Geschrieben am 26. September 2012 von für Musikmag

Rückblick: Reeperbahn Festival 2012

Reeperbahn Festival, der kleine Bruder vom South by Southwest

– Für drei Tage und Nächte verwandelt das Reeperbahn Festival jedes Jahr den Kiez und sein Umfeld in eine riesige Musiklandschaft und kopiert dabei konzeptuell sein großes Vorbild, das South by Southwest in Austin, Texas – mit Erfolg. Julian Klosik berichtet für CULTurMAG aus Hamburg.

Zum siebten Mal fand vom 20.-22.09.2012 das Reeperbahn Festival 2012 in Hamburg, St. Pauli statt und trotz Kapazitätserhöhung im Vergleich zum Vorjahr war das Festival – organisiert von der Reeperbahn Festival GbR, einem Zusammenschluss aus Karsten Jahnke Konzertdirektion GmbH und der Inferno Events GmbH & Co. KG – mit 25000 Besuchern auch in diesem Jahr wieder ausverkauft.

Als Live-Musik-Festival in den Clubs am und um den Kiez ist das Reeperbahn Festival stark an sein großes Vorbild, das South by Southwest (SXSW) in Austin, Texas, angelehnt. Von diesem größten Clubfestival der Welt stammt auch die Idee, neben Musik-Festival ebenso Treffpunkt der Musikbranche zu sein. So gab es in diesem Jahr eine Dreiteilung des angebotenen Programms in „Music“, „Arts“ und „Campus“, wobei unter letzteres eben diejenigen Veranstaltungen gefasst wurden, die nur von sogenannten „Music-Professionals“ bzw. „Delegates“ besucht werden konnten. Ein paar Zahlen: Nach eigenen Angaben wurde mit ca. 2500 Professionals im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von ungefähr 40% erzielt. Ebenfalls ca. 40% betrug der Anteil an internationalen Musikbranchenvertretern.

Auch von den 295 Bands und Solisten kamen längst nicht alle aus den klassischen Popkulturnationen wie den USA, England, Frankreich und Deutschland. Länder wie Israel, Estland, Lettland, Indonesien, Malaysia, Singapur, die Schweiz, Luxemburg und viele weitere präsentierten ihre neuesten Popmusik-Hoffnungen in sogenannten Showcases. Dass 90 % der Acts unbekannte Newcomer waren, tat dem riesigen Andrang in den über 60 Spielstätten, vor allem am Freitag und Samstag, keinen Abbruch.

Von all den Veranstaltungen – insgesamt gab es ca. 350 Programmpunkte – konnte ich, wie jeder andere Festivalbesucher, natürlich nur einen Bruchteil miterleben. Ausgestattet mit der eigens für das Festival entwickelten Reeperbahn Festival-App, die im Übrigen auch schwer an die App des diesjährigen SXSW Festivals erinnert, aber, das muss gelobt werden, in ihrer Funktionalität deutlich schneller und besser war, kämpfte ich mich durch meinen zurechtgelegten Plan, der natürlich Platz für Überraschungen ließ. Ich würde behaupten, es war in meinem Fall nicht der schlechteste Bruchteil. Einige Eindrücke:

Unterwegs auf der Ideenspielwiese der Musikbranche, dem Reeperbahn Festival-Campus

Im Rahmen des Programmteils Campus erörtern und diskutierten Persönlichkeiten aus dem internationalen Musikbusiness in Vorträgen und Gesprächsrunden über aktuelle und zukünftige Trends und Probleme der Musikbranche. Oberthema bildete dabei die Frage „Diversity at Risk?!“. Während es hier z.B. in der Anfangs-Keynote von Ben Challis (Glastonbury Festival) am Donnerstag-Mittag vornehmlich um die Gefahren einer zunehmenden Konzentration der Akteure im Musikfeld, durch Fusionen und Zusammenschlüsse von Labels, Firmen, Ticketing- und Booking-Agenturen, ging, wobei am deutlichsten die Angst vor einer Fusion der beiden Major Universal und Sony zu spüren war, wurde ein anderer Bereich von „Diversity“ nahezu ignoriert, der gerade auch auf dem Reeperbahn Festival zu beobachten war: Die überwältigende Mehrheit der auftretenden Acts war genremäßig dem Indie-Pop/Rock/Folk etc. – Bereich zuzuordnen, was zweifellos dem aktuellen Trend der Popmusik folgt, aber gerade deshalb bedenklich ist.

