Geschrieben am 15. Dezember 2010 von für Musikmag

Mohr Music

Zum Jahresende bewegt unsere Autorin Christina Mohr wichtige Fragen des Lebens in ihrem Herzen. Zur Hilfe eilen ihr dabei ein Band über Musiker und ihre Einflüsse sowie die Musik von Klassikern wie Elvis und Jimi Hendrix. Genau das richtige für die Pausen zwischen den Festtagsgängen.

Your way into Rock’n’Roll, my way into what?

Das Jahresende ist für viele Menschen ein Anlass, sich mit den essenziellen Fragen des Lebens zu befassen: wo komme ich her, wo will ich hin und warum habe ich nach der Schule nicht einfach eine Banklehre gemacht, so wie es mein Vater wollte? Über solche und ähnliche Fragen lässt es sich trefflich brüten und verzweifeln, darauf einen Dujardin. Das Autorenduo Mirjam Kolb und Manuel Schreiner, dem wir so nützliche Bücher wie die „Indie Travel Guides“ verdanken, hat 34 Musikerinnen und Musikern essenzielle Fragen zum, genau, Musikerleben gestellt. In „My Way Into Rock’n’Roll“ stehen Kolb & Schreiner u. a. Mikey Breyer von Art Brut, Tjinder Singh von Cornershop, Fritz Räuber von Polarkreis 18, Konstantin Gropper (aka Get Well Soon) oder Sharin Foo von den Raveonettes Rede und Antwort. Die Fragen beziehen sich natürlich in erster Linie auf Musik („Wie und wann hast du deine Leidenschaft für Musik entdeckt?“, „Hat dich eine Platte oder ein Künstler besonders beeinflusst, Musiker zu werden?“, „Wann hast du dein erstes Instrument bekommen oder gekauft und welches war es?“), die Antworten werden aber erstaunlicherweise auch beim 34. Fragebogen nicht langweilig. Man erfährt viel Interessantes in „My Way into Rock’n’Roll“, zum Beispiel, dass die wenigsten der Befragten Noten lesen können – und die wenigen, die es können, reagieren beinah ein wenig verschämt. Ritzy Bryan von The Joy Formidable sagt: „Ich kann zwar Noten lesen, aber ich denke nicht, dass mich das zu einer besseren Musikerin macht. Es ist gewiss ganz nett, diese Kenntnisse zu besitzen, aber für Rock’n’Roll braucht man sie nicht unbedingt.“ Ganz anders der notenunkundige Drummer und Gitarrist Brant Bjork (Kyuss): „Nein, ich kenne nicht mal die Notenbezeichnungen.“ Erkenntniswert: In Pop und Rock ist es definitiv cooler, nicht allzu viel über das zu wissen, was man tut. Auf andere Berufsgruppen ist diese Haltung allerdings nur bedingt übertragbar. Aussagen wie „Ich kenne nicht mal die Verkehrsschilder“ (Taxifahrer) oder „Ich kenne noch nicht mal Pfeffer und Salz“ (Koch) dürften nur wenig Erfolg versprechen. Auch Kolb & Schreiners Frage nach der Vereinbarkeit von Tour- und Privatleben wird durchaus unterschiedlich behandelt. So antwortet Rhys Jones von der Band Good Shoes: „Ich sehe meine Familie in etwa ein Mal pro Monat und das reicht völlig aus.“ Das ist Rock’n’Roll! Ungleich braver dagegen Rifles-Gitarrist Joel Stoker: „Ich finde es anstrengend, weg von zu Hause zu sein, denn ich bin eher der häusliche Typ.“ Tja, auch irgendwie verständlich. Sven Regener stößt mit seiner Aussage eine Debatte an, der sich Fehlbesetzung Familienministerin Schröder annehmen sollte. Für Regener ist die Vereinbarkeit von Job (Musik, Schreiben, Unterwegssein) und Familie nämlich „überhaupt kein Problem. Es ist ja nicht so, dass ein Musiker Tag und Nacht am Arbeiten ist. Man muss sich eher mal fragen, wie Leute, die acht oder zehn Stunden am Tag arbeiten gehen, das mit ihrer Familie unter einen Hut bringen. Das ist meiner Ansicht nach viel schwieriger.“ Selten hörte man Klügeres aus Künstlermunde … Kurzum: „My Way into Rock’n’Roll“ ist ideale, kurzweilige Feiertagslektüre. Man kann zwischen den einzelnen Menügängen immer mal ein Kapitelchen weglesen und den hoffentlich popinteressierten jüngeren Geschwistern lustige Fotos von Rick McPhail (Tocotronic) als paukenschlagendes Mitglied einer US-amerikanischen Marching Band oder Dyan Valdés (The Blood Arm) als Baby am Klavier zeigen. Als Vorwortschreiber fungierte wieder mal der ubiquitäre Thees Uhlmann, worüber er sich sogar selbst wundert: „Alle anderen keine Zeit oder was?“ Uhlmann taucht im Buch nochmal als Interviewpartner auf, und tatsächlich wird er mir ein klein wenig sympathischer durch das „Geständnis“, als Sechsjähriger auf Shakin‘ Stevens gestanden zu haben. Peinlich für mich: Thees ist sechs Jahre jünger als ich.

