Geschrieben am 15. November 2016 von für Musikmag

Stagetime: Rolling Stone-Weekender, 4./5. November 2016, Weißenhäuser Strand, Ostsee

weissenhaeuser-strand-festivals-rolling-stone-weekender-logo12 Points to Reykjavík, Weilheim and Chicago

Gott sei Dank müssen die Künstler beim Rolling Stone-Weekender nicht um Punkte rangeln, sondern vorwiegend ihrem Publikum gefallen. Das machen sie in der Regel, besonders toll waren die Künstler aus den drei genannten Orten. Doch der Reihe nach: Anfang November am Weißenhäuser Strand an der Ostsee, es findet zum achten Mal der Rolling Stone-Weekender statt und das Line-up läd wieder einmal zur Teilnahme ein, für mich im Übrigen das vierte Mal.

Im großen Zelt startet am späten Freitagnachmittag Amanda Palmer alleine am weißen Flügel und mit der Ukulele. Ein überraschender Einstieg in das Festival auf der großen Zeltbühne, den Frau Palmer aber bravurös meistert. Trotz des unsäglichen Geräuschpegels im Auditorium spielt sie sich durch eine Setlist, die auch solo hinreichend attraktiv ist. Im kleineren Balticsall startet danach mit etwas Verspätung die hoch gelobte Julia Holter. Zwar einerseits sehr unscheinbar, kommt sie doch etwas divenhaft rüber. Begleitet wird sie von einer exzellenten Band an Cello, Geige und Schlagwerk. So ganz kann ich die Vorschusslorbeeren jedoch nicht teilen, für mich ist die Musik etwas zu sperrig, die Songs entfalten kaum Wirkung. Aber wahrscheinlich muss man sich besser in das Repertoire der Künstlerin einarbeiten. Mal sehen, ob ich das machen werde.

Im Zelt spielen derweil The Sonics, und die räumen mächtig ab. Gegründet 1960, zwei, drei Alben Mitter der 1960er, dann aufgelöst, gefeiert in der Punk-Ära, irgendwann wieder reformiert und nun in 2016 mit über 70 bei einem Festival. Mit Klassikern wie „Louie, Louie“ oder „Lucille“ und ihrem eigenen Hit „Psycho“ bringen sie die Zuschauer in Bewegung. Irgendwie bizarr, aber gut. Im Anschluss sollen auch Boss Hog recht spektakulär gewesen sein, mit Stage diving auf einer Matratze durch die Frontfrau Christina Martinez. Leider ohne mich, da ich schon beim img_20161104_234827formidablen John Grant anstehen muss. Parallel dazu spielen auch noch Okkervil River und Die Nerven. Es geht leider nicht alles bei dem sehr ansprechenden Programm. Und John Grant war eine sehr gute Entscheidung. Supernett in perfektem Deutsch begrüßt er die Zuschauer und stellt seine Band aus Reykjavík vor. Und was hat der Mann für eine Stimme. Das in Verbindung mit den sehr elektronischen Sounds seiner beiden letzten Alben, das passt einfach super. Am Ende kommt noch Amanda Palmer für zwei Lieder mit dazu. Für mich ein erstes Highlight des Festivals.

Danach dann der Headliner des ersten Tages: Dinosaur Jr. Eines vorneweg, ich bin ein großer Fan dieser Band. „You’re Living All Over Me“ und „Bug“ waren zwei völlig innovative Alben aus der zweiten Hälfte der 80er. Einen solchen filigranen Gitarrenkrach, in Verbindung mit wunderbar melodiösen Gesangsstimmen, hatte man bis dato noch nicht gehört. Und auch die vier Alben nach der Reunion vor knapp zwölf Jahren waren durch die Bank super. Ich bin also schon seit fast dreißig Jahren Fan dieser Band, habe aber erst jetzt zum ersten Mal ein Konzert gesehen und fand es sehr enttäuschend. Zum einen ist die Lautstärke kaum erträglich, aber aus den von J. Mascis genutzten Hiwatt-/Marshall-Türmen kommt halt gehörig was raus. Zum anderen wirkt die Band nicht wie eine Einheit, sondern wie drei Individualisten, die ihren Stiefel runterspielen. Mascis und Barlow stehen jeweils in einer Bühnenecke und spielen jeder für sich. Am meisten hat mich aber gestört, dass man den Gesang nur erahnen bzw., wenn man die Stücke kannte, sich vorstellen kann. Und diese zerbrechliche, jammernde Kopfstimme ist das, was ich besonders mag an der Band. Grottiger Sound gepaart mit augenscheinlichem Desinteresse kann auch nicht durch einen besonderen Kultcharakter ausgeglichen werden. Manche finden Dinosaur Jr.-Konzerte obergenial, zu dieser Gruppe zähle ich mich mitnichten, ich fand die Darbietung sehr mäßig. 4- mit Rücksicht auf das grandiose Songmaterial. OK, vielleicht war ich etwas schlecht drauf, weil meine Mannschaft vorher an dem Abend gegen die alte Dame aus Berlin gehörig eins auf die Mütze bekommen hat.

Am Samstag startet der Tag mit Lesungen von Jens Balzer und Schorsch Kamerun, der weigert sich allerdings zu Lesen und unterhält mit spontanem absurdem Humor und schrägen musikalischen Einlagen. Der erste Musikact ist Blaudzun aus Holland. Doofer Name, seltsam aussehender Typ und etwas überproduzierte Musik, das war meine Erwartungshaltung. Aber Blaudzun bot ein gefälliges Konzert, deutlich besser als erwartet. Danach etwas Festivalhopping: Agnes Obel (mir zu elfenhaft), Fanny van Dannen (sehr witzig, aber im großen Zelt eher unpassend). Kula Shaker spielen dagegen im kleineren Balic-Saal der hoffnungslos überfüllt ist – keine Chance dort reinzukommen.

Das erste Highlight dieses Tages kommt dann mit The Notwist im Baltic Saal. Wirklich grandios wie die Band sich in der neuen Besetzung ohne Martin Gretschmann durch ihr Repertoire spielt. Die schon tollen Songs gewinnen dadurch noch einmal an Drive und Raffinesse. Dann die Tindersticks, die auch ein Konzert von großer Intensität abliefern und vorwiegend auf ihre letzten beiden starken Alben zurückgreifen. Allerdings käme das in einer kleineren Lokation anstatt des großen Zeltes noch deutlich intensiver rüber. Und dann wieder Wilco als letzte Band des zweiten Tages. Ich habe ja schon mehrfach über Wilco-Konzerte geschrieben, und muss wieder sagen: Das war das bisher beste Konzert! Mit dem ersten Ton hat die Band einen Sound wie zu Hause vor sündhaft teuren HiFi-Boxen. Das Songmaterial ist mit dem sehr schönen Schmilco-Album nochmal erweitert und dazu bieten sie eine selten gesehene Spielfreude. Der alte Grantler Jeff Tweedy lüftet sogar mehrmals vor Freude seinen Cowboy-Hut. Das 90-Minuten-Konzert verfliegt unglaublich schnell, und trotzdem ich schon dreizehn Stunden Programm hinter mir habe, hätte ich noch lange weiter zuschauen und -hören können.

Mein Fazit, wie in jedem Jahr: Nächstes Jahr bin ich wieder dabei.

Appendix: Zwei Tage später schaue ich mir „Die Höchste Eisenbahn“ in der kleinen Freiheit in Osnabrück an. Damit wäre eine erste Wunschband für den nächsten Weekender schon identifiziert…

Wolfgang Buchholz

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