Geschrieben am 14. August 2013 von für Musikmag

Tocotronic 20: Interview mit Dirk von Lowtzow

tocotronic_20„Wir haben uns immer wieder von uns selbst emanzipiert“

– Zwanzig Jahre in der Geschichte der Rolling Stones vergehen so schnell wie ein Wimpernschlag, zwanzig Jahre im Leben einer deutschen Indie-Band sind nicht ganz so selbstverständlich. Vor allem aber stehen Tocotronic ihren Fans nahe – seit unglaublichen zwanzig Jahren schon. Von Christina Mohr

Anfang dieses Jahres veröffentlichten Tocotronic das sehr erfolgreiche Album „Wie wir leben wollen“, eine Art musikgewordenes Bandmanifest inklusive 99 nicht immer ganz ernst gemeinter Thesen. Viele Fans erinnern sich noch gut an die frühen Jahre, als die Youngster Dirk von Lowtzow, Arne Zank und Jan Müller „neu in der Hamburger Schule“ waren und als deren Nesthäkchen in Trainingsjacken schnell Klassenbeste und Beliebteste wurden.

Die ersten Alben („Digital ist besser“/1995, „Nach der verlorenen Zeit“/’95, „Wir kommen, um uns zu beschweren“/1996) featureten schrammeligen Indie-Punkpop mit T-Shirt-tauglichen Parolentiteln wie „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“, die umgehend ins popkulturelle Vokabular übergingen. Thees Uhlmann, mittlerweile selbst längst berühmt und erfolgreich, schrieb sogar ein Buch über seine Zeit als Roadie bei einer Toco-Tournee.

Mit „Es ist egal, aber“ von 1997 und dem zwei Jahre später folgenden Album „K.O.O.K.“ läuteten Tocotronic selbst eine Zäsur ein, die Songs wurden musikalisch vielschichtiger, die Texte poetischer, weniger schnell-griffig. 2004 wurde Tourgitarrist Rick McPhail offizielles viertes Mitglied von Tocotronic – und ach, so könnte man weiter Fakt um Fakt aufzählen und hätte doch noch nichts darüber gesagt, was diese Band wirklich ausmacht, die sich einst nach einer japanischen Spielkonsole benannte.

Bei Buback Tonträger erscheint jetzt ein wirklich formidables Jubiläums-Album, das in chronologischem Durcheinander sehr deutlich macht, warum Tocotronic die beste deutsche Band aller Zeiten, vergangener und künftiger, sind. Sagt alles ab und hört zu!

Ein kleines Jubiläumsinterview mit Dirk von Lowtzow:

MO: Zwanzig Jahre Bandgeschichte sind eine gute Gelegenheit zum Rückblick: was sind für euch die Höhepunkte der Tocotronic-Story so far?

DvL: Höhepunkte und Niederlagen lagen und liegen bei uns immer nah beieinander. Wir und unsere Freunde nennen das immer „Das Abenteuer Tocotronic“. Wenn es am Ende aller Tage heißt: „Tocotronic waren gute Laune“, dann sind wir zufrieden.

Habt ihr die Tracks auf dem Jubiläums-Album selbst zusammengestellt und darf man sie als eure „Bestenauswahl“ sehen?

Wir haben die Tracks natürlich selber zusammmengestellt. Es ist jedoch keine Bestenauswahl, sondern eher eine idiosynkratische Zusammenstellung aus Liveaufnahmen, Fundstücken, Verschollenem. Wir hoffen, dass dennoch eine kleine Erzählung dabei sich entspinnt.

Eure letzten Alben waren auch große Verkaufschart-Erfolge – ist euch das wichtig (also dass eure Arbeit auch in Zahlen messbar ist)?

Leider bedeutet ein hoher Chartseinstieg heutzutage nicht zwangsläufig, dass viele Alben verkauft wurden. Im Gegensatz zu sehr vielen anderen deutschen Bands bewegen wir uns verkaufstechnisch im unteren Mittelfeld, dies allerdings schon ziemlich lange, wie Du weißt. Das ist ja auch schön. Wichtiger als alle Zahlenmystik ist doch das, was die Band hoffentlich ausmacht: Unsere Freundschaft untereinander, Musik Musik Musik und dass wir uns und (hoffentlich) auch andere immer noch überraschen können.

Die schönsten Jubel- und Dankesworte/-aktionen von Fans:

Glückliche Gesichter von den schönsten Menschen in der ersten Reihe.

Und von anderen Bands: wessen Lob & Freundschaft bedeutet euch besonders viel?

Freundschaft und Austausch mit anderen Künstler_innen bedeutet uns grundsätzlich viel, Einflüsse sind auf das aller Herzlichste willkommen, schliesslich sind wir porös wie Spongebob. Das müssen aber nicht zwangsläufig Bands oder Musiker_innen sein.