Um 12:30 Uhr durfte ich dann zusammen mit ca. 50 anderen Leuten lauschen, wie Vertreter verschiedener großer Festivals die Hälfte der Zeit ihres Panels „Festivalsaison 2012/2013“ über das Wetter redeten. Wer hätte das gedacht? Auch die Leiter großer Open-Air-Festivals können gegen schlechtes Wetter nichts unternehmen. Vielen Dank für diese tiefen Einsichten.

Etwas interessanter, dafür aber auch gleich deutlich schwieriger zu verstehen, wurde es beim Panel „Tanzen wird teuer – Gema-Tarifreform im Kreuzfeuer“: Hier wurde – wie der Name schon sagt – die umstrittene GEMA-Reform, die ab April 2013 neue Veranstaltungstarife mit horrenden Abgabensteigerungen für Live-Musik-Clubs und Discotheken vorsieht, diskutiert. Dass sich neben den Vertretern der Clubcommision Berlin, des Clubkombinats Hamburg u.A. auch der Hamburger Bezirksdirektor der GEMA Lorenz Schmid getraut hat Stellung zu beziehen, ist ihm angesichts des zu erwartenden Widerspruchs hoch anzurechnen. Seine Argumente blieben dennoch fragwürdig.

Vor allem die, seiner Meinung nach, völlig einfache Unterscheidung der verschiedenen Veranstaltungsformen von Live-Musik, erschien mir doch sehr riskant. So gäbe es neben Live-Musik-Konzerten – sinngemäß nannte er sie „so echte Konzerte mit Gitarre und Schlagzeug“ – auch Live-Musik-Konzerte mit mechanischem Ursprung, worunter DJ-Auftritte fallen, die nach einem anderen Tarif berechnet werden müssten. Sieht man mal von den komischen Begrifflichkeiten ab, bleibt doch sehr anzuzweifeln, ob sich die GEMA auf diese Weise in ästhetische Bewertungen der künstlerischen oder nicht-ganz-so-künstlerischen Arbeit von Musikern verstricken sollte. Der alte Mythos von „handgemachter“ Musik im Vergleich zur minderwertigen künstlerischen Arbeit von mit elektronischen Geräten arbeitenden DJs ist also längst nicht ausgestorben.

Die sinnvollsten und am besten nachvollziehbarsten Vorschläge wurden am Freitag im Panel „Sound Business“ geäußert. Grundgedanke war, die seit Jahrzehnten (genauer: seit Einführung der CD) bestehende Idee von „Convenience over Quality“, also die Tatsache, dass in der gesamten Musikbranche weit mehr über die zweckmäßige Funktionalität von Musik und Musikformaten diskutiert wird, als über die Soundqualität, zu überkommen. Der notwendige und richtige Vorschlag: Warum nicht mit der Zeit gehen und die Möglichkeiten von riesiger Festplattenkapazität und blitzschnellem Internet nutzen, um Musik in bestmöglicher Soundqualität – also als Studio Master Quality; die Qualität mit der der Produzent arbeitet – anzubieten und sich endlich von dem soundtechnisch bewiesenermaßen rückständigem mp3-Format trennen?!

Neben derartigen Panels bildeten übrigens Networking-Sessions einen Schwerpunkt auf dem Campus, womit das Reeperbahn Festival jedes Jahr auch als wichtiger europäischer Branchenmarktplatz fungiert.

Arts: Das begleitende Kunstprogramm

Zugegeben, ich gehöre zu denjenigen, die das große Angebot an Kunstprojekten, bestehend aus Ausstellungen, Film-Screenings, Lesungen, themenbezogenen Stadtführungen, digital Art und Street Art nicht ausreichend genutzt haben. Allerdings wirkte das Programm nun mal auch teilweise uninteressant. Statt klassische Synthesizer direkt auszustellen, bekam man von einigen Modellen in der Ausstellung „Synthesizer Studio Hamburg“ ganze fünf Fotos zu sehen. Spannend.

