Geschrieben am 5. Dezember 2012 von für Musikmag

Mohr Music: Rockpalast & Musikladen

Zombies vertreiben

– Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie das ganze Wochenende mit alten Freunden oder gar der Verwandtschaft verbracht haben. Der Anlass könnte ein Klassentreffen gewesen sein, oder – brandaktuell – Weihnachten. Bei mir ist es so, dass ich mich durchaus freue, jaja, klar, die Freude überwiegt.

Unvergessene und stets auf Neue wiederholte Geschichten, Fotos, Erinnerungen, gutes Essen, Alkohol, Tanz und Gelächter. Aber ich schlafe auch schlecht, werfe mich wie im Fieber hin und her und träume krudes Zeug, häufig von zombieartigen Gestalten, die sich in meinen Alltag drängen. Und irgendwie bin ich am Sonntag abend froh, wenn alles vorbei ist, der Tatort läuft und wenige Stunden später eine ganz schnöde Arbeitswoche beginnt.

Das ist, grob umrissen, mein Zustand nach insgesamt fünf Musik-DVDs, auf die ich mich sehr gefreut hatte, jaja, wirklich sehr! Und es ist ja auch toll, dass im Zeitalter der DVD die „Kultsendungen“ (argh, ich habe dieses Unwort tatsächlich hingeschrieben!) unserer Jugendzeit allesamt verfügbar und unbegrenzt anguckbar sind – wie z. B. die Dreier-DVD-Box „Das Beste aus dem Musikladen Vol. 1“.

Der vom NDR und Radio Bremen von 1972 bis 1984 gesendete „Musikladen“ war Kult und Trash in einem, unverzichtbar trotz alledem: angetreten als Nachfolgersendung des „Beat Club“, in der Hochzeit moderiert von der freundlichen Uschi Nerke (die 1978 ausstieg) und Jovialpalaverer Manfred Sexauer, präsentierte der „Musikladen“ etablierte KünstlerInnen und aufkommende Hoffnungen, bediente Schlagerfreunde (z. B. mit Roger Whittaker) und Avantgardisten gleichermaßen (Bow Wow Wow, New York Dolls, Toyah, Talk Talk). Jede/r, egal ob Topstar oder Newcomer, musste auf derselben winzigen Bühne, hinter der das überdimensionierte „Musikladen“-Logo prangte, auftreten und ein bremerisch zurückhaltendes, auf Gartenstühlen hockendes Publikum begeistern. Und die zweifelhaften Go-Go-Tänzerinnen ertragen, deren Kostüme so schlecht und scheußlich waren, dass ich, wäre ich eine von ihnen gewesen, heute den NDR auf Schmerzensgeld verklagen würde. Aber die Tänzerinnen und KünstlerInnen waren jung und brauchten das bisschen Geld und womöglich hat das Ganze ja viel Spaß gemacht.

Das Zugucken dreißig Jahre später macht nicht immer Spaß, vor allem, wenn so manche Kindheitsschwärmerei durch pure Anschauung bitter zunichte gemacht wird. Als Beispiele dafür mögen u. a. die Bay City Rollers mit „Bye Bye Baby“ dienen (Galt Les McKeown nicht als DER Womanizer schlechthin? Seine Auftritte mit nackter Hühnerbrust und Hochwasser-Tartan-Jeans können dafür jedenfalls nicht verantwortlich sein); oder die unfassbar schmierigen Typen von Spandau Ballet, deren Song „Only When You Leave“ mir damals gut gefiel – bis ich den „Musikladen“ gesehen hatte.

Die DVD-Box ist locker chronologisch zusammengestellt, es geht los mit Frühsiebziger-Rock (Bachman Turner Overdrive, The Sweet), Smokie (Smokie!), die One-Hit-Wonder Terry Jacks und Johnny Nash wechseln sich auf dem Gitarrenhocker ab; Funk-Ladies wie Labelle (bitte auf die schrillen Kostüme achten – da hat Lady Gaga bestimmt genau hingeguckt) oder die kernige Alicia Bridges („I Love The Nightlife“) bringen ein bisschen Glamour in die Show.

Ach, ich merke gerade, dass die Box doch viel Interessantes bereithält: zum Beispiel kapierte ich erst jetzt, worum es in „Yes Sir, I Can Boogie“ vom ach so braven spanischen Duo Baccara wirklich geht (Boogie?), stellte fest, dass La Bionda („One For You, One For Me“) echte Dancefloor-Visionäre waren und Village Peoples „YMCA“-Performance eine bis heute unerreichte Sternstunde der Gay-Lib-Bewegung ist.

