Geschrieben am 14. April 2018 von für Musikmag

Untypical Girls

 

a_untypical„Sorry chaps!“, schreibt Sam Knee im Vorwort zu „Untypical Girls“, „ich habe leider kein Foto für euch“ – okay, nicht im selben Wortlaut wie Heidi Klum, aber tatsächlich gibt der Londoner Fotograf zu, dass er aus manchen Bildern männliche Musiker und Freunde herausretuschiert hat. Warum das? Sam Knee, Autor und Fotograf von großartigen, selbstredend bildlastigen Büchern über Pop wie „The Bag I’m In“, wollte den oftmals sträflich übersehenen und übergangenen MusikerINNEN der Transatlantic Indie Revolution, wie Knee die (punk-/postpunk-)musikalische Ära zwischen 1977 – 93 nennt, ein Denkmal setzen. Manchmal stören Männer eben, wenn Frauen tolle Sachen machen – Sam Knee selbst mal ausgenommen, schließlich gäbe es ohne ihn dieses Buch ja nicht.
Knee unterteilt „Untypical Girls“ in sechs Kapitel, beginnend mit Punk in England („Fairytale in the Supermarket“), endend mit den Riot Grrrls in den USA („Revolution Girl Style Now“), jeweils mit ausführlichen Interviews mit Musikerinnen wie beispielsweise Julie Cafritz, Gitarristin von Pussy Galore oder Gina Davidson von den Marine Girls (Tracey Thorns erster Band).
a_knee_lunchFür Knee ist 1993 die Luft aus der Indie Revolution raus. Viele Bands hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelöst oder waren zu Major Labels gegangen, Stile beginnen zu verwässern, aufrührerische Haltungen verblassen – das kann man natürlich anders sehen. Knees Buch bekommt durch die zeitliche Einschränkung jedoch einen klar definierten Rahmen, lässt den Protagonistinnen, die oftmals Pionierinnen und ja, Revolutionärinnen waren, den nötigen Raum. Knee präsentiert nicht nur Fotos, die er selbst auf Konzerten gemacht hat, jahrelang sammelte er Bilder zum Thema, die außer den Musikerinnen auch viele „namenlose“ Post-Punk-Girls, Flohmarktgängerinnen, Plattenkäuferinnen, Konzertbesucherinnen zeigen. Neben dem musikhistorischen Aspekt legt Knee großen Wert auf Mode und Style: Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren war DIY angesagt, schließlich konnte nicht alle Punk-Fans in Westwoods & McLarens „Sex“-Laden in der Londoner King’s Road einkaufen. Also fabrizierte man seine Sachen selbst, aus Plastiktüten, Schuluniformen, dresste sich in Original-Sixties-Klamotten der Eltern – oder interpretierte Stile um, definierte Preppy-Look als Gegenkultur.
a_knee_fans„Untypical Girls“, im vergangenen Herbst bei Cicada Books erschienen, ist aus verschiedenen Gründen ein wichtiges Buch: Zum einen ist es ein Kompendium von Musikerinnen und Bands, die die Indie-Szenerie mitbestimmt haben – viele davon längst vergessen, manche hierzulande nie bekannt geworden. Von den Britinnen X-Ray Spex, The Slits, Dolly Mixture, Strawberry Switchblade, The Twinsets bis zu den amerikanischen Vertreterinnen, angefangen bei Kim Gordon bis Kathleen Hanna und vielen weitaus weniger populären, aber ebenso wichtigen Musikerinnen gibt es viel zu gucken. Und zu lesen: Aus den Gesprächen mit z. B. Kira Roessler (Bassistin von Black Flag) lernt man viel über das damals wie heute männlich dominierte Musikgeschäft, be it indie or not.
Und es macht klar, dass „Frauenbands“ oder Bands mit Musikerinnen und Musikern (wie beispielsweise Galaxie 500, Slowdive oder Lush) gar nicht so selten sind, wie man es durch die Pop-Presse oder fast rein männliche Festivalbesetzungen glauben möchte – Frauen werden/wurden halt oft buchstäblich „rausgeschnitten“. Fair enough, dass Sam Knee die Jungs aus seinem Buch rausgehalten hat.