Ein Event im Rahmen des Arts-Programmes ist aber in sehr positiver Erinnerung geblieben: Die Geburt des Techno, fiktiv erzählt in der Mockumentary „FRAKTUS – Das letzte Kapitel der Musikgeschichte“, erdacht von Studio Braun. Im gut gefüllten Übel & Gefährlich fand am Donnerstagabend die Premiere dieses Films statt, der in typischer Studio Braun-Manier detailreich und humorvoll Musikdokumentationen parodiert und dabei dennoch eine spannende Geschichte um die erste „echte“ Techno-Band Fraktus erzählt. So durfte man z.B. erfahren, dass von der Band Fraktus sowohl die Ideen für die bekanntesten Westbam- und Scooter-Hits, als auch für den Telekom-Jingle stammen.

Music: Ohne Indie zum Erfolg

Als ich das erste Mal ins Programmheft sah, war ich nicht gerade begeistert. Das Problem war nicht, dass ich kaum Acts kannte, was ja gewissermaßen den Reiz des Festivals ausmacht, sondern, dass gefühlte 95-99 % von ihnen irgendeinem Indie-Musik-Genre wie Indie-Pop, Indie-Rock und Indie-Folk zugeordnet waren. Nicht, dass ich dieser Musik verächtlich gegenüber stünde, aber ich bin nun mal kein ausgesprochener Fan dieser Genres und umso schwerer fällt es sich in der Vielzahl von Bands zurechtzufinden und man läuft leicht Gefahr (so zumindest meine Befürchtung) sich gerade belanglose, langweilige Bands und Solisten heraus zu suchen.

Tatsächlich stellte sich aber mein Trick, der im Wesentlichen darin bestand, einfach möglichst viele Konzerte zu besuchen, die im Programmheft nicht mit Indie-XY gekennzeichnet waren, als erfolgreich heraus.

Nachdem ich mir also den Fraktus-Film angesehen hatte, ging ich gegen 23:30 Uhr Richtung Gruenspan und bekam noch ca. eine Viertelstunde eines für das Line-Up eher ungewöhnlichen Konzertes mit. Der innovative neue Komponist Max Richter trug hier seine Version von Vivaldis Vier Jahreszeiten in der Reihe „Recomposed“ vor. Ein interessantes und hörenswertes Projekt. Leider war der Sound im Gruenspan genauso gedämpft wie der Besucherandrang. Trotzdem sehr gut, dass das Reeperbahn Festival auch solcher Musik Raum bot.

Anschließend gab ich auf Bitte eines Kumpels der Indie-Sparte doch noch eine Chance und begab mich ins Imperial Theater. Doch wäre ich nicht vorher schon der Meinung gewesen, dass Indie zunehmend dahin tendiert, eine Karikatur seiner selbst zu werden, hätte mich spätestens die österreichische Gruppe „Garish“ mit ihren ach-so-schön-melancholischen Melodien und Texten, – im Übrigen auf Deutsch, was meist leider schwerer als Englisch zu ertragen ist – vorgetragen von – wie könnte es anders sein – modebewussten, jungen Männern, davon überzeugt. Schade.

Am musikalisch vielseitigsten und interessantesten sollte für mich der Freitag werden. In der außergewöhnlichen Atmosphäre der Fliegenden Bauten, einem Veranstaltungszelt mit Sitzplätzen, das an diesem Abend mit Nebelmaschinen zugedünstet wurde, überzeugte bereits am frühen Abend „The Kyteman Orchestra“. Eine einzigartige Formation aus über 50 Leuten, geboren aus der Vision des niederländischen Wunderkindes Colin Benders alias Kyteman (heute 26 Jahre alt), der schon mit 16 auf großen Festivalbühnen unterwegs war. Die Musik des Kyteman Orchestra lässt sich wohl am besten als Hip Hop-Soul-Jazz-Oper bezeichnen. Einzig störend war, dass die Musiker, die wohl allesamt mehr drauf gehabt hätten, die meiste Zeit wirklich mit voller Energie und Lautstärke spielten. Hier hätte man sich als Kontrast auch leisere Töne gewünscht, um vielleicht die volle Virtuosität besser zu erkennen.

