Leider verpasst, der Corona-Einschränkungen wegen, habe ich meinen geplanten Ausflug ins Schlossmuseum Linz. Anlässlich des 450. Geburtstages von Johannes Kepler hatte Gottfried Hattinger dort eine gewaltige Sammlung zur Kultur- und Kunstgeschichte der Apparate zusammengetragen. „Weltmaschine“ hieß die Ausstellung (bis 13.03.22), die ich mir dann im Sessel in dem 630-seitigen Maschinenbuch (Scheidegger & Spiess) angeschaut habe. Tatsächlich Eine Sammlung zur Kultur- und Kunstgeschichte der Apparate, reich illustriert, faszinierend, ein Standardwerk.
Dasselbe ist mir dann mit Train Zug Treno Tren. Voyages imaginaires noch einmal passiert. Mit der Ausstellung in gleich drei benachbarten Museen gleichzeitig eröffnete das neue Museumsquartier Plateforme 10 in Lausanne (18.06. – 25.09.2022). Der originelle, dreibändige Katalog über die Eisenbahn als Inspiration großer Kunst und augenzwinkernder Hommagen ist ebenfalls bei Scheidegger & Spiess erschienen und hat unter anderem einen üppig illustrierten Beitrag zum „roman de gare“, bei uns als Groschenroman bekannt. In den Bahnhofsbuchhandlungen präsent sein wollte 1948 ff. immer auch schon Karl Anders mit seinen Erstübersetzungen von Hammett und Chandler.
Die Retro-Welle rollt, James Bond-Darsteller Daniel Craig verdient sich mit „Knives Out“-Schund goldene Hosenträger und die Seuche schwappt bis in den „Tatort“ hinein. Meine Güte: Krimidinner-Mummenschanz aus München mit Batic und Leitmayr bei „Mord unter Mispeln“, allen Ernstes, jetzt am 2. Weihnachtsfeiertag, und das ganze Jahr über Cozy & Candy & Vorvorgestern palettenweise auf die Buchauslagen gekippt. Rühmliche Ausnahme: Dorothy B. Hughes mit Ein einsamer Ort (In a Lonely Place, 1947, Textauszug bei uns hier; Sonja Hartl dazu hier) als Hardcover bei Atrium, 1999 im Unionsverlag, jetzt sogar mit einem Nachwort von Megan Abbott – von der gibt es Ende Januar Premiere bei Frank Nowatzkis Pulp Master mit Aus der Balance. Wenige Hähne krähten – oder war es sogar gar keiner? – für die Chandler-Neuübersetzung bei Diogenes von Das hohe Fenster (26.10. 2022, Ü: Ulrich Blumenbach) sowie ebenfalls dort für Ross MacDonalds Dornröschen und Der Untergrundmann (beide am 26.01.22, beide neu übersetzt von Karsten Singelmann).
Orson Welles wollte einst den Roman Fully Dressed and in His Right Mind (1935) von Michael Fessier verfilmen, Stark House Press hat den magisch-realistischen Noir-Pulp von 1935 nun wieder aufgelegt. Starkes Stück, in der Tat. Stephen G. Eoannou hat sich für seinen Debütroman Rook die Bankräuber-Legende Al Nussbaum vorgenommen, der wie er aus Buffalo, New York, stammt. In den 1960er stand Nussbaum auf der „Ten Most Wanted“-Liste des FBI, kam mit dem hardboiled-Autor Dan J. Marlowe in Kontakt und wurde unter dessen Fittichen selbst zum Schriftsteller. Aus der Zelle heraus interviewte er sogar Donald Westlake, der als Richard Stark dann die Parker-Romane begann. Diese Aktion mit dem Titel „An Inside Look at Donald Westlake, by Albert Nussbaum, 81332-132“ ist im von Jerry Stahl herausgegeben Sammelband The Getaway Car. A Donald Westlake Nonfiction Miscellany (University of Chicago Press, 2014 – meine Besprechung hier) enthalten, ein Band, der mir zuverlässig immer wieder Spaß macht. Dan. J. Marlowes Biographie von Charles Kelly übrigens trägt den wunderbaren Titel Gunshots in Another Room und hält, was das verspricht.
