besuchte und damit dort für sein Land Verantwortung übernahm. Es war Helmut Schmidt.
Die zweite Schuld nannte Ralph Giordano das. „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945.“ Pflüger ist sich hier mit Giordano einig: Die zweite Schuld hat die politische Kultur der Bundesrepublik bis zum heutigen Tag mitgeprägt. In ihrem bitteren Kern: die kalte Amnestie für Naziverbrecher, Blutrichter und fanatische Staatsanwälte, für viel zu viele Repräsentanten des NS-Vernichtungsapparats, Militärs, Diplomaten, Wirtschaftsführer. Die ganze Funktionselite des „Dritten Reichs“ war bis Ende der 1950er nahezu lückenlos wieder in die Nachkriegsgesellschaft eingegliedert. Giordano nennt es den „großen Frieden mit den Tätern“. Für ihn war er ein Fundament der bundesdeutschen Staatsexistenz. Unterwelt.
Und Pflüger zeigt, wie es begann. Zeigt die Phase, in der es wirklich eine Stunde Null hätte geben können – und aus Pragmatismus nicht gab. Es geht in Ritchie Girl um nichts weniger als um unsere deutsche Geschichte und um unser Verhältnis und Verhalten dazu. Heute. 2021. 2022. 2023. 2024 … Jetzt. In den kommenden Generationen.
All dies verhandelt 1946 – im ersten Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Privat und politisch. Klein und Groß. Unerbittlich. Unbequem. Und vor allem gegen den Strich dessen, mit dem wir uns gemütlich mit Fernsehserien und Filmen, Belletristik, Krimis, Dorfsagas und frivolen Feuilletonetüden im schnell halbgelangweilten Umgang mit der Nazizeit und den „spießigen Fünfzigern“ eingerichtet haben. Wir – Nachgeborenen – wissen längst, was damals Sache war, und wie wir dazu stehen. Nein danke, Nachhilfe nicht nötig. Wir nehmen dann selber vom Buffet.
Hätten Sie nicht mal zur Abwechslung eine hübsche, gern auch ein wenig perverse Variante auf Lager? Muss nicht groß sein, 200 luftige Seiten. Das reicht für ein Buch. Eine Jüdin, die andere Juden bespitzelt und denunziert? Ein Erzähler, der sich darauf etwas einbildet, von all der Politik im Nazi-Berlin keine Ahnung zu haben und keine haben zu wollen. Kurz, etwas mit wohligem Schauder und kribbeliger Ambivalenz, etwas für die Spiegel-Bestsellerliste, für den Small Talk in gehobenen Kreisen, für reihenweise Artikel in den Feuilletons, und bitte alles sich wieder leicht verflüchtigend, um Platz zu machen für das nächste Saisongeschäft. Vergangenheit als Lutschdrops, als schnell schmelzendes Zäpfchen. Etwas für den … – Spiegel-Mann Takis Würger hat es mit „Stella“ vorgemacht.
Und er hat 500 Mal mehr Aufmerksamkeit, Aufmacher und Platz in TV, Magazinen und Zeitungen – und auch bei der Feuilletonkritik – geerntet als mein Buch des Jahres 2021. Als Ritchie Girl. Sei es drum. (Der Hörfunk sei hier ausdrücklich ausgenommen.)
Pflügers pralles, unterhaltsames und dabei auch forderndes Buch, 450 Seiten, jeder Satz aufs Maximum ziseliert, ist explizit kein Thriller, sondern ein zeitgeschichtlicher politischer Roman mit ätzend moralischer und philosophischer Tiefe. Dieser Roman macht klar, an welch schlanke „Dramatisierung“ und magere Vier-Personen-TV-Horizonte wir uns gewöhnt haben. Pflüger ist fucking Breitwand. Cinesmascope. Größer als die eigene Westentasche. (In die Kritiker gerne das Vielfache des geistigen Eigengewichts – und hier auch der immensen Recherche – zu stecken pflegen und mit irgendeinem dahergeholten Einwand das Ganze für obsolet oder zum „Na ja“ erklären.)
Als Pflügers Protagonistin Paula Bloom von jener Welle erschüttert wird, ist sie nach Europa unterwegs, um ihren Anteil am Krieg gegen die Nazis zu leisten. Sie ist in Deutschland aufgewachsen, in Berlin, als Tochter eines amerikanischen Anwalts, der in den 1920er und 1930er Jahren mit Deutschland und „natürlich“ auch mit Nazis Geschäfte machte. Und sie hat einen Deutschen geliebt. Einen, der vielleicht zum Täter wurde, einen, der vielleicht der eine einzige Gerechte blieb. Darüber muss sie Gewissheit haben. Deshalb kommt sie zurück, als ein „Ritchie Girl“, als Besatzungsoffizierin.