Wenn ihr damals zu klein wart: guckt euch die Village People an, die sind ohnehin mindestens dreimal auf der Box drauf. Der Achtziger-Block birgt Grauenvolles und Bewegendes (grauenvoll hatten wir schon mit Spandau Ballet, furchtbar leider auch Duran Duran mit „Wild Boys“ in schrecklichen Schulterpolstersakkos, oder FR David mit der Superschnulze „Words“). Lustig sind die auf dem ungefähr briefmarkengroßen Bühnenboden getanzten Shows von Frankie Goes to Hollywood (ist das eigentlich Lemmy von Motörhead, der sich am Schluss dazugesellt?) oder Wham!, die mit ihren Chordamen Pepsi & Shirley zu „Young Guns“ ein tolles Eifersuchtsdrama hinlegen.

The Specials fragten sich bestimmt, weshalb sie in dieser komischen Sendung auftraten – Terry Hall gibt sich erst gar keine Mühe, die Lippen zum Playback zu bewegen. Er macht einfach: nichts. Cool. Madness, Patrick Hernandez, Stray Cats oder Thin Lizzy sorgen verlässlich für gute Laune; der Auftritt von Culture Club („Do You Really Want To Hurt Me“) rührt auch dreißig Jahre später noch zu Tränen. Acts wie Boney M., Suzi Quatro, Helen Schneider, Billy Swan und vor allem die fantastische Amanda Lear gehörten durch ihr häufiges Erscheinen zum „Musikladen“-Inventar, weshalb man Lear (neben den mindestens ebenso oft aufgetretenen Insterburg & Co. und dem Jazzposaunisten Chris Barber) ein „Special“ widmet, das im DVD-Bonusmaterial zu finden ist.

Lustig und traurig zugleich ist die unübersehbare Schäbigkeit des „Musikladens“ – von der Ausstattung der Show über Sexauers Sprüche bis zum mehr als prosaischen Zuschauerraum. Und man nimmt die Erkenntnis mit ins Bett, dass nicht jede Musik gleich gut altert.

Das Beste aus dem Musikladen Vol. 1 (SonyMusic; präsentiert von Das Erste, Spieldauer: 476 Minuten). Zur Website von Radio Bremen.

Gegniedel und Gepose

Super-Überleitung: Für den Karrierestart relativ alt waren Ideal aus Berlin, deren Hauptakteure Eff Jott Krüger und Annette Humpe schon in ihren Dreißigern waren, als es 1980 mit der Band so richtig losging. Ideal sangen während ihrer nur drei Jahre währenden Zusammenarbeit konsequent auf Deutsch und mixten Chanson mit New Wave, was unerhört neu und cool klang. Ihr Rockpalast-Auftritt vom 17. Juli 1981 (Sartori-Säle Köln) macht allerdings schmerzhaft klar, dass Ideal auf Platte viel besser waren als live – womit nicht gemeint ist, dass schlechte Musiker am Werk waren.

Eher im Gegenteil: Gitarrist Krüger und Bassist Ernst Deuker lassen auf der Bühne die Rock-Mucker raus und finden sich mit ihrem Gegniedel und Gepose (Gitarre-wie-ein-Gewehr-halten-und-auf-der-Hacke-hüpfen) so richtig geil – was leider zu Postpunk- und NDW-Zeiten (und auch heute noch) total ungeil ist und vor allem überhaupt nicht zu Humpes unterkühltem Gesang und ihrem ironischen Keyboard-Spiel passt.

Hits wie „Berlin“, „Blaue Augen“, „Erschießen“ oder „Immer frei“, die in den Studioversionen hektisch, schnell und knackig sind, werden live gnadenlos mit sinnlosen und quälenden Soli zerstört, das ratlose Publikum versucht zu tanzen/pogen, scheitert aber. Die Band inkl. der bühnenscheuen Annette Humpe hat sichtbar Spaß, aber wer hätte den nicht auf dem Zenit seines Erfolges.

Ganz, ganz anders die insgesamt vier Auftritte von Tocotronic aus den Jahren 1996 bis 2006, die für die Rockpalast-Special-DVD zusammengefasst wurden. Bei Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Rick McPhail und Arne Zank ist Rock zwar eine Klammer, aber nicht das übergeordnete Prinzip. Tocotronic sind Rock und Anti-Rock, zornig, klug und phantasievoll. Tocotronic sind Schwärmer und Romantiker, intellektuell und edlen Gemüts.

Und wer in seinem Leben bedauerlicherweise noch nicht die Chance hatte, ein Konzert von Tocotronic zu besuchen, dem sei diese Zusammenstellung vollsten Herzens empfohlen. Hier habe ich rein gar nichts zu meckern und rate nur, die Tocotronic-DVD zum Schluss zu gucken und als aller-allerletzten Track „Aber hier leben, nein danke“ anzuwählen. Das hilft und vertreibt auch den letzten Zombie.

Kulturspiegel präsentiert Live @ WDR-Rockpalast (SonyMusic).
Ideal (1981), ca. 80 Minuten
Tocotronic (1996 – 2006), 78 Minuten

Christina Mohr

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