Die Pulp-Writer-Zeiten lebten 2022 auch wieder auf in One-Shot Harry von Gary Phillips und in Paperback Jack von Loren D. Estleman. So lasse ich mir Retro gefallen. Jerome Charyn übrigens hat sich im Herbst mit Big Red gemeldet, einem von einer lesbischen Klatschkolumnistin erzählten Roman über die Hollywood-Göttin Rita Hayworth, damals mit Orson Welles verheiratet, was diesen Abschnitt mit einer Kreisblende schließt.
Zwischendurch – denn wenn dystopisch, dann bitte von Fachleuten – unternahm ich dieses Jahr Ausflüge in die Science Fiction, war schwer beeindruckt, etwa von Dimtry Glukhovskys Geschichten aus der Heimat (bei uns von Christopher Werth besprochen), in Russland verboten. Sich für die Kriminalliteratur vorzustellen, worauf ich beim weiteren Stöbern traf, wäre die pure Utopie: zwei Bände, 606 und 650 Seiten, einmal 26 und einmal 29 Kurzgeschichten, nicht aus USA oder UK, sondern aus Bahrain, Bangladesh, Barbados, Bolivien, Brasilien, China, Griechenland, Grenada, Indien, Irak, Italien, Jamaica, Japan, Korea, Malaysia, Mexiko, Nigeria, Pakistan, den Philippinen, Polen, Russland, Singapur, Tschechien, Uganda und Zimbabwe. 25 Länder, nichts Altbackenes dabei, kein Retro, sondern „state of the art“, ein Genre quicklebendig, mutig, frech und klug – The Best of World SF, Band I und II, herausgegeben von Lavie Tidhar.
Der ist ein bei uns bisher nicht so recht bekannter Autor. Sein letztes hierzulande veröffentlichtes Werk war Osama (Kein & Aber, 2013), in dem ein Privatdetektiv nach dem Autor einer Pulp-Reihe sucht, in der sich komplett fiktive bizarre Terrortaten ereignen wie Bomben in der Londoner U-Bahn oder Flugzeuge ins World Trade Center … Viele der rund ein Dutzend Bücher von Lavie Tidhar durchbrechen die Genres, schäumen von Phantasie, setzen ihn zwischen die Stühle. Jetzt aber hat er mit Maror sozusagen einen Staats-Noir geschrieben: der Gründungsmythos Israels neu verhandelt, so etwas wie dessen Subgeschichte – „a true story, alles davon wahr“ – episch über vier Jahrzehnte erzählt. Eine Vorbesprechung von mir hier. Thomas Wörtche wird den Roman in seiner Reihe bei Suhrkamp herausbringen. Überhaupt wäre hier gleich mehrfach zu feiern: in 2022 erschien dort der 50. Band in seiner Herausgeberschaft und jetzt beim Deutschen Krimi-Preis, bei der Jahres-Krimibestenliste und bei unseren CrimeMag Top Ten sind gleich drei von ihm betreute Titel preisgekrönt. Kein anderer Verlag tut so viel und so viel im besten Sinn Diverses für die Kriminalliteratur.
Da muss und darf man auch mal unter Freunden BRAVO! rufen.
Thomas Wörtches guter Hand & Näschen verdanken wir (alleine) dieses Jahr Erlebnisse wie die Senkrechtstarterin Sybille Ruge mit Davenport 160 x 90, Johannes Groschupf mit Die Stunde der Hyänen(versäumen Sie dazu nicht sein Tagebuch, hier in unserem Jahresrückblick), Marie Kutkoski mit Real Easy, Jonathan Moore mit Poison Artist, die furiose Louisa Luna mit Tote ohne Namen (just wait für Hideout, boahhh!), Jacob Ross und Die Knochenleser oder Die tausend Verbrechen des Ming Tsu von Tom Lin.
