Geschrieben am 16. Juni 2005 von für Musikmag

SZ Diskothek

Salonfähig

Nach ihren erfolgreichen Editions-Ausflügen in die literarischen, klassischen und cineastischen Gefilde der Hochkultur wagt sich die Süddeutsche Zeitung mit den 1000 Songs ihrer POP-Anthologie jetzt in die Niederungen der Massenkultur. Doch auch bei der SZ-Diskothek gilt: Understatement statt Mainstream.

„Sex, Drugs and Rock’n Roll”. Mit diesem Schlachtruf trieben die musikfanatischen Jugendlichen in früheren Jahrzehnten ihre Eltern noch zur Weißglut. Doch aus den Teens und Twens von damals sind mittlerweile Thirty- und Fortysomethings geworden, die von der Phonoindustrie als besonders „kaufwillig“ eingestuft und nun auch von den Feuilletonisten der auflagenstärksten deutschen Tageszeitung umworben werden. Die Redakteure des SZ-Magazins Philipp Oehmke (31) und Johannes Waechter (35) setzen mit den fünfzig Bänden ihrer „Diskothek“ gezielt und gekonnt auf die pop-sozialisierten Leser der liberalen Süddeutschen Zeitung. Gleich mit fünf Jahrgängen 1958, 1968, 1978, 1993 und 2000 gehen die Münchener an den Start. Schließlich soll jede Generation auf ihre Kosten kommen.

Für das Leporello und die Kritiker hat der Verlag das nicht nur politisch, sondern auch musikalisch turbulente Jahr 1978 ausgewählt. Eine hervorragende Stichprobe, wie sich nach dem ersten Blättern in dem 80-seitigen Begleitbuch und 77 Minuten Musikgenuss zeigt. In seinem einleitenden Essay umkreist Oehmke das Popjahr mit unkonventionellen Analysen, lockeren Kommentaren und amüsanten Anekdoten. Umrahmt von einem Interview mit der Disco-Ikone der Siebziger, John Travolta. Der Bogen wird vom absterbenden Punk zur sich aufbäumenden Discowelle gespannt, durchsetzt mit Dialogfetzen, die den Hollywoodschauspieler als pophistorischen Laien outen. Auf die Frage, ob der Film „Saturday Night Fever“ am Ende ein ähnlicher Schwindel wie der Punk gewesen sei, passt Travolta mit einem verständnislosen „Punk?“

Sex Pistols ade!

Johnny Rotten und Sid Vicious von der Punkband Sex Pistols lassen in einem BBC-Interview den Schwindel um die rebellische Nicht-Musik auffliegen. Das als „Fundstück“ abgedruckte Gespräch liest sich ein gutes Vierteljahrhundert später wie eine Parodie auf den sozialrevolutionären Gestus der Punkbewegung. Handgreifliche Provokationen weichen einer handzahmen Ironie. „Solange sich die Leute mit Ballerinen beschäftigen, werden wir noch gebraucht“, gibt der Sänger und spätere Gründer von PIL („This Is Not A Love Song“) Johnny Rotten alias John Lyden gelangweilt zu verstehen. Im Januar 1978 verlässt er die Band. Sex Pistols ade.

Die Chartplatzierungen dieses Jahres sprechen ohnehin eine ganz andere Sprache. Die Singles von Boney M., The Bee Gees oder Vader Abraham und seinen Schlümpfen finden in den deutschen Plattenläden reißenden Absatz. Unter den 20 Songs der SZ-Kompilation rangieren keine Nummer-Eins-Hits, dafür viele stilbildende, perfekt und originell arrangierte Kompositionen. Die kreative Eintagsfliege Max Berlin, der mit „Elle Et Moi“ dem Disco-Funk das Sprechen beigebracht hat, repräsentiert das Musikjahr ebenso wie die erfolgreiche Formation Chic („Le Freak“). Von deren stilistischem Einfallsreichtum profitierten nicht nur Discobands, sondern auch die kommende Generation der Rapper.

Neue Impulse

In der Ahnengalerie des Alternative Rock steht Wire, die mit dem melodiös-melancholischen Stück „Outdoor Miner“ vertreten ist. Eine der wenigen Gruppen auf dieser CD, die der Popmusik mit komplexen Sounds bis in die Neunziger hinein neue Impulse gegeben haben. Weniger ideenreich kommen The Normal mit ihrem monoton-elektrisierenden Song „Warm Leatherette“ daher. Trotzdem ein schönes Beispiel für die musikalischen Gehversuche eines zukünftigen Plattenproduzenten. Daniel Miller, der Kopf der Band, sollte schließlich mit seinem Label Mute und den Synthie-Poppern von Depeche Mode der Durchbruch gelingen.

„Denise“ von Blondie, „Love Don’t Live Here Anymore“ von Rose Royce oder „Because The Night“ von der Patti Smith Group sind noch die bekanntesten Stücke auf der Platte. Man merkt sofort: Die Herausgeber setzen mit ihrer Auswahl auf Understatement statt Mainstream. Und so spiegelt sich die stilistische Buntheit der Songs auch in den launigen und facettenreichen Songporträts des Begleitbuchs wider. Inspiriert von den gesammelten Plattenkritiken eines Diedrich Diederichsen („2000 Schallplatten 1979-1999“), aber wesentlich entkrampfter.

Zweifelsohne lässt sich dieses selbstverliebte Projekt als höchst subjektiv abstempeln. Aber genau dadurch hebt es sich von den konfektionierten Chart-Shows auf RTL und den hitorientierten Retro-Samplern der Billiglabels ab. Mit hintergründigen Details und klugen Einsichten überzeugen die Autoren denn auch den letzten bürgerlichen Skeptiker. Kurzum: Die SZ-Diskothek macht die Pop- und Rockmusik endlich salonfähig.

Jörg von Bilavsky

Süddeutsche Zeitung Diskothek. Alle vier Wochen 4 Buch-CD Bände für 28 Euro. www.sz-mediathek.de