Finding Patti Smith: Die „Hippie-Oma“ beim Haldern Pop 2014
Ein Konzertbericht von Christiane Nitsche (Fotos & Text).
In der regionalen Presse stand später zu lesen, sie habe einen „entspannten Auftritt“ absolviert. Nun weiß man nicht, ob der entsprechende Kollege nur die ersten Minuten von Patti Smith’ Auftritt beim Haldern Pop 2014 erlebt hat, als sie mit der Kaffeetasse in der Hand die Bühne betritt, auf dem Kopf eine Strickmütze, wie sie etwa 35 Prozent der Leute im Publikum auch tragen, über der „Boyfriend“-Jeans ein schwarzes Sakko, die Haare lang und offen. Es ist genauso grau wie das von Gitarrist Lenny Kaye neben ihr. Rund 40 Jahre ist es her, dass sie zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne standen. Als 1975 „Horses“ erschien, die LP, die Patti Smith den Titel „Godmother of Punk“ einbringen sollte, war er dabei.
Die meisten auf dem Gelände hier – laut Veranstalterschätzung etwa 7.000 – waren da noch nicht geboren. Längst nicht jeder kennt den Namen der Punkrock-Legende Smith, die wenigsten wissen, dass sie nicht nur Musikerin, sondern auch eine hervorragende Lyrikerin und Fotografin ist. Die meisten hier sind gekommen, um Garage Rock à la Royal Blood oder New Folk von The Slow Show anzuhören. Das Festival trumpft mit jungen, alternativen, frischen Bands auf. Die Atmosphäre ist entspannt (sic!), weil alles überschaubar ist, weil die Locations interessant sind (wunderschön das „Spiegel-Tent“ mit seiner Mischung aus Boudoir- und Saloon-Ambiente), weil die Wege kurz sind und Kommerzielles im Hintergrund gehalten wird. Man könnte ketzerisch mutmaßen, dass die Tausende junger Leute vor der Bühne dort ausharren, weil sonst nichts los ist Bernhoft – kaum Marktstände, wenig Kontrastprogramm. Auf der Hauptbühne wird an diesem Abend noch Bernhoft spielen, dessen Live-Acts als One-Man-Band mit multiplen Loops legendär sind.
Aber es wird ein wenig später werden, denn offenbar hat die Menge vor der Bühne Spaß an dem, was Patti Smith und ihre Band aus 40 Jahren Bandgeschichte im Gepäck haben – von den Kult-LPs „Horses“ über „Easter“ (1978) und „Wave“ (1979) bis hin zum jüngsten Projekt „Banga“. Wohl niemand hat bisher schöner und schlichter einen „April Fool“ besungen. Und Patti Smith, die „Hippie-Oma“, wie einer sagt, der etwa so alt ist wie ihr Debütalbum, macht aus geplanten, entspannten 90 Minuten 120 mitreißende Minuten, nicht ohne sie mit einem beschwörenden Appell an die Jugend da unten vor der Bühne zu beschließen: „Dies ist Eure Zeit“, ruft sie. „Eure Zukunft! Ihr entscheidet, wie die Zukunft dieses fucking Planeten aussehen wird! Die Zukunft ist jetzt!“
Wohl niemand hat bisher kraftvoller und eindringlicher die Notwendigkeit von Revolution besungen: „People Have The Power“. Da hat Patti Smith längst die Mütze vom Kopf geworfen. Es folgt das Jacket. Lenny Kaye reicht ihr ihre E-Gitarre, und es geht noch einmal richtig zur Sache. „Das kenne ich doch“, stellt plötzlich einer fest. War das der, der von der Hippie-Oma sprach? Egal, denn was da oben passiert, ist weitaus spannender. „Because The Night“, „Dancing Barefoot“, „Gloria“, „Smells Like Teen Spirit“, „Fredrick“ und am Ende noch ein atemloses „Rock’n’Roll Nigger“. Während die einen nach Luft schnappen vor Verwunderung, zappeln die anderen ab wie einst bei Woodstock, der Mutter aller Festivals – oder wie Patti Smith da oben, die Mutter aller Punkrocker. Drei Zugaben später weiß auch der letzte hier, wer Patti Smith ist. Und dass er etwas Besonderes miterlebt hat. Im Dezember wird sie 68. Sie war schon zweimal in Haldern. Wer weiß, ob sie noch einmal kommt. Schön wär’s.
Christiane Nitsche