Geschrieben am 3. November 2005 von für Musikmag

SZ-Diskothek – 1989

Neue Wege

Während sich mit dem Fall der Berliner Mauer der Osten und der Westen aufeinander zu bewegten, drifteten mit dem sich abzeichnenden Siegeszug des Techno und des Hip-Hop die Popkulturen Europas und Amerikas immer weiter auseinander. Diesen Schluss zieht zumindest Andrian Kreye in der SZ-Diskothek zum Popjahr 1989.

„Angesichts der ganz real revolutionären Kräfte schien die subversive Kraft des Pop versiegt“, urteilt Andrian Kreye, Amerika-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, über das Popjahr 1989. Pop und Rock erstarrten seiner Interpretation zufolge zur „sinnentleerten Pose“. Selbstverständlich zelebrierten R.E.M. und Nirvana denn auch nur ihre Depressionen, während Milli Vanilli, Janet Jackson und Paula Abdul sich mit Gute-Laune-Musik die Spitzenplätze in den Charts sicherten.

Im Dickicht der Subkultur

Im Dickicht der musikalischen Subkulturen hingegen entdeckt Kreye etwas Revolutionäres: Techno und Hip-Hop. Diese beiden innovativen Pop-Trends schickten sich nach einem gewissen Vorlauf an, der gesamten Jugend die Köpfe zu verdrehen und die Alte und Neue Welt popkulturell voneinander zu trennen. Ein pointiertes Urteil, das bei genauerer Betrachtung relativiert werden muss. Denn die musikalische Bande zwischen Amerika und Europa blieb auch weiterhin intakt. Zumindest auf der Ebene des Mainstreams. Der Brite Phil Collins punktete in den Staaten und der US-Star Madonna fand in ganz Europa ein begeistertes Publikum.

Mittlerweile tragen auch die Techno- und Hip-Hop-Formationen eine „sinnentleerte Pose“ zur Schau. Immerhin: Viele haben durchgehalten und sich in den Annalen der Pophistorie verewigt. Auf der Kompilation zum „Wendejahr“ kann man sich aber nicht nur von deren kreativen Kompositionen überzeugen (De La Soul, N.W.A. Soul II Soul, Queen Latifah), sondern auch weniger langlebige und vielfach originellere Stücke bewundern.

Vergänglicher Ruhm

Bereits der erste Titel „I Thank You“ besticht durch pumpenden Beat und die herausfordernde Stimme der Gospelsängerin Adeva. Obwohl der Song bewies, dass House und Soul eine faszinierende Symbiose eingehen können, war der Künstlerin kein wirklicher Erfolg beschieden. Mehr Ruhm hingegen konnten die Begründer des kurzlebigen „Madchester“-Sounds ernten: Die Happy Mondays sind auf der CD mit ihrem Weihnachtshit „Hallelujah“ vertreten. Mit schneidenden Gitarrenriffs, rotzigem Gesang und einer Portion Sozialkritik gehörte die einstige Vorgruppe von New Order zu den neuen Hoffnungsträgern der britischen Popmusik.

Von Acid-House und Rave halten The Pastels aus Glasgow nichts. Die Band bereichert mit ihrem Song „Anne Boleyn“ den britischen Gitarrenpop um mitreißend verzerrte Akkorde, die den harmlosen College-Gesang von Stephen Pastel konterkarieren. Erwachsener klingt da schon die Coverversion des The Cure-Hits „Just Like Heaven“ von Dinosaur jr. Die Grunge-Pioniere aus Massachusetts drehen bei melancholischen Textpassagen wie „soft and lonely“ mit einem brüllenden Chor voll auf und setzen ganz auf Zerstörung. Etwas zarter besaitet sind dahingegen die Bostoner Independent-Rocker von den Pixies. Ihr Titel „Debaser“ zeigt, dass zupackender Rock und eingängige Melodien kein Gegensatz sein müssen. Nicht zuletzt wegen dieser Mischung wurden die Pixies vom Musikmagazin „Rolling Stone“ 1989 zur besten amerikanischen Nachwuchsband gekürt.

Urlaubsgefühle und Heimweh

Solch verstörende Klänge wechseln sich aber auf der CD durchaus mit harmonischern ab. Die Neville Brothers wecken mit Yellow Moon sogar wahre Urlaubsgefühle. Verspielte Saxofon-Soli und karibische Conga-Rhythmen versetzen den Hörer in die Südsee und lassen die von den Happy Mondays sowie Dinosaur jr. verströmte Kälte Nordenglands und Amerikas schnell vergessen. In französische Gefilde entführt dann der Schweizer Chansonier Stephan Eicher mit „Rien À Voir“. Auf einer leicht beschwingten Melodie ruht seine zartfühlend verhallte Stimme, die die Unmöglichkeit ewiger Liebe besingt.

Für die Liebhaber musikalischer Exoten deutscher Provenienz und deutscher Zunge treten auf der Kompilation außerdem der Anarcho-Entertainer Rocko Schamoni und die Experimental-Combo F.S.K. an. Beide präsentieren ironische Variationen harmoniesüchtigen Schlagergutes und lassen in ihren Texten alle Sentimentalität fahren. Schamonis Beitrag „Sex, Musik Und Prügeleien“ hört man deutlich den kompositorischen Einfluss von Bela B., dem Schlagzeuger der Ärzte, an. Auch wenn „M“ wie München von F.S.K. nicht von einem Mitglied der Spaß-Punker aus Berlin produziert wurde, meint man den „Ärzte-Sound“ herauszuhören. Der fränkische Akzent der Sänger lässt aber dann doch keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Eigenproduktion handelt.

Origineller Mainstream

Den Hits „Manchild“ von Neneh Cherry oder „Back to Life“ von Soul II Soul hätte man vielleicht noch eine Latin Dance-Nummer von Gloria Estafan And The Miami Sound Machine zur Seite stellen können. Aber die Kompilatoren wollten auch dieses Mal konsequent gegen den Mainstream anschwimmen. Was ihnen mit dieser Auswahl erneut gelungen ist. Von Phil Collins, Roxettes oder Kylie Minogues Nr.1-Singles ist nichts zu hören. Dafür ein selten anrührend gesungenes Stück von Laurie Anderson („Strange Angels“) und das gekonnt zwischen den gegensätzlichsten Genres changierende „King Kong Five“ von Mano Negra.

Fast jeder Musikstil kommt hier mit einem originellen Stück zum Zug. Nur die Techno-Freaks werden nach dem Essay vielleicht etwas enttäuscht sein und einen Mix von Cybotron erwartet haben. Aber die Höhepunkte des Techno kommen ja erst noch und werden sicherlich in einem anderen Jahrgang der SZ-Diskothek abgefeiert. Wie dieser Band beweist, hat das Popjahr 1989 auch so genug zu bieten gehabt.

Jörg von Bilavsky

SZ Diskothek 1989
Süddeutsche Zeitung
Juni 2005
Gebundene Ausgabe mit CD
80 Seiten. 9,90 Euro.
ISBN: 386615058X