Der wiederum brachte mich dazu, mir nun endlich die Criterion-Kassette von „Lone Wolf and Cub“ zu besorgen, 2K-restauriert, bestens ausgestattet und editiert. Steht nun neben der Luxusausgabe von „Zaitochi – The Blind Swordsman“ und gehört dort auch hin. Die chanbara-Filme vom Veteranen Kenji Misumi, der auch beim Auftakt der langjährigen „Zatoichi“-Serie Regie führte und bei „Hanzo the Razor: Sword of Justice“ , beruhen auf der Manga-Serie von Goseki Kojima und Kazuo Koike – gigantische26 Bände mit fast 200 Einzelepisoden. Koike schuf auch „Crying Freeman“, „Lady Snowblood“ und „Samurai Executioner“.
Dem zum Auftragskiller gewordenen arbeitslosen Samurai, der im Japan des 17. Jahrhunderts mit seinem kleinen Sohn durch die Lande zieht, bin ich zuletzt 2022 in der BBC/Amazon-Serie „The English“ begegnet. Chaske Spencer, manchen vielleicht aus „Banshee“ bekannt, gab dort als frisch entlassener Pawnee-US-Army-Scout eine überaus interessante Figur; leider war das Drehbuch diesem Potential nicht gewachsen, blieb flach, und das Baby im herrenlosen Planwagen liegen.
Auch da tut es, oh heilige Zeitmaschine, gut zum Wagemut anno 1972 zurück zu schauen. Die Toho-Studios brachten vor 50 Jahren innerhalb weniger Monate nicht nur „Lone Wolf and Cub. Sword of Vengeance“ heraus, sondern auch die blutspritzenden Sequels „Baby Cart at the River Styx“, „Baby Cart to Hades“ und „Baby Cart in Peril“, 1973 gefolgt von „Baby Cart in the Land of Demons“ und 1974 von „White Heaven In Hell“ als Abschluss der Serie. Achtung: Die hiesige Pidax-Edition versammelt die Fernsehserie „Der Samurai mit dem Kind“, die es auf drei Staffeln und 78 Folgen brachte, wegen ihrer Bravheit aber schnell den Hauptdarsteller Tomisaburo Wakayama verlor.
Der wandernde Krieger mit dem Kinderwagen (bei Django dann auch mal ein hinterher gezogener Sarg) ist ebenso tief in der Samurai-Tradition wie im exploitation cinema der 1970er verwurzelt. Die Titelmusik mit der rauhen E-Gitarre erinnert an Spagetti-Western, die visuelle Grenzüberschreitung der Filme jedoch, die balletthafte und hemmungslose Action, brach eigenen neuen Grund. Wer wissen will, wo sich Tarantino für „Kill Bill“ bediente, findet hier. Und auch John Woos wüste Schießerei auf der Babystation in „Hard Boiled“ (1992) mit Chow Yun Fat und einem Baby auf seinem Arm ist nur noch halb so wild nach diesem Ausflug. Aktuell zieht der „Star Wars“-Ableger „The Mandalorian“ Honig daraus, von den „Die Hard“- und „Taken“-Filmen oder „The Punisher“ und der neuen, unrasierten spanisch-französischen Undercover-Cop-Filmarmada bei Netflix zu schweigen. (Trotz guter Stunts und viel Körperlichkeit leider fürchterlich austauschbare Geschichten ohne Tiefgang, Drei-Tage-Bart-Popkorn.)
Mein Kinofilm des Jahres war der elegante „The Card Counter“ von Paul Schrader. Der war vor 45 Jahren Drehbuchautor von Scorseses „Taxi Driver“, spiegelt nun den Kriegsveteranen Travis Bickle ins Heute, Abu Graib inklusive, Oscar Isaac ein überaus würdiger Nachfolger von De Niro. Zu meiner Besprechung geht es hier. Noch ein Höhepunkt, dem Streaming bei Disney+ entrissen und bei uns vor Ort ins Kino geholt: „Summer of Soul“, ein Konzertfilm aus exakt den gleichen Tagen wie Woodstock, alle Künstler aber schwarz. Das Material wurde nie gesendet, lag ungenutzt in einem Keller, deshalb der Untertitel „…Or, When the Revolution Could Not Be Televised“. Der Schlagzeuger und Hip-Hop-Produzent Questlove montierte daraus eine hinreißende Geschichtsstunde von Black Power & Black Music. Oscar 2022 als Bester Dokumentarfilm, aber irgendwo im Streaming-Universum verschollen.