Oder Hass: Tocotronic 2013 sind nicht mehr Dieselben wie Tocotronic anno 1993 – haben euch manche Leute die Veränderungen übel genommen? Die Goldenen Zitronen müssen auch noch immer auf jedem Konzert erklären, dass sie „Für immer Punk“ nicht als Zugabe spielen…

Es ist ein großes Glück unserer Band, dass wir in dieser Hinsicht keine allzu großen Probleme haben, teils, weil wir uns immer wieder von uns selbst emanzipiert haben, teils, weil wir musikalisch keinem Genre im engeren Sinne verpflichtet sind. Stichwort: Ist das noch Punkrock? Ich denke unser Publikum ist zudem sehr aufgeschlossen und tolerant noch unseren größten Schrullen gegenüber. Was wirklich toll und nicht selbstverständlich ist. Danke dafür!

Tocotronic sind ja dezidiert anti-macho, erfüllen bei äußerer Betrachtung aber doch das Klischee der 4-Buddy-Rockband. Widerspruch, willkommener?

„4-Buddy-Rockband“ klingt jetzt so scheußlich, da fällt mir nix zu ein. Bei aller Liebe zum Widerspruch: Nein, das will man nicht sein. Wir sind eine knuffige und knuddelige Boygroup, die hart an ihrer Umwandlung von Menschen zu Stofftieren arbeitet. Keine Buddy-Band.

Welchen Namen würdet ihr euch heute geben – oder ist Tocotronic noch immer das beste Wort?

Es ist das Zauberwort, das die verschlossene Tür zum Himmelreich öffnet und uns die sieben Säulen der Weisheit erklimmen lässt. Es ist das beste Wort überhaupt, neben den Wörtern „Hund“ und „Kapitulation“. Tocotronic ist alles, was ist.

Welchen Song hättet ihr lieber nicht geschrieben?

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber es war andererseits auch nicht alles schlecht. Kurzum: Wir bereuen nichts.

Tocotronics offizielle Ankündigung von >20<:

Wie sie vielleicht Anfang des Jahres durch den Rummel zu unserem Magnum Opus „Wie wir leben wollen“ mitbekommen haben, ist 2013 unser Schicksalsjahr. Die kleine, aber feine Gruppe Tocotronic gibt es nämlich jetzt seit geschlagenen 20 Jahren. Wer hätte gedacht, dass aus drei hässlichen Entlein einmal vier stolze schwarze Schwäne werden würden? Wir am wenigsten! Umso glücklicher sind wir, Ihnen gemeinsam mit der ehrwürdigen Firma „Buback Tonträger“ zu diesem Jubiläum ein liebevoll zusammengestelltes und mit ausführlichen Linernotes versehenes Sammelsurium aus Liveaufnahmen, Raritäten, Obskurem und Okkultem zukommen lassen zu können.

Wir danken Ihnen an dieser Stelle für Ihre Treue und Aufmerksamkeit und freuen uns auf die nächsten 20 Jahre mit Ihnen.

Denn: Toc-o-roll can never die!

Viel Spass wünschen

Tocotronic

Tocotronic >20<. Buback. Zur Homepage der Band.
Tracklist:
Jungs, hier kommt der Masterplan (Live, Frequency-Festival, 2012)
Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit (SAE-Studio, Hamburg, 1994)
Drüben auf dem Hügel (Proberaum, 1994)
Was wird aus all den gebrochenen Herzen? (Proberaum, 1994)
An diesen langweiligen Tagen (Proberaum, 1993)
Der Cousin (Proberaum, 1993)
Hamburg rockt (Live in Hamburg, Kir, 1994)
Freiburg (Live in Freiburg, KTS-Kaserne, 1995)
Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein (Live in Amsterdam, Village Radio, 1995)
Du bist immer für mich da (Live in Hamburg, Große Freiheit 36, 1997)
Die letzte Adresse (Proberaum-Demo, 1998)
Um die Ecke  (gedacht) (Live in München, Volkstheater, 1999)
Das Unglück muß zurückgeschlagen werden (Live in Chicago, WNUR Radio, 2000)
This Boy is Tocotronic (Live in Köln, WDR-Sendesaal, 2002)
Pure Vernunft darf niemals siegen (Lawrence-Remix, 2005)
Mein Prinz (Live in Bremen, Schlachthof, 2005)
Andere Ufer (Live in Wien, Radiokulturhaus, 2007)
Aus meiner Festung (Live in Berlin, Columbiahalle, 2007)
Eure Liebe tötet mich (Live in Müchen, Tonhalle, 2010)
Wie wir leben wollen (Live in Wien, Burgtheater, 2013)

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