Geschrieben am 8. Februar 2012 von für Musikmag

Of Montreal: Paralytic Stalks

Of Montreal: Paralytic StalksUnerschöpfliche Relevanz

− Kevin Barnes zieht endgültig blank − das neue Album der amerikanischen Psychedalic-Popband Of Montreal ist mehr denn je ein Seelenstriptease des Songwriters und Bandleaders. Noch dazu ist es eines der besten Alben, die diese Band bisher gemacht hat.

„Paralytic Stalks” ist natürlich wieder mal kein Album, das sich beim ersten Hören erschließt. Zunächst einmal ist man erschlagen von der schieren Fülle von Ideen, die Barnes wie aus einem Füllhorn über die Songs gießt. Das wirkt aufs erste Besehen wie ein kreatives Chaos, zwar interessant, aber nicht zu überblicken. Erst mit dem zweiten, dritten, vierten Durchgang fräst man sich seine eigenen kleinen Trampelpfade durch die Platte, entdeckt hier eine Hookline, dort eine Hommage an die Klassik, um die Ecke eine Melodie für die Galerie, Anklänge an Bands wie ELO oder die 60s, dann wieder klare neoklassizistische Elemente. Mehr denn je ist es völlig unmöglich, Of Montreals Musik einer bestimmten Gattung zuzuordnen. Und je öfter man das Album hört, desto mehr entdeckt man − Of Montreal schaffen es immer wieder, Werke von unerschöpflicher Relevanz zu erzeugen. Allein „Ye, Renew The Plaintiff” vereint mindestens vier Songs in sich und ist eine Barnesche Meisterleistung in Sachen freie Komposition.

Barnes spielt gekonnt mit Gegensätzen: „Wintered Debts“ präsentiert eine der spielerischsten Melodien des Album mit Country-Einschlägen, während der Text genau das Gegenteil darstellt: „Can’t survive another goddamn day when my spirit houses so much pain/ so much bitterness“… „Slipping on my own vomit while trying to call you from a bathroom in Sao Paolo/ but I was too drunk to formulate any sort of earthly language“.

Fantastisch auch, wie Barnes die Ängste des kleinen Kindes („Father, will we starve today?“) in eine typische Lullaby-Melodie gießt, diese ins Moll rutschen lässt und damit beides konterkariert. „Wintered Debts“ bildet einen starken (im guten Sinne) Bruch in der Geschichte der Platte, wird immer kakophonischer und geht direkt über in „Exorcismic Breeding Knife“, einem der avantgardistischsten Of-Montreal-Songs (wie im übrigen alle Songs dieser Platte ineinander übergehen und zu einem einzigen langen Stück verschmelzen). Barnes experimentiert mit Anti-Tonalität und mit Dissonanzen, wie man sie selten in der Popmusik, dafür in der klassischen Musik findet. Dass so etwas wie „Exorcismic Breeding Knife“ den Weg auf „Paralytic Stalks“ gefunden hat zeigt, dass es der Band mit ihrer neuen Platte wieder einmal nicht um Kommerz geht, sondern um das Finden eines eigenen Ausdruck, um Expressivität.

„I spent my waking hours haunting my own life/ I made the one I love start crying tonight/ and it felt good/ still there must be a more elegant solution“

Das ist nur eine von vielen großartigen Zeilen, die man hier findet. Man könne die Welt auf verschiedene Art und Weise betrachten, ließ Kevin Barnes unlängst im Interview mit spin.com wissen. Man könne sich auf den Sonnenschein und die Tiere und all das Schöne konzentrieren, oder aber auf Völkermord, Missbrauch und Folter. Barnes hat sich für seine neues Projekt ganz offensichtlich für die zweite Sichtweise entschieden. Selten wurde in Of Montreal-Songs so viel gelitten, war von so vielen Qualen die Rede. Barnes: „Vieles auf dieser Platte handelt von menschlicher Grausamkeit, diesem Aspekt des Menschen, wie wir einander behandeln. Wie barbarisch und wild wir sein können. Ich wollte aber auch etwas Schönes sagen und nicht nur negativ klingen.“ Das gelingt Barnes mit dem abschließenden „Authentic Pyrrhic Remission“, die Vision einer Menschheit, die vom anderen lernt.

Tina Manske

Of Montreal: Paralytic Stalks. Polyvinyl Records (Cargo). Die Homepage der Band.
Of Montreal live: 19.4.2012: Köln, Werkstatt

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