Ebenfalls suchen muss man nach dem nervenzerfetzenden „Hold Your Fire“ von Stefan Forbes, der einen Bankraub im Januar 1973 in Brooklyn, New York, als Geburtsstunde moderner Geiselverhandlungen nimmt. Natürlich lässt das auch an Sidney Lumets „Dog Day Afternoon“ von 1975 denken. Den hatte sich Johannes Groschupf gewünscht, als er zur Buchmesse 2021 in Bad Soden im Kino CasaBlanca aus „Berlin Heat“ las. Echos von Truffauts „Jules und Jim“ und der nouvelle vague tanzen durch „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ (Les Olympiades) von Jacques Audiard, dem hier 70-jährig mit jungen Drehbuchautoren und Darsteller/innen eine unerhört frischer und schöner Schwarzweiß-Film gelingt. Bei uns heißen solche Filme „Wunderschön“ oder „Küss mich, Frosch“, sind von Caroline Herfurth, komplett degeto-tauglich und eine Verlängerung der Vorabendserien. Mit Kino und was man hier eigentlich darf hat das nichts zu tun.
Eines der seltsamsten Filmbücher des Herbstes war Predator von Ander Monson (Graywolf Press). Einstellung für Einstellung des Schwarzenegger-Films von 1987 wird hier ebenso dekonstruiert wie die biografischen Erinnerungen des Autors. Solch eine Kulturgeschichte habe ich noch nicht gelesen. Charles Elton legte die erste Biografie eines umstrittenen, aber zweifellos meisterhaften Filmregisseurs vor: Cimino. The Deer Hunter, Heaven’s Gate and the Price of a Vison. Bisher gab es nur die Version von Steven Bach, seinerzeit Vizepräsident von United Artits, der in Final Cut. Dreams and Disaster in the Making of Heaven’s Gate (1985) aus Geldverwalters-Sicht ungeschminkt beschrieb, wie ein Kreativer einen ganzen Filmkonzern zerlegte. Eines jener Bücher, in dem einem die Spucke wegbleibt; ich war also zumindest einseitig vorinformiert, was Cimino anging. War trotzdem spannend. Den (Film-) Kulturtransfer von Ost nach West in Sachen Martial Arts-Kino untersucht Luke White in Fight Without Fighting. Kung Fu Cinema’s Journey to the West (Reaktion Books).
100 Jahre alt wäre Pasolini im März 22 geworden. Das fetteste Geburtstagsgeschenk kam aus einem Mini-Verlag, der Galerie der Abseitigen Künste: Pasolini Bachmann. 584 Seiten Kommentar und 262 Seiten Gespräche aus den Jahren 1963-1975 mit dem Filmjournalisten Gideon Bachmann, erstaunliche Zeitdokumente, ich war elektrisiert. Dies auch von den Memoiren Life’s Work des großen David Milch, der „Hill Street Blues“ und dann „NYPD Blue“ und „Deadwood“ entwickelte und damit Fernsehgeschichte schrieb. Einer „meiner“ Toten des Jahres – zu viele davon, zuletzt am 26.12. mein Freund Franz Kluge, der schon in den frühen 1980ern Filme am Computer rechnen ließ – war der große Mike Davis (ein Nachruf auf ihn bei uns hier). Zusammen mit Jon Wiener hat er sich in seinem letzten Buch Set the Night on Fire mit „L.A. in the Sixties“ beschäftigt: eine Sozialgeschichte der linken Bewegungen und der Subkulturen mit Blick auf die oft vergessenen afrikanischen, mexikanischen und asiatischen Anteile. 790 Seiten Geschichte von unten mit den „Doors“ als Begleitband, ein wildes, breites Wandgemälde.