Im Indra, der Club, in dem die Beatles ihren ersten Hamburger Auftritt hatten, zeigten „Kadavar“, dass 70er-Jahre-Heavy-Rock immer noch möglich und gut sein kann. Bluesige Gitarrenriffs und ein außergewöhnlich guter Schlagzeuger rockten den vollen Club. Auch härtere Musik hatte also völlig zu Recht seinen Platz auf dem Reeperbahn Festival.

Höhepunkt des Abends war dann die „Omar Rodriguez Lopez Group“, benannt nach dem „At the Drive-In“-Gitarristen Omar Alfredo Rodriguez Lopez. Im Übel & Gefährlich schuf die Gruppe, die neben guten Instrumentalisten durch eine extrem charismatische, leicht abgedrehte Sängerin mit Grunge-artiger Stimme hervorsticht, einen etwas schwerer zugänglichen, aber nach kurzer Eingewöhnungsphase überwältigenden Progressive-Rock-Klangraum, der hoffentlich ein neues Zeitalter guter Alternative-Music ankündigt.

Den Musikabend des Samstags begann ich mit einem völlig unterrepräsentierten Genre: Jazz. In der schönen Atmosphäre der St. Pauli Kirche spielten um 19:45 Uhr „Michael Wollny’s [em]“. Die preisgekrönte Formation mit eben Michael Wollny am Piano, Eva Kruse am Bass und Eric Schaefer am Schlagzeug wirkte in vielen Stücken aber tatsächlich eher wie klassische Avantgarde-Musik.

Bei extremer Virtuosität fehlt in einigen Stücken der jazzeigene Groove. Swingen ist wahrscheinlich aber auch nicht die Intention des modernen Jazz-Trios. Dafür beherrschen sie sowohl harmonische Schönheit, melodische Komplexität als auch innovative rhythmische Klangwirkungserzeugung. Die letztere kommt am besten im Stück „Wasted & Wanted“ zum Ausdruck, in dem vor allem Eric Schaefer seinen recht simplen Drum-Beat völlig „tight“ spielen muss, um die richtige rhythmische Wirkung einzuleiten.

Unbedingt zu erwähnen sind noch die zwei Blues-Sensationen des Abends: Während „Gary Clark Jr.“ mit souliger Stimme und schweren, langsam groovenden Beats sowie virtuosem Gitarrenspiel inklusive Solo-Einlagen das Gruenspan in seinen Bann zog, trieb „The Jon Spencer Blues“ die Lautstärke in der Großen Freiheit 36 an das Maximum des Erträglichen. Der sehr heftige Bluesrock rechtfertigt den Namen Blues Explosion, den Sänger Jon Spencer bei jeder Gelegenheit ins Publikum brüllte.

Was beide – Gary Clark und Jon Spencer – verbindet, sind neben der Blues-Grundlage ihrer Musik und grandiosen Konzerten beim Reeperbahn Festival eine lange nicht mehr gesehene Rockstar-Attitüde, die verschieden zum Ausdruck kam. Bei Gary Clark Jr. waren es Textzeilen wie „I don’t believe in competition. Ain’t nobody else like me around“ (aus: Ain’t Messin ‘Round) und bei der Jon Spencer Blues Explosion die Tatsache, dass sie es geschafft haben, als eine der ganz wenigen Bands, gegen die strenge Organisation des Festivals, 40 Minuten lang zu überziehen.

Entgegen dem Indie-Schwerpunkt des Festivals, habe ich also doch musikalische Vielfalt erleben können, die sich im Programm der nächsten Jahre hoffentlich noch weiter ausweitet. Bleibt eigentlich nur noch, die eben angesprochene strenge Organisation – die, um allen Festival-Besuchern zu ermöglichen, diejenigen Konzerte bzw. Programmpunkte zu sehen, die sie sich vorgenommen haben zu besuchen, absolut nötig ist – zu loben.

Ach ja, und: Konzeptuell ist das Reeperbahn Festival vielleicht nur eine Kopie vom South by Southwest – aber eine sehr gute. Der kleine Bruder begehrt auf!

Julian Klosik

Das Reeperbahn Festival 2013 findet vom 26.-28. September 2013 statt. Der Vorverkauf hat bereits begonnen. Zur Internetpräsenz des Reeperbahn Festivals.

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