Mirjam Kolb, Manuel Schreiner (Hg.): My Way into Rock’n’Roll. 34 Storys von Anfängen und Erfolgen. edel Germany. Broschur, 238 Seiten, 18,85 Euro.

Elvis: From Nashville to MemphisEine zweite Chance

Jetzt die Kurve zu den beiden folgenden Produkten zu kriegen, ist nicht ganz leicht … aber hey, doch, es geht: beide leider schon lange verstorbenen Künstler haben Myriaden von Musikern und Musikerinnen den Way into Rock’n’Roll gezeigt … Sven Regener zum Beispiel führt im Kolb/Schreiner-Buch Elvis Presley als musikalisches Vorbild an – was ihn sofort als ältesten unter den Befragten outet. Fast alle anderen nennen Nirvana, The Strokes oder den schrägen Typen aus der nächsthöheren Schulklasse. Über den Einfluss von Elvis auf das Werk von Sven Regener und Element of Crime soll sich ein ambitionierter Student der Mannheimer Popakademie Gedanken machen, ich kann Elvis‘ Spuren so ad hoc nicht ausmachen. Wir vermuten, dass Regener auf den coolen Elvis der frühen und mittleren 1950er-Jahre und eventuell den lederbejackten Comeback-Elvis von 1968 steht, ziemlich sicher aber nicht auf den Elvis, der ab 1960 beknackte Filme wie „Blue Hawaii“ und „Kissin‘ Cousins“ drehte. Elvis‘ Musik während dieser Zeit besitzt leider auch nicht die Klasse seines Frühwerks, das in den Sun Studios entstand: Filmschnulzen wie „Wooden Heart“ oder „Soldier Boy“ überwogen und machten ihn hauptsächlich für Großmütter (meine!) interessant. Warum es sich dennoch lohnt, dem 60s-Elvis eine Chance zu geben, erläutert Peter Guralnick in den Linernotes zum lange vergriffenen und jetzt wiederveröffentlichten Box-Set „From Nashville to Memphis“. Guralnick, Autor der ultimativen zweibändigen Elvis-Biografie „Last Train to Memphis“ / „Careless Love“, beendet seinen Booklet-Text mit folgendem Satz: „He (Elvis) knew that somehow, almost despite himself, the music had prevailed.“ Darüber muss man kurz nachdenken: ein Künstler, dessen Werk „trotz seiner selbst“ überlebt – das hat Tragik, beinah etwas Expressionistisches. Auf den fünf CDs des Box-Sets befinden sich viele Songs, über die der Mantel des gnädigen Vergessens zu breiten wäre, aber auch ebenso viele, die Elvis‘ unangreifbare Stellung unterstreichen wie zum Beispiel „In The Ghetto“, „Latest Flame“, „Suspicious Minds“ oder „Guitar Man“. Geben Sie dem Hawaiihemd-Elvis eine zweite Chance, JETZT!

From Nashville to Memphis – The Essential 60’s Masters / Elvis. Box-Set mit 5 CD. RCA (SonyBMG).

Jimi Hendrix: West Coast Seattle BoySchweres Erbe

Brant Bjork (s. o.) wird vielleicht wissen, dass Jimi Hendrix auch keine Noten lesen konnte und darf sich deshalb in guter Gesellschaft wähnen. Ob Kyuss in direkter Nachfolge zu Jimi Hendrix zu sehen sind, ist auch wieder so ein Fall für die Popakademiker … Unbestreitbar ist jedenfalls, dass Jimi Hendrix nachfolgenden Gitarristen ein schweres Erbe hinterlassen hat, sogar dem unerschütterlichen Brant Bjork. Das CD/DVD-Set „West Coast Seattle Boy“ wird Akademiker nicht vom Hocker reißen, vorbehaltlose Fans aber schon. Zu hören sind Demos und alternative Takes von Tracks wie „Fire“ oder „Are You Experienced?“, die Hendrix‘ experimentelle Seite zeigen. Gerade aus Jimi Hendrix‘ Nachlass wurden schon viele posthume Veröffentlichungen generiert, nicht allem hätte er seinen Segen gegeben. Auch auf „West Coast Seattle Boy“ befindet sich Verzichtbares, manche ‚bisher nie veröffentlichten Aufnahmen sind lediglich wenige Sekunden dauernde Studio-Daddeleien. Aber schon allein die energiegeladene Version von „Tears Of Rage“ ist die Sache wert. Die beigelegte DVD beinhaltet eine anderthalbstündige Dokumentation über Jimis Leben und Werk, der Audiokommentar wird von (yeah!) Bootsy Collins vorgetragen. Wer jetzt seinen Weg in den Rock’n’Roll nicht mehr findet – tja, der/die muss eben Weihnachtslieder singen.

West Coast Seattle Boy: The Jimi Hendrix Anthology. Box-Set mit 2 CD. Columbia (SonyBMG).

Christina Mohr