Um Geschichte ganz oben, über den Wolken, geht es in The Great Stewardess Rebellion. How Women Launched a Workplace Revolution at 30,000 Feet (Doubleday, NY). Nell McShane Wulfhart erzählt von Revolution und Emanzipation an einem extrem sexistischen Arbeitsplatz in den 1960ern. Julia Cooke, die Autorin des komplementären Come Fly the World. The Jet-Age Story of the Women of Pan Am (Houghton Mifflin) kommt selbst aus einer Stewardessen-Familie. Beide Bücher kredenzen eine so noch nicht erzählte Form des Feminismus. Erhellend und erhebend. Das gilt auch für all den Spirit und die Energie in Fight Like Hell. The Untold History of American Labor (Simon & Schuster), recherchiert von Kim Kelly. So informiert und wunderbar scharf im Detail habe ich über die amerikanische Arbeiterbewegung und ihre Geschichte noch nicht gelesen.
Ebenfalls retrospektiv, aber mit analytischem Gewinn, blickt der Militärhistoriker Gregory A. Daddis auf Pulp Vietnam. War and Gender in Cold War Men’s Adventure Magazines (Cambridge University Press). In einer Gesellschaft, die weltweit klar wieder kriegerischer wird – diese ekligen Siegesposen bei der Fußball-WM, kotz! –, lohnt es sich, die subkutanen Bildfabriken aufzusuchen. Dies leistet auch W. Scott Poole mit Dark Carnivals. Modern Horror and the Origins of American Empire (Counterpoint), der schon in Wasteland: The Great War and the Origins of Modern Horror (ebenfalls Counterpoint) den Zusammenhang von 1. Weltkrieg und Horror-Genre besichtigt hat.
Jahrhunderte von dunklen Gute-Nacht-Geschichten, die wir unseren Kindern erzählen, durchforstete die australische Autorin Chloe Hooper, um der familiären Sprachlosigkeit zu begegnen, die mit der Krebskrankheit ihres Mannes einherging. Wie kann sie mit ihrem Ältesten „über das wirklich Dunkle reden“? Sie sucht dabei nicht nur nach Sprache, sie will auch selbst lernen, weniger erschrocken, hilflos und furchtsam zu sein. Davon erzählt sie mit dem forensischen Auge einer zweifachen Sachbuch- und dem Herz einer zweifachen Romanautorin und löwenhaften Mutter. Ich habe diese Autorin immer schon bewundert (mein Porträt anlässlich „Der große Mann“ hier: Reise in das finstere Herz eines Landes), mit Bedtime Story (Simon & Schuster Australia), illustriert von Anna Walker, hat sie sich selbst übertroffen.
Ebenfalls illustriert (von Alice Leora Briggs) ist das folioformatige Abecedario de Juárez. An Illustrated Lexicon, verlegt von der University of Texas Press, eine beeindruckende Fortführung des Werks von Julián Cardona, Fotojournalist in Juárez, und von Charles Bowden, der die gefährlichste und tödlichste Stadt der Welt mehrfach porträtiert hat. Meine Besprechung, damals 2011 mein Einstand bei CulturMag, von Murder City hier.
Sonderedition der Jahres: Die Oper „Die Tödliche Doris“ von Wolfgang Müller & Nikolaus Utermöhlen, Westberlin 1987, als Dokumentation im Hybriden Verlag von Hartmut Andryczuk. Weitere Bücherfreuden in diesem Jahr: Das Lied des Nebelhorns. Eine Klang- und Kulturgeschichte von Jennifer Lucy Allan (mare, Ü: Rudolf Mast). Die erste vollständige deutsche Ausgabe von Erna Pinners Curious Creatures im Weidle Verlag, mit 152 Illustrationen der Autorin und einem sehr informativen Nachwort von Barbara Weidle, Joachim Kalka mit Schatten und Schnee (Berenberg). 920 Seiten mit 101 Short Stories der Weiblichen Moderne aus 25 Weltsprachen, die Sandra Kegel in Prosaische Passionen (Manesse) versammelt hat, die erste globale Prosasammlung von Frauen um 1900.