Aber, und dies ist Pflügers genialer Kunstgriff, eben nicht einfach als Soldatin, sondern als Angehörige einer Spezialeinheit, die – historisch verbürgt – an genau jener Schnittstelle im Einsatz war, die Begegnung, Dialog, Diskurs und eigenmoralischen Umgang mit Hunderten von Nazi-Größen miteinschloss und mit tausendfach durchgeführten Vernehmungen sogar so etwas wie die allererste Bestandsaufnahme der Verbrechen des Naziregimes wie auch die Grundlagen für die Nürnberger Prozesse lieferte: den „Ritchie Boys“. (Siehe dazu meinen Text „Propagandakrieger und Verhörspezialisten“ in CulturMag 11/2020 – so wie das in diesen Tagen erschienene Wir sind nur noch wenige. Erinnerungen eines hundertjährigen Ritchie Boys von Guy Stern, Aufbau Verlag.)

Und all das hatte sogar einen archimedischen Punkt, einen Ort, der tatsächlich existiert, an dem Geschichte sich extrem verdichtet hat. Pflüger hat ihn gefunden: Camp King in Oberursel bei Frankfurt – heute ein Wohngebiet mit Taunusluft. Die Anklagen der Nürnberger Prozesse entstanden hier ebenso wie Eugen Kogons Studie Der SS Staat. Bis auf Göring wurden beinahe alle Nazi-Größen in Oberursel vernommen. Zuvor wurden dort im Durchgangslager Luft (Dulag Luft), ehemals ein Mustergut als Reichssiedlungshof der völkischen Bewegung, unglaubliche 40.000 abgeschossene alliierte Luftwaffenangehörige vernommen und befragt. Nach Kriegsende zog sogleich das Counter Intelligence Corps (CIC) ein, der Nachrichtendienst der U.S.-Armee und Vorläufer der CIA. Unter den „Ritchie Boys“, die in Oberursel ein- und ausgingen, waren viele Emigranten: Hans Habe, Henry Kissinger, Stefan Heym, Klop Ustinov (ja, der Vater des Schauspielers). Georg Kreisler vernahm dort zum Beispiel Julius Streicher, schrieb abends böse Lieder. Mit den Abwehroffizieren Baun und Gehlen und durchaus aus deren Konkurrenz befeuert, entstand aus der „Operation Rusty“ der Bundesnachrichtendienst, zunächst als „Organisation Gehlen“ bekannt und von den Amerikanern finanziert.
Robert M. W. Kempner, einer der Nürnberger Ankläger, wurde in Oberursel sesshaft. Sein Sohn machte dort Abitur, war Schulkamerad von Manfred Kopp, der später als Historiker die Ortsgeschichte aufarbeitete – und dem das heutige Wissen von der Existenz dieses „Maschinenraums des Kalten Krieges“ (Andreas Pflüger) zu verdanken ist. Pflüger schloss sich mit ihm ebenso kurz wie mit dem Chefhistoriker des BND, Bodo V. Hechelhammer, der für das Buch zudem ein Nachwort schrieb („Geschmeidige Männer“) und bereits über die Anfänge des BND in Oberursel und Pullach gearbeitet hatte (siehe meine Besprechung in CulturMag 2/2015).
Pflüger ist ein Recherche-Junkie. Alles in Ritchie Girl ist umfangreich und penibel recherchiert, alle Chronologie und Figurenkonstellation überprüft. Für sein Buch ackerte er sich durch mehr als 250 Bücher und Online-Datenbanken, war in Nürnberg und mehrfach in Oberursel. Handwerklich kann ihm ohnehin kein anderer Autor das Wasser reichen. Seine Sprache ist bergbachklar, poetisch verdichtet, an Hemingway geschult. Viele Jahre Theater- und Drehbucharbeit haben ihn zu einem begehrten Szenaristen gemacht, seinen Stoff versteht er zu bester Wirkung und Eleganz zu kalibrieren. Humor inklusive. Er kann Tempo und Rhythmus. Dialog. Dramaturgie. Weiß etwas von Männern und Frauen und den Funken, die es zwischen ihnen schlagen kann.
