Geschrieben am 2. November 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Never Get Old!

Das nahende Winterhalbjahr bietet jede Menge Zeit und Gelegenheit, sich mit hässlichen Dingen wie dem eigenen Verfall und der Endlichkeit des Lebens im Allgemeinen zu befassen. Die sich automatisch einstellende melancholische Stimmung lässt sich vortrefflich mit deprimierenden Büchern, Platten oder Filmen unterstützen, es kann aber auch schon genügen, über den aktuellen Zustand der Popmusik nachzudenken – so wie Christina Mohr.

Jörn Morisse, Oliver Koch (Hg.): Never Get OldVergangenheit siegt über Gegenwart

Retromanie und Wiederholung allenthalben wären ja schon beklagenswert genug, aber welche Produkte werden am fettesten auf allen Litfasssäulen der Republik beworben? Man feiert die 20-jährigen Erscheinungsjubiläen von U2s Album „Achtung Baby“, „Use Your Illusion I & II“ von Guns N’Roses und Nirvanas „Nevermind“. Das Gesamtwerk von Pink Floyd wird in Extrem-Luxus-Editionen wiederveröffentlicht. Und Box-Sets mit immer noch mehr Singles, Alben und Bootlegs der Smiths werden im gefühlten Jahresrhythmus herausgebracht.

Zurzeit scheint also die Vergangenheit über die Gegenwart, geschweige denn die Zukunft im Pop zu triumphieren. Angesichts der bald 70-jährigen, noch immer enorm unternehmungslustigen Mitglieder der Rolling Stones (Charlie Watts feierte seinen 70. sogar schon) ist es ohnehin obsolet, über die Bedeutung des Jungseins von MusikerInnen zu diskutieren.

Die Realität sieht so aus: Pop ist ein die Jahre gekommenes Kulturgut, und die Protagonisten sind es selbstverständlich auch. Obwohl man doch einst mit The Who schmetterte, „hope I die before I get old“ – aber was hätte man tun sollen? Sich mit 