Freude auch an Sara Gran mit The Book of the Most Precious Substance (bald bei Suhrkamp), Jess Walter mit den Shortstories The Angel of Rome, nach sage und schreibe 30 Jahren die Rückkehr des Privatdetektivs Tony Casella in The Deal Goes Down von Larry Beinhart, endlich wieder Anti-Held Nick Belsey von Oliver Harris, jetzt in Mexico City mit A Season in Exile, zudem dessen Spion Elliot Kane wieder aufgetaucht in/ auf Ascension. Unglaublich produktiv ist der Brite David Mark, der schon länger bei uns nicht mehr übersetzt wird, 2022 mit Blind Justice aber bereits den zehnten Band mit Sergeant Aector McAvoy vorgelegt hat – eine der besten Polizeiserien überhaupt. Boston Teran legt mit Crippled Jack einen Rache-Western vor, Jonathan Woods mit Hog Wild eine crazy Sniper-Texas-Animal-Farm-Extravaganza. Die große Vicky Hendricks („Miami Purity“) beehrte das Buch mit dem Blurb: „Men are pigs and pigs are men in the rambunctiously clever romp of a novel… dystopian pulp-noir to smack your lips over.“
Was mich zu einer weiteren Animal-action der anderen Art bringt: They Shouldn’t Have Killed His Dog. The Complete Uncensored Ass-Kicking Oral History of John Wick, Gun-Fu and The New Age of Action von Edward Gross und Mark A. Altman (Macmillan) blickt supervergnüglich hinter die Kulissen des Franchises für diese Action-Marke. Für „John Wick 4“ gibt es bereits Trailer, mit „The Continental“ ein Spin-off, vielleicht noch eines mit Ana de Armas und „Ballerina“ – und Quentin Tarantino schreibt jetzt Filmbücher. Sein erstes, Cinema Speculation (deutsch bei Kiepenheuer & Witsch), ließen Joachim Feldmann und ich gegen Hollywood. The Oral History antreten, für mich das vielleicht beste Filmbuch, dem ich je begegnet bin (Besprechungen bei uns hier zu finden), außerdem sind Filmbücher eine so seltene Art geworden, dass wir sie künftig bei uns öfter vorstellen.
Eine erste Sammelbesprechung hier – Augenmerk empfehle ich für den Dokumentarfilmband, den die Bundeszentrale für politische Bildung für 7 Euro anbietet. Unfassbar. Beachten Sie auch unsere gelegentlichen „Tafelfreuden. Kulinarische Bücher“, erste Ausgabe jetzt eben im Dezember 2022. Daraus die Eilmeldung: Der Slow Food Genussführer 2023/24 ist erschienen und amortisiert sich ziemlich sicher schon beim ersten daraus erfolgten Restaurantbesuch.
Schöne Treffen hatte ich mit Max Annas, Andreas Pflüger, Stephen Greenall, Sybille Ruge. Candice Fox schrieb mir öfter von ihrer klugen dreijährigen Tochter und verriet, dass sie auf The Chase (dt. 606, Thomas-Wörtche-Edition bei Suhrkamp) als ihr bisher komplexestes Werk stolz sei. Mit Garry Disher hatte ich einige Tage und eine Lesung im Literaturhaus Frankfurt, ein formidables Steinpilz-Dinner (was für ein Pilz-Jahr!) inklusive, und konnte mich darüber austauschen, wie es ist, wenn lange nach ihm gekommene „country noir“-Autoren ihm nun Blurbs schreiben. In NRW gab es bei der Tagung „Ästhetik des Kriminalromans“ ein ganzes Wasserschloss voller Krimiautoren. Dabei auch Ivy Pochoda (Visitation Street, Wonder Valley, Diese Frauen), von der wir in USA im Mai 2023 den vogelwilden Western Sing Her Down erwarten können. Als ich von einer aktuellen queeren Fassung der Illias der Autorin Maya Deane erzählte und den Titel Wrath Goodess Sing erwähnte, schrie sie auf: Holy shit! Das ist mein Tattoo! Das hab ich auf dem Arm! Rollte zum Beweis den Ärmel hoch.
