Gronau-Nachlese
Manchmal tut es weh. Nicht nur die Ohren bekommen bei Sophie Hunger ihr Fett weg – auch fürs Auge ist das durchaus anstrengend, was die Schweizerin und ihre Band dem Publikum abverlangen. Stroboskopartiges Lichtgewitter, gleißendes Scheinwerferlicht und tiefe Schatten strafen im Verlauf des Abends die feenhaft anmutende Erscheinung Lügen, die da mit der Akustikgitarre das Programm eröffnet. Von Christiane Nitsche
Sophie Hunger ist eine Erscheinung wie ein Einhorn, eine Ausnahme in der Musikszene – eine, die in Wort und Ton Genregrenzen nicht kennt, die sich dem Mainstream so leise lächelnd wie bisweilen selbstironisch entzieht. „Supermoon“, der titelgebende Song ihres jüngsten Albums spielt mit Musikstilen von Folk bis Rock wie mit den großen Themen, denen sich Kunst widmet. Denn: Das ist Kunst, was da für viele auf irritierende Weise ganz überraschend am letzten Abend beim Jazzfest Gronau präsentiert wird.
Nicht jeder im Saal will das wahrhaben. Nicht jeder will das. Im Laufe des Doppelkonzerts von Sophie Hunger und Gregor Meyle beim 28. Jazzfest in Gronau verliert sich der Blick zuweilen zwischen den zum Spagat geöffneten Beinen dessen, was Musik macht – wenn man sie lässt. Die einen warten auf Meyles Wohlfühlweisen, deren Texte sich so gerne den Rücken am Schlager schrubbeln. Die anderen lassen sich von Sophie Hungers musikalisch-poetischen Eskapaden in den Bann ziehen. Irgendwo dazwischen waren Tausende unterwegs in der just abgelaufenen Woche: bei Balkan-Beat, Brass Bands, bei Wolfgang Dauners Piano-Debatte mit Sohn Florian an den Drums, bei Roger Hodgsons perfekter Supertramp-Reintonation oder bei Jan Garbareks Reminiszenz an die Hochzeiten des Fusion. Trilok Gurtu gab sich die Ehre, Candy Dulfer (wieder mal) und andere Gronauer Wiederholungstäter: Die Brand New Heavies, die WDR Big Band.
Musik ist Gedächtnis
Musik ist nicht nur was für Ohren, Beine, Herz und Seele – sie ist bei Festivals wie diesem auch was für die Augen. Und sie ist Gedächtnis – Hunderte singen enthusiastisch eine endlose Zahl an „Hodg-Songs“ mit, die Roger Hodgson mit seiner Band in perfektem Sound-Revival auf die Bühne der Bürgerhalle bringt. Neben dem so alterslos wie unendlich strahlenden Hodgson ist das vor allem dem Mann an seiner Seite zu verdanken: Aaron MacDonald – Multi-Instrumentalist an Saxofonen, Keyboards, Melodica, Flöten und Gesang. Wer immer hier mitgeht, kann sich glücklich schätzen, das zu erleben. Noch. Hodgson ist 66 Jahre alt. Das haben ganz andere in jüngster Zeit nicht mehr geschafft. Da wird an Roger Cicero erinnert, der erst 2014 hier auf der Bühne stand, aber auch an Prince, der das leider, leider, leider nie tat. Aber dafür tut das Candy Dulfer, eine seiner Entdeckungen und Musen. Die niederländische Saxofonistin ist eine der Wiederholungstäterinnen auf der Gronauer Bühne und liefert einen umjubelten Abend ab. Kein Wunder, dass Prince über sie sagte: „When I want sax, I call Candy.“ Und Sophie Hunger: „Es ist unser erstes Mal“, erklärt sie augenzwinkernd zu Beginn. Ihr erstes Konzert in Gronau – das sei ja wie in der Liebe: Man wisse anfangs nicht, ob oder wie lange es gut geht. Wer genau hinhört, bekommt den leisen Zwischenton mit: Wenn ihr euch einlasst, werdet ihr reich beschenkt, aber ihr werdet es nicht leicht haben mit mir. Es stellt sich schnell heraus, dass Zuhören das Zauberwort des Abends ist.
Musik ist Liebe
Love is not the Answer“ erfährt man da, quasi im vorweggenommenen Widerspruch zum fröhlichen Alltagskontrastprogramm, das Gregor Meyle später zum Besten geben wird. Dabei kommt auch dieser Widerspruch mit Augenzwinkern daher. Schließlich hätten schon Romeo und Julia lernen müssen, dass Liebe nicht alles ist, liegt man am Ende im Sarg. Apropos Liebe: „Love ist the Masterplan“ war das Credo von Prince, dem jüngst verstorbenen Ausnahmemusiker. Dessen Meisterwerk „Purple Rain“ so unkapriziös wie unvermittelt und unkommentiert auf die Bühne zu bringen, wie Hunger und ihre Band das am Samstag taten – das ist schon großes Kino. Mit klasse Besetzung: Geoffrey Burton (Gitarre), Simon Gerber (Bass), Alberto Malo (Drums), Alexis Anerilles (Keyboards, Flügelhorn, Trompete), einer wie der andere großartig. Hunger lässt sich Zeit mit der Vorstellung der Band, sagt, wo jeder herkommt, zählt Instrumente auf. Und: Gesang. Alle singen. Tatsächlich bilden Burton, Gerber und Malo irgendwann einen Background-Chor. Es gibt Shoobidoo, aber es gibt auch Synthie-Pop, dazu einige Prisen Jazz, schrille Gitarren-Riffs, Cluster, warmes Blech – und kaltes. Und immer die stets mädchenhafte Stimme Hungers, die über allem zu schweben scheint, selbst wenn sie die E-Gitarre malträtiert und schreit.
Musik ist Respekt
„Walzer für Niemand“, verlangt jemand aus dem Publikum den wohl bekanntesten Song Hungers. Da hat sie ihn gerade unbemerkt von der Set-Liste genommen. Weil es zu lärmig ist im Saal, weil zu viele nicht zuhören, weil zu viele hier auf eine andere Botschaft warten, weil sie Liebe wollen und auf Respekt pfeifen. Hunger quittiert den Ruf lachend, macht up-tempo weiter, steht dann stumm und lauscht in den Saal. Und da sind doch einige Hundert, die zuhören, die mehr wollen, die Zugaben verlangen. Eine davon wird der Walzer sein. Wer zuhört, wird beschenkt. Reich.
Christiane Nitsche