a_raincoatsIm Vergleich zu „Untypical Girls“ ein ganz kleines, dünnes Büchlein, aber nicht minder empfehlenswert: Jenn Pellys Ode an das 1979 veröffentlichte Debütalbum der Raincoats, die natürlich auch in Sam Knees Buch vorkommen: Das Kapitel „Fairytale in the Supermarket“ ist nach einem ihrer Songs benannt. In der nicht hoch genug zu lobenden Bloomsbury-Reihe „33 1/3“ wird von Musikjournalist*innen oder auch Musiker*innen pro Titel ein wichtiges Album vorgestellt – ohne Rücksicht auf gängige „Bestenlisten“. Die Bandbreite reicht von Klassikern (also doch!) wie Neil Youngs „Harvest“ bis zu „Exile in Guyville“ von Liz Phair. Die Reihe ist schier endlos: in Kürze erscheinen Bände über Tori Amos’ „Boys For Pele“ und „Transformer“ von Lou Reed (geschrieben von Ezra Furman).
The Raincoats, zum Zeitpunkt ihres gleichnamigen Debütalbums bestehend aus Ana da Silva, Palmolive (frühere Schlagzeugerin der Slits), Gina Burch, Vicki Aspinall und Shirley O’Loughlin, die nicht wirklich mitmusizierte, sondern als „collaborator“ mit an Bord war, kamen in den frühen neunziger Jahren zu unverhofftem Ruhm, als Kurt Cobain nicht müde wurde, von der Londoner Band zu schwärmen – und in seinem berühmten Tagebuch schreibt, dass es ihn sehr glücklich macht zu wissen, dass die Zukunft des Rock’n’Roll in den Händen von Frauen liegt. Auch John Lydon, einstiger Johnny Rotten, war und ist großer Raincoats-Fan – mit dem Unterschied, dass Lydon Rock als sowieso tot und gestrig erachtet, und es die Raincoats bestimmt nicht beabsichtigten, den Rock’n’Roll wiederzubeleben. Nein, die Musik der Raincoats ist Punk im eigentlichen Sinn – ganz ohne Rock. Von vielen als dilettantisch missverstanden, weil die Musikerinnen eben keine 1-2-3-4-Zählung einhalten. Die Raincoats verwirklichten den wahren Kern des DIY, nämlich Dinge einfach zu tun – ohne Spezialistentum erzielen zu wollen. Die Musik der Raincoats sei „loner music“, nicht für Bier- und Pogoexzesse gemacht, schreibt Jenn Pelly, was einerseits stimmt – dass die Raincoats allerdings weit über einsame Mädchenzimmer hinaus wirkten und wirken, wird in Pellys Lobgesang auf dieses so seltsame wie unverzichtbare Album zum Glück aber auch thematisiert. Und einen Link in die Jetztzeit gibt es außerdem: Am Schluss beschreibt Pelly eine Szene aus dem Film „20th Century Women“ (2016, mit Annette Bening und Greta Gerwig), in dem „Fairytale in the Supermarket“ eine wichtige Rolle spielt.

Christina Mohr

Sam Knee, Untypical Girls: Styles and Sounds of the Transatlantic Indie Revolution
Cicada Books
Cicadabooks.co.uk
ISBN: 978-1-908714-45-9, Gebunden, 244 Seiten, viele Fotos

33 1/3 # 126: The Raincoats by Jenn Pelly
Bloomsbury
Bloomsbury.com
ISBN: 978-1-5013-0240-4, Broschur, 160 Seiten

Video The Raincoats, Fairytale in the Supermarket:

Video Strawberry Switchblade: Since Yesterday:

Video Galaxie 500: Tugboat:

Video Bratmobile: Cool Schmool: