Ansage an die Realität
Ein großes Album, das wenig Aufhebens von sich macht: “Another song, this is nothing new”, heißt es in “Kong”, erstem vorab veröffentlichten Song aus Neneh Cherrys neuer Platte. Allerdings taugt dieser Satz nicht wirklich als Understatement-Motto, sondern bezieht sich auf das Elend der Welt, das sich in den täglich neuen Horrormeldungen der Nachrichten zeigt. Cherry will sich nicht mit ohnmächtigem Zuschauen begnügen – auch wenn sie keine konkreten Antworten auf politische und gesellschaftliche Missstände geben kann. Ihre Antwort, ihr Ausdrucksmittel ist die Musik, seit vielen, vielen Jahren schon: Unvergessen der Auftritt als Hochschwangere in der Sendung “Top of the Pops”, ihren Superhit “Buffalo Stance” performend – das Kind in ihrem Bauch, Tochter Tyson, ist inzwischen dreißig Jahre alt. Doch Alter scheint für Neneh Cherry keine Rolle zu spielen, wer sie beim Pop-Kultur-Festival in Berlin live erleben konnte, weiß, was ich meine. Für ihre Musik heißt das: Keine Nostalgie, kein Aufkochen einstiger Erfolgsrezepte. Neneh Cherry probiert gern was Neues aus, das war schon so, als sie in den frühen Achtzigern Teil der Avantgarde-Band Rip, Rig & Panic war, und auch, als sie 1994 mit Youssou N’Dour “7 Seconds” sang. 1996 zog sich Cherry aus dem Popgeschäft weitgehend zurück, abgesehen von Gastauftritten bei verschiedenen Produktionen, zum Beispiel ihres Bruders Eagle Eye Cherry oder der Jazzband The Thing. Ihre Rückkehr als Solokünstlerin vor gut vier Jahren mit dem Album “Blank Project” begeisterte mit schroffen, kantigen, wütenden Sounds – und irritierte: Wo war der Hit? Aber Neneh Cherry interessiert sich nicht für Hits, ihre letzte Single erschien 1997 (“Man”). Auch “Broken Politics” ist ein Gesamtkunstwerk, nicht auf einen einzigen Höhepunkt zugeschnitten. Sparsam und transparent instrumentiert, durchzieht die Tracks ein so lässiger wie hypnotischer Sog, ein Groove aus Dub, Reggae, Dancehall und Jazz, der einer/m zuweilen – wie im wuchtigen “Kong” oder dem ekstatischen Schlusssong “Natural Skin Deep” schlichtweg den Boden unter den Füßen wegzieht. Es lohnt sich, genau hinzuhören: dann bemerkt man die pointiert gesetzten Bläser und das fein plinkernde Piano, vor allem aber Nenehs rauhe, warme Vocals, die das gesamte Album tragen. “It’s my politics / livin‘ in a slow jam” – Cherrys mitnichten träge, sondern selbstbewusste Ab- oder besser Ansage an unsere durchgeknallte Realität. Es ist die Liebe, die uns überleben lässt, Baby, nicht der Hass. Keins der zwölf Stücke fällt ab, jedes einzelne entwickelt seine eigene Stärke, inhaltlich wie musikalisch. Schlichtweg großartig, und wie auch schon “Blank Project” kongenial produziert von Kieran Hebden alias Four Tet, der sich seit Kurzem bei “DJs for Palestine” engagiert. Niemand hat behauptet, dass diese Welt einfach gebaut ist…
Christina Mohr
Neneh Cherry: Broken Politics (Smalltown Supersound / Rough Trade)
Video “Kong”