Tatsächlich also: 2022 traf ich eine supergute und höchst lebendige Autorin von Kriminalliteratur, die auf ihrer Haut die ersten Worte von Homers „Ilias“ eingestochen trägt: „Singe den Zorn, o Göttin“ – Mẹ̄nin aeịde, theạ. Da kommt kein Retro-Krimi mit. Gar keiner.
Und ansonsten, 2022 in die Tonne, und mit Issac Hayes „Do Your Thing“ (uncut: 19:32 Min) gesummt, 1972 auf Vinyl gepresst, frisch wie eh und je:
If the music make you move
‚Cause you can dig the groove
Then groove on
Groove on …
PS. Nun habe ich noch gar nichts zu zwei Mammut-Unternehmen gesagt, die mich im neuen Jahr gewiss beschäftigen werden. Drei Bände im Schuber umfasst die von Peter Graf und Ulrich Faure herausgegebene Anthologie Exil! Literarische Wortmeldungen aus deutschsprachigen Zeitschriften 1933-1950 (wbg Theiss). Glossen, Anekdoten und Reportagen aus deutschsprachigen Exil-Zeitschriften, eine gewaltige Schatzkammer, 1360 Seiten, darunter Autoren und Autorinnen wie Anna Seghers, Thomas Mann, Heinrich Mann oder Roda Roda.
Und dann ist da noch die TV-Serie Yellowstone, nicht nur interessant, weil sie in den USA alle Rekorde bricht und ein gespaltenes Land vor den Bildschirm bringt. Inzwischen in der 5. Staffel, mit zwei Prequels („1883“ und „1923“) in der Warteschleife und weiteren Spin-offs schon am Werden, wird hier nichts weniger als die gewalttätige Besiedlung Amerikas, der Landraub an den Indianern und der dünne Firnis zivilisatorischer Kompromisse dekliniert, dies im Zeitalter der Hedgefonds – all dies ureigen, nämlich mittels des einzigen amerikanischen Genres erzählt: als Western.
Bildmächtig, kinobreit, episch, szenisch, aber eben auch mit Soap-Elementen von „Dallas“, „Die Sopranos“, „Succession“, „The Crown“. Mittendrin Cowboy-Sein und Stadt & Land-Gegensätze von heute. Es geht um Familie und Schicksal, um das, was man den nächsten Generationen weitergibt, weitergeben will – und nicht mehr kann. Das ist konservativ, aber auch multi-ethnisch und subversiv, nimmt die Perspektive unterschiedlichster Klassen ein. Für mich so etwas wie Edgar Reitzens „Heimat“ im XXL-Format, von einem Ort aus, archimedisch, die Geschichte eines Landes samt seiner Mythen durchmessen.
Taylor Sheridan, dem wir „Sicario 2“ oder „Wind River“ verdanken, erzählt auf den Punkt, ist lakonisch, witzig, scharf, brutal, hat geschliffene Dialoge. Für mich ist er die Reinkarnation von Howard Hawks, falls der Serien gemacht hätte. „Sie nennen es Fernsehen“, brummte kürzlich der 80jährige Harrison Ford, mit dem die Crew bei minus 10 Grad wochenlang outdoor in Montana für „1923“ drehte, „aber es sind zehn Stunden Kino, was die machen.“ – Diese Serie atmet ganz groß. Unter weitem Himmel. Und es gibt Schauspieler und Figuren zum Niederknien. Schauen Sie einfach die im Netz kursierenden Clips und Trailer, es lohnt.
- Alf Mayer ist Co-Herausgeber und CvD von CrimeMag, CulturMag oder wie immer Sie uns nennen wollen. Eisernes Ziel, seit Jahren durchgehalten: immer zum Ersten des Monats ein neues Magazin. In 2022 hatte das jeweils 35 bis 40 Beiträge. – Mit Frank Göhre hat er je ein Buch über Ed McBain und Elmore Leonard gemacht, hat die vier Crissa-Stone-Romane von Wallace Stroby übersetzt (bei Pendragon), bei Polar Young God von Katherine Faw und Flucht von Benjamin Whitmer. Im Frankfurter „strandgut“ schreibt er seit 1984 eine Krimikolumne. – Seine Texte bei uns hier.