Materialbeherrschung und Penibilität gehen bei ihm soweit, dass er neben Judith Schalansky wohl der einzige deutsche (und Suhrkamp-) Autor ist, der seine Bücher selber setzt und ihr Erscheinungsbild bis in die kleinste Ligatur, also bis ins feinste Schriftbild bestimmt. Darüber mit einer Typografie-Größe wie Erik Spiekermann fachsimpeln kann. (Bei uns auf CulturMag hier: … über Typomanie, Arbeitsethos, Rhythmus und Form, den Bushidō, die Abwesenheit von Licht, Schwarzbrot und Schnapstrinken und ihre Zusammenarbeit.)

Nachtragen muss ich noch zu Oberursel, dass knappe zehn Straßenbahnkilometer entfernt im Frankfurter Westend das von Ernst Poelzig entworfene I.G. Farben-Haus steht, heute Universitäts-Campus, einst Konzernsitz jener Weltfirma, zu deren Portfolio die Mitarbeit an der Entwicklung der „Gaswagen“ gehörte, die Herstellung von Zyklon B und dessen massenindustrieller Einsatz bei der Vernichtung der Juden. Gleich nach Kriegsende zog die amerikanische Militärverwaltung an just diesem Ort ein – ebenso das Hauptquartier der CIA in Deutschland. Nach Camp King gab es also einen buchstäblich kurzen Dienstag. Paula Bloom trifft dort ihren Mentor Allen W. Dulles und einen jungen Richard Nixon. Dulles kannte das Gebäude schon vor dem Krieg. Während des Krieges im US-Auslandsgeheimdienst aktiv und bald schon dessen Chef, war er bereits im Anfangskapitel von Ritchie Girl in Mailand hinter den Kulissen aktiv und – wie Paulas Vater – für amerikanische Banken mit der I.G. Farben verbandelt. Die Frage, wie viel und ob Geld überhaupt Gewissen hat, wird vor diesem Hintergrund dekliniert. Auch für die Frage nach Gott und wo er denn in Auschwitz blieb, knüpft Pflüger sinnstiftende Zusammenhänge. Schreibt dazu große Dialoge.

Viele, die Andreas Pflüger als Thriller- oder Tatort-Autor zementieren, wissen vermutlich gar nicht, dass er ein großer Experte der „Shoa“ ist, mit Überlebenden zwei Dokumentarfilme über Auschwitz gemacht hat: Fünf Jahre – ein Leben (1994) und Mein Bruder ein Täter (1997). Zu dem nach einem Drehbuch von ihm entstandenen Schlöndorff-Film Der neunte Tag (2004) befand die FBW: „Ein rundum reifes und intensives Werk, ein sorgfältiger, vielschichtiger Film auf höchstem filmischen und moralischen Niveau, der die Haltung der katholischen Kirche zum Nationalsozialismus exemplarisch thematisiert… Ohne ein Thesenfilm zu sein, ganz anschaulich, sinnlich, nachvollziehbar, stellt der Film die Frage nach dem Gewissen, nach Glauben und nach Schuld.“ (Das Gutachten hier.)
Nicht zufällig erschien Ritchie Girl wenige Tage vor dem 75. Jahrestag der Urteilsverkündung der Nürnberger Prozesse. Wie ein großer Tanker steuern Buch und Protagonistin auf den 30. September und den 1. Oktober 1946 zu. Nach fast einem Jahr Verhandlungsdauer wurden dort im beeindruckend großen Justizpalast an der Fürther Straße zwölf der 24 Angeklagten zum Tode verurteilt. Paula ist bei den Hinrichtungen dabei.
Martha Gellhorn, die ebenfalls in „Ritchie Girl“ auftaucht, und zwar aus einer Dampfbadewanne im „Zuckerschloss“ der Faber-Castells, wo das internationale Presse-Korps einquartiert war, schrieb damals:
„Alles in allem waren es einfache Männer mit der gewöhnlichen Anzahl von Beinen, Armen und Augen, geboren wie andere Männer; sie waren weder zehn Fuß hoch, noch hatten sie die abstoßenden Gesichter von Leprakranken…
Man saß da, beobachtete sie und fühlte innerlich eine solche Empörung, dass es einen bestürzte. Diese 21 Männer, diese Nullen, diese fleißigen und selbstbewußten Monster, waren die letzten Überlebenden der kleinen Bande, die Deutschland beherrscht hatte.
