Geschrieben am 28. März 2012 von für Musikmag

Mohr Music: Oldies im Frühling

Die Welt ist voller Alben von gar nicht mal mehr so jungen Hüpfern – und dagegen ist auch im Frühling nichts einzuwenden. Frau Mohr plädiert daher entscheiden gegen Ageism und stellt neue Veröffentlichungen von Pop-Beinahe-Rentnern vor.

The Very Best of Neil Diamond: Original Studio RecordingsNeues von Pop-Rentnern

Szenerie: Wohnzimmer der Rezensentin. Auf dem Tisch liegt das Album „The Very Best of Neil Diamond”, im CD-Player: selbiges. Lebenspartner betritt das Zimmer, erblickt CD: „Wo kommt DIE denn her? Willst du die meiner Mutter schenken?“
Frau Mohr: „Auf keinen Fall! Die habe ich für mich angefordert, Neil Diamond ist doch super!“
Lebenspartner: „Das ist nicht dein Ernst?!“
Frau Mohr: „Doch! ‚Girl, You’ll Be A Woman Soon’! ‘Song, Sung Blue’! ‘Beautiful Noise’! ‚Red, Red Wine’! Diamond ist ein begnadeter Komponist und ein toller Sänger, Millionen Leute haben seine Songs gecovert – und für 71 sieht er noch echt gut aus, guck’ mal:“ (hält Lebenspartner CD-Cover unter die Nase).
Lebenspartner: „Du spinnst echt.“ (verlässt das Zimmer)
Aus dem CD-Player: „You don´t bring me Flowers“ (Duett Diamond/Barbra Streisand)

Oben beschriebene Szene ist eine aktuelle Momentaufnahme aus dem Alltag einer Online-Musikrezensentin, die, sagen wir, für Magazine wie culturmag.de schreibt. Neben den pausenlos ins E-Mail-Postfach poppenden Downloadlinks mit Neuerscheinungen junger, häufig noch und bald wieder namenlosen Bands sehen sich JournalistInnen wie du und ich überdies mit einer enormen Zahl an Veröffentlichungen konfrontiert, deren Urheber sich längst im Rentenalter befinden.

Gleich vorweg: das ist überhaupt nicht schlimm! Wir sind total gegen Ageism, schon allein aus eigener Betroffenheit! Aber wir behaupten mal, dass man diesen Frühling und wahrscheinlich auch den folgenden Sommer mit dem Durchhören von Re-Releases, Best-ofs und Alterswerken verbringen kann, ohne auch nur einen einzigen Ton zu hören, der von jüngeren Menschen gesungen, getrötet oder gezupft wird. Das wiederum fänden wir ziemlich schlimm, zumindest schade, dennoch sollen in dieser Kolumne nur knackige SeniorInnen erwähnt werden. Seht hier Frau Mohrs kommentierte Top 7 in der Kategorie Best Agers – der bereits genannte Neil Diamond wird nicht mitgezählt, er ist sowieso König der verstopften Herzkranzgefäße.

The Very Best of Neil Diamond: Original Studio Recordings. Sony Music). Zur Homepage

Simple Minds X5Platz 7: Simple Minds

Eingedenk solcher Megahits wie „Don´t You (Forget About Me)“, „Alive and Kicking“ und „Belfast Child“ fällt es schwer zu glauben, dass die Simple Minds mal eine richtig gute Band waren. Bevor sich die schottischen Musiker widerstandslos in die Arme des Stadionrocks fallen ließen, veröffentlichten die Jungs um Sänger Jim Kerr zwischen 1979 und 1982 fünf Alben im Spannungsfeld von Punk, New Wave und Electro, die teilweise ziemlich avantgardistisch klangen.

Hört man das noch sehr raue „Life In A Day“ oder das schillernde Zwitter-/Doppelalbum „Sons and Fascination/Sister Feelings Call“ mit heutigem Wissensstand, sind die späteren Bombastelemente durchaus schon spürbar, diese wurden aber von der sehr idiosynkratischen, angenehm juvenil-unsicheren und ungestümen Poseurhaftigkeit der fünf Glasgowians in Schach gehalten. Zweiflern und Nostalgikern gleichermaßen sei das glamouröse Album „New Gold Dream“ empfohlen.

Wirklich kaum zu glauben, dass kurz darauf schon „Don´t You…“ dräute und dröhnte – Jim Kerr sagt selbst, dass seine Simple Minds damals eine „andere Band“ gewesen seien; den Verlockungen des Big Business mochte diese Band leider nicht widerstehen. Zur Wiederveröffentlichung der alten Schätze passt es gut, dass die Simple Minds mit dem „X5“-Material heuer auf Clubtour gehen. Kein Stadion, nirgends.