Die eingeschüchterten und gedankenlosen Deutschen waren ihnen gefolgt, hatten sie gefürchtet oder bejubelt, und wegen dieser führenden Bande , wegen dieser beeindruckenden Bande sind zehn Millionen Soldaten, Matrosen, Piloten und Zivilisten im Krieg umgekommen und zwölf Millionen Männer, Frauen und Kinder in Gaskammern und Öfen krepiert…. Was diese Männer zu tun fähig waren, hat keine Hungersnot, keine Plage, keine Strafe Gottes je geschafft: Sie haben eine Zerstörung verursacht, wie die Welt sie noch nicht gesehen hat. Und da saßen sie nun mit versteinerter Miene…
Vielleicht denken Sie, man sollte Mitleid haben. Wir sind nicht dazu erzogen, Schadenfreude zu empfinden, wenn wir gewinnen; wir finden es ganz normal, daß der Starke Erbarmen mit dem Unterlegenen hat. Aber die Mitleidlosigkeit dieser 21 Männer war so gewaltig, so jenseits menschlicher Vorstellungskraft, daß jetzt kein Mitleid mit ihnen möglich war.“

Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich befand 1946 über die „beklemmende Atmosphäre“ in Nürnberg: „Die Erkaltung der Beziehung der Menschen untereinander ist unfaßbar, kosmisch wie eine Klimaschwankung.“ W.G. Sebald stellte später fest: „Der wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden. Er blieb ein mit einer Art Tabu behaftetes Familiengeheimnis.“
Die Historikerin Monica Black skizziert das Deutschland jener Jahre als A Demon-Haunted Land: Witches, Wonder Doctors, and the Ghosts of the Past in Post-WWII Germany, so der Originaltitel des jüngst erschienenen Deutsche Dämonen (bei Klett-Cotta) über die Geister dieser Wolfsszeit (so ein anderer Buchtitel, von Harald Jähner, meine Besprechung hier). Der Holocaust spielte im Bewusstsein der meisten Deutschen eine schockierend geringe Rolle. „Der Überlebenstrieb schaltete Schuldgefühle ab – ein kollektives Phänomen… Das Vergessen war die Utopie der Stunde“ (Jähner).
Am Tag der Urteilsverkündung, so notiert Martha Gellhorn, „sahen die Nürnberger Richter müder als aus die Männer, über die sie richteten… Auch die Anklagevertreter schienen vor Müdigkeit nicht mehr zu können.“
Wie stehen wir dazu? Das ist die Reise dieses Romans. Das ist die Frage an uns alle. Heute noch. Und noch ein Zitat: „Am Schluss stehen wir alle vor uns selbst.“
Niemand von uns – auch heute, 75 Jahre später – kann einfach so leben, als ginge ihn die deutsche Vergangenheit nichts an. Paula Bloom kommt nach Europa, um für sich zu klären, wie sie damit umgehen soll. Wie sie mit ihrem eigenen und dem Anteil ihres Vaters an dieser ozeangroßen Schuld klar kommt. Niemand, der sich der deutschen Vergangenheit stellt, bleibt davon unverändert. Wohl jeder von uns hat hier sein Schlüsselerlebniss. Paula Bloom kennt sechs Millionen Gründe, Deutschland zu hassen. Und ebenso viele, sich selbst zu verachten, heißt es im Roman. „Eines Tages, wer weiß“, so hofft der Frankfurter Wirt Elias, „werde ich vielleicht einem Deutschen die Hand geben können, ohne zu frieren.“
Durch Paulas Augen sehen wir auf ein erkaltetes, zur Trauer unfähiges, der Menschlichkeit fast beraubtes Land. Sie sehnt sich danach, „von diesem Gestade fortzusegeln, eine Argonautin auf dem Ozean des großen Vergessens“. Ohne Antworten aber kann sie nicht gehen. „Was hat Deutschland Ihnen angetan, dass Sie sich so mit der Frage quälen, ob Sie je verzeihen können?“, wird sie einmal gefragt.
Und sie, sie fragt sich, wieder und wieder: „Welche Strafe wäre annehmbar für die Gruben in den Wäldern, die Teiche voll Asche, für die Gnadenlosigkeit, die Niedertracht, das Wegschauen, die Begeisterung über die Auslöschung eines Volkes? Wenn jedoch keine Strafe groß genug wäre und es gar nichts gäbe, das Genugtuung brächte, kein Galgen, kein Verlust, keine Not, keine Erniedrigung, keine bitteren Tränen und keine falschen, dann war es vielleicht an der Zeit, nicht mehr zu hassen.“
Ungeheuer, unvergesslich der Satz: „Ihre Asche ist mein Atem.“
Keine Leserin, kein Leser, auch heute, kann sich dem entziehen. Es sei denn, man will so etwas eigentlich nicht als Roman sehen – die Satten und Selbstgefälligen und Bornierten erkenne ich daran, wie sie die Erfahrung mit diesem Buch abwehren oder verkleinern. Wie sie 450 Seiten enorm aufwendig recherchierte und kondensierte Abrechnung mit unserer Vergangenheit zur Petitesse machen, das zum Beispiel dagegen verrechnen, dass die Protagonistin nun auch noch Graham Greene kannte. Oder es angeblich ein paar Namen im Buch zu viel sind.
„Jenen Boden zu berühren könnte eine Heimkehr sein“, heißt es in dem als Motto vorangestellten Gedicht – Andreas Pflüger schreibt so etwas für jedes seiner Bücher, noch bevor er loslegt, um sich den poetischen Grund zu legen. Aber natürlich wird es keine Heimkehr, kein Fernsehabend (siehe oben), sondern eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit dem, was man liebt und liebte oder lieben will – sei es Deutschland, seien es die Eltern und Großeltern –, mit der Vergangenheit und dem, was sie uns aus allen macht. Mit dem, wie man in einem Land, in dem vor nicht einmal 80 Jahren die Barbarei wütete, weiterleben kann und muss.
„Keine, die so ging wie ich, kommt einfach so zurück“, schließt das Gedicht:
In den dunklen Raubtierstunden war es Trost, fast Glück
Zu wissen, was mich gehen ließ aus jenem kalten Land
Als könnt ich dereinst wiederkehr’n, weil ich all dies verstand
Doch keine, die so ging wie ich, kommt einfach so zurück
Wie geht das: verzeihen? – heißt es einmal in diesem großen, wichtigen, unvergesslichen Buch.
Alf Mayer
Andreas Pflüger: Ritchie Girl. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 464 Seiten, 24 Euro.
Lesehinweis: Siehe auch Andreas Pflüger: Ich habe mein Leben lang diesen Roman in mir gehabt und es nicht gewusst – auf seiner Website andreaspflüger.de
Der Historiker Bodo V. Hechelhammer zum Buch
Pflüger über das schnelle Verdrängen nach Kriegsende: Kuh vadis, Adolf?
PS. Das Unwort „Befreiung“: Deutlichen Furor entwickelt der Roman, wenn von der „Befreiung“ der Deutschen die Rede ist. Der Keim zu dieser Verharmlosung wurde damals, schon gleich nach dem Krieg gelegt – unter anderem In Königstein, knapp zehn Kilometer von Oberursel entfernt. Wehrmachtshistoriker um den ehemaligen Generalstabschef Franz Halder arbeiteten dort für die kriegsgeschichtliche Forschungsgruppe der United States Army in der „History Section“ – und etablierten nebenbei die Legende von der „sauberen Wehrmacht“. So wurde denn dann, 40 Jahre nach Kriegsende, die Rede von Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 als offiziöse Erlösung von Schuldvorwürfen empfunden. Originalton: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Papst Benedikt XVI., der zum Ende des Krieges in der deutschen Armee gedient hatte, äußerte noch im Mai 2006 bei seinem Besuch in Auschwitz, eine „Schar von Verbrechern“ habe das deutsche Volk „missbraucht“. Die einzige Schuld seiner Landsleute sei es gewesen, „die nationalsozialistische Partei an die Macht gelangen zu lassen“.
In Ritchie Girl heißt es dazu: „Befreiung. Das ist vielleicht die schlimmste Lüge. Als ob die Nazis gar keine Deutschen gewesen wären, sondern fremde Eroberer, die den deutschen Namen missbraucht hätten.“

PPS. Kadavergehorsam, buchstäblich: Am letzten Gerichtstag in Nürnberg fragt Paula sich, „ob die elf Männer jetzt wussten, dass es so weit war, ob sie in Gedanken bei ihren Familien weilten oder ihr Leben noch einmal vorbeiziehen ließen und immer an derselben Stelle hängenblieben, dem Moment, an dem sie Hitler in die Augen gesehen und sich für ihn entschieden hatten“.
Karl Anders, der ebenfalls in Ritchie Girl einen Platz hat, schrieb dazu während des Prozesses:
„Man hat Höß im Gerichtssaal gefragt, wie er es mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, wehrlose Menschen umzubringen. „Ich gehorchte dem Befehl des Führers und tat es aus Liebe zu Deutschland“, antwortete er. Man hat diese Worte oft in Nürnberg gehört. Von Generälen und von Konzentrationslager-Kommandanten. Ich habe mich immer wieder gefragt, wo zieht der Ehrbegriff eines „Patrioten“ die Grenze zwischen Gasöfen und Geiselerschießungen, zwischen dem „Kommandobefehl“ und der Ausrottung einer ganzen Rasse? Erklärt wurde alles mit der Liebe zum Vaterland und dem Befehlsgehorsam. Aus der Skala der moralischen Werte herausgebrochen, verselbständigt und überdimensioniert, wurde die Tugend des Gehorsams zum Laster. Ohne Mitleid und menschliche Anständigkeit funktionierten Automaten… Vaterlandsliebe und Gehorsam wurden zum Vorwand, zum Betäubungsmittel für das eigene schlechte Gewissen.“ (Zu Karl Anders bei uns hier.)
PPPS. Utopie: Und dann gibt es noch Erich Kästner, der während des Prozesses für die Neue Zürcher schrieb:
„Dienstag morgen: Das Nürnberger Justizgebäude ist in weitem Umkreis von amerikanischer Militärpolizei abgesperrt. Nur die Menschen, Auto s und Autobusse mit Spezialausweisen dürfen passieren. Vorm Portal erneute Kontrolle. Neben den Stufen des Gebäudes zwei Posten mit aufgepflanztem Bajonett. Aus den Autobussen und Autos quellen Uniformen. Russen, Amerikaner, Franzosen, Engländer, Tschechoslowaken, Polen, Kanadier, Norweger, Belgier, Holländer, Dänen. Frauen in Uniformen. Die Russinnen mit breiten, goldgestreiften Achselstücken, Journalisten, Photographen, Staatsanwälte, Rundfunkreporter, Sekretärinnen, Dolmetscher, Marineoffiziere mit Aktenmappen, weißhaarige Herren mit Baskenmützen der englischen Armee und kleinen Schreibmaschinen, deutsche Rechtsanwälte mit Köfferchen, in den sie die schwarzen Talare und die weißen Binder tragen…
Im Erdgeschoß ist scharfe Kontrolle. Im ersten Stock ist scharfe Kontrolle. Im zweiten Stock ist zweimal scharfe Kontrolle. Mancher wird, trotz Uniform und Ausweisen, zurückgeschickt. Endlich stehe ich in dem Saal, in dem der Prozeß stattfinden wird. In dem einmal, Jahrhunderte später, irgendein alter, von einer staunenden Touristenschar umgebener Mann gelangweilt herunterleiern wird: „Und jetzt befinden Sie sich in dem historischen Saal, in dem am 20. November 1945 der erste Prozeß gegen Kriegsverbrecher eröffnet wurde. An der rechten Längsseite des Saales saßen, vor den Fahnen Amerikas, Englands, der Sowjetrepublik und Frankreichs, die Richter der vier Länder. Der hohe Podest ist noch der gleiche wie damals. An der gegenüberliegenden Wand, meine Herrschaften, saßen die 20 Angeklagten. In zwei Zehnerreihen hintereinander. Hinter ihnen standen acht Polizisten der ISD, in weißen Stahlhelmen. „Stahlhelm“ wurde im 20. Jahrhundert eine Kopfbedeckung genannt, in den man in den als ‚Krieg‘ bezeichneten Kämpfen zwischen den verschiedensten Völkern zu tragen pflegte. Links neben mir können Sie, unter dem Glassturz auf dem kleinen Tisch, einen solchen Stahlhelm besichtigen. Vor der Estrade der Angeklagten, welche noch immer die gleiche wie im Jahre 1945 ist, saßen etwa 20 Rechtsanwälte. An der vor uns liegenden Schmalseite des holzgetäfelten Raumes saßen die Anklagevertreter der Vereinten Nationen. Wo Sie, meine Damen und Herren, jetzt stehen, befanden sich damals die Pressevertreter der größten Zeitungen und Zeitschriften, Agenturen und Rundfunksender der Welt. 400 Männer und Frauen, deren Aufgabe es war….“
Ja, so ähnlich wird der alte Mann dann reden. Hoffentlich. Und die Touristen der ganzen Welt werden ihm zuhören und den Kopf schütteln, dass es einmal etwas gab, daß „Krieg“ genannt wurde.“