Simple Minds: X5 (im Boxset enthaltene Alben: Life In A Day/1979, Real to Real Cacophony/1979, Empires and Dance/1980, Sons and Fascination/Sister Feelings Call/1981, New Gold Dream/1982). Boxset mit remasterten Originalaufnahmen und vielen Bonustracks. Virgin (EMI Catalogue). Zur Homepage

The Clash Live – Revolution RockPlatz 6: The Clash

Diese DVD mit Live-Aufnahmen von The Clash wurde vor ein paar Jahren schon einmal bei Sony veröffentlicht und erscheint jetzt neu verpackt („Tinbox“) in der Reihe „Live On Stage – Die besten Musik-DVDs aller Zeiten“, herausgegeben von der Zeitschrift Rolling Stone. In dieser Reihe erscheinen außer The Clash z.B. Bob Dylan, Johnny Cash, Eurythmics, Falco, Billy Joel, Simon & Garfunkel, David Bowie und Ozzy Osbourne. Eine sehr weiße und vorwiegend männliche Auswahl, naja, was hätte man vom Rolling Stone, dem Playboy ohne Playmates und Centerfold auch anderes erwartet.

Über die Clash-DVD gibt es indes kaum etwas zu meckern, bei ihren Liveauftritten entfachten die Londoner eine derartige Rock’n’Roll-Energie und -Hysterie, die man auch vorm Fernseher nur mit vor Staunen offenem Mund wahrnimmt. Das Tracklisting möge alle Fragen beantworten:
01 Complete Control
02 I Fought The Law
03 Police & Thieves
04 What ’s My Name
05 Capitol Radio One
06 White Riot
07 I’m So Bored With The U.S.A.
08 London’s Burning
10 (White Man) In Hammersmith Palais
11 Tommy Gun
12 Safe European Home
13 London Calling
14 Clamp Down
15 The Guns Of Brixton
16 Train In Vain
17 This Is Radio Clash
18 The Magnificent Seven
19 Brand New Cadillac
20 Should I Stay Or Should I Go
21 Know Your Rights
22 Career Opportunities

The Clash Live – Revolution Rock. DVD. Sony Music. Zur Homepage.

Public Image Limited: Live At RockpalastPlatz 5: PIL

John Lydon a.k.a. Johnny Rotten gibt seit Jahren zuverlässig Anlass zum Spott: seine Teilnahme am britischen Dschungelcamp und die jüngst verkündete Reunion der Sex Pistols inklusive neuem Plattenvertrag zum Zwecke der Neuaufnahme von „Never Mind the Bollocks“ tragen nicht unbedingt zur Bildung eines krediblen Rufs als elder statesman des Punkrock bei.

Keinesfalls vergessen werden sollte aber, dass Lydon nach dem (vorläufigen, wie man heute weiß) Ende der Sex Pistols mit Public Image Limited, kurz PiL eine der wichtigsten und wagemutigsten Post-Punk-Bands gründete. Mit Musikern wie Jah Wobble, Keith Levene oder Martin Atkins experimentierte Lydon mit Wave und Dub und brachte Songs wie „Annalisa“, „This Is Not A Love Song“, „Low Life“ oder „Religion“ heraus, die die Sex Pistols wie die stümperhaften Schulbuben wirken ließ, die sie ja auch waren.

PiL-Alben wie „Flowers of Romance“ und die als „Metal Box“ zum Sammlerstück gewordene zweite Platte gehören in jede Plattensammlung von Menschen über vierzig und eigentlich auch darunter. Der Auftritt im „Rockpalast“ von 1983 ist eine der seltenen Sternstunden des deutschen Musikfernsehens und wird deshalb vorbehaltlos empfohlen. DVD mit Bonusmaterial: ein Interview mit PiL von Alan Bangs, außerdem Rehearsal-Versionen von „Chant“ und „Annalisa“.

Erfreuliche News von John Lydon – neben seinen fragwürdigen Aktivitäten mit den Sex Pistols: Im Mai erscheint ein neues (!) Album von PiL.

Public Image Limited: Live At Rockpalast. DVD. MIG/Made in Germany. Zur Homepage, hier und hier.

The Wedding Present: ValentinaPlatz 4: The Wedding Present

1985 gründete David Gedge in Leeds The Wedding Present: seitdem stand die Band für heftig geschrammelten Gitarren-Indierock, wild und romantisch, leidenschaftlich und in-your-face. Nachdem Gedge zwischenzeitlich mit der Band Cinerama aktiv war, gab es in 2004 die Wedding Present-Reunion: seitdem schrammeln sie wild, romantisch und leidenschaftlich weiter. Das neue Album „Valentina“ bringt nichts wirklich Neues, dafür Liebgewonnen-Gewohntes: Songs wie „You Jane“, „End Credits“ oder „Stop Thief!“ klingen so gehetzt und unfertig wie vor 27 Jahren, ein paar graue Haare machen da gar nichts.

The Wedding Present: Valentina. Stickman Records (Soulfood). Zur Myspaceseite

David Sylvian: A Victim of Stars 1982 – 2012Platz 3: David Sylvian

Auf David Sylvians Website war vor kurzem das Bedauern des Künstlers nachzulesen: er müsse leider die angekündigte Tour verschieben, er habe Rücken. Und zwar richtig schlimm. Wir wollen uns aber nicht über Sylvian lustig machen, sondern lieber sein prächtiges Best of-Album – oder besser: seine Werkschau – „A Victim of Stars“ anpreisen.

Nachdem David Sylvian in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren mit seiner Band Japan eine perfekte Symbiose aus T.Rex, Duran Duran, Roxy Music und den Cocteau Twins geboten hatte, startete er nach der Auflösung von Japan eine bis heute so unspektakuläre wie beeindruckende Solokarriere. Unspektakulär in der Hinsicht, dass Sylvian nie ein wirklich großer Star wurde, sein Einfluss auf andere Künstler aber nicht hoch genug zu schätzen ist.

Seine meistens „beat-lose“ Musik bietet seiner Stimme viel Raum, in seinen ungewöhnlichen, epischen Akustik-und Elektronik-Balladen experimentiert er mit Jazz, Avantgarde, asiatischen Klängen und Ambient-Sounds. David Sylvian ist ein visionärer Künstler, der sich nicht an Moden orientiert – entschiedener Tipp!

David Sylvian: A Victim of Stars 1982 – 2012. Doppel-CD. Virgin (EMI). Zur Homepage. Zu einem Video.

Carter Tutti Void: TransversePlatz 2: Carter Tutti Void

Die zweite echte Neuveröffentlichung in dieser Kolumne stammt von den Throbbing Gristle-VeteranInnen Chris Carter und Cosey Fanni Tutti, die nicht mehr unter Chris & Cosey firmieren, sondern als Carter Tutti. Für das Album „Transverse“ holten die beiden Elektro-Pioniere außerdem den Factory-DJ Nik Void an Bord und nennen sich deshalb Carter Tutti Void. „Transverse“ ist eine exklusive Zusammenarbeit für das Mute-Festival „Short Circuit presents Mute“ im Londoner Roundhouse im Mai 2011 und eine echte Live-Performance aus vier Stücken, die schlicht und einfach „V 1- 4“ heißen.

Weitere Gäste neben Void sind z.B. der Geiger Nigel Kennedy, der aber nicht weiter auffällt, denn das gewohnt düstere Pluckern und Pulsieren der Geräte erzeugt einen warmen Uterus-Sound, der störende Geräusche wie eben Zaubergeigergefiedel schlicht und einfach verschluckt. Der in der Neil Diamond-Eingangsszene bereits erwähnte Lebenspartner der Rezensentin befand „Transverse“ für „gemütlich und anheimelnd“ – ein Eindruck, den nicht jede/r teilen wird, aber irgendwie stimmt es schon.

Carter Tutti Void: Transverse. Mute. Zur Homepage

Talk Talk: The Colour of SpringPlatz 1: Talk Talk

Wer sich in den frühen und mittleren 1980er Jahren von Bands wie Kajagoogoo oder den Thompson Twins musikalisch und ästhetisch belästigt fühlte, hatte immer noch Talk Talk: die britische Band um den genialen Singer-/Songwriter und Keyboarder Mark Hollis lieferte mit Songs wie „It´s My Life“, „Such A Shame“, „Dum Dum Girl“, „Life´s What You Make It“ oder „The Party´s Over“ Hits für denkende, sensible Menschen, die man heutzutage vielleicht Hipster nennen würde, was aber damals wie heute auch nicht wirklich zutreffend ist.

Talk Talk waren niemals modisch, machten Videos mit Tieren und galten als Postrock-Band, was ebenso wenig stimmt wie der Hipster-Bezug. Wie dem auch sei: die vier Alben der Band, die in den Achtzigern veröffentlicht wurden (1991 erschien noch „Laughing Stock“, danach lösten sich Talk Talk auf), verdienen wohlwollende und flächendeckende Beachtung.

Talk Talk: Katalog. EMI. (Enthalten: The Party´s Over, The Colour of Spring, Spirit of Eden, It´s My Life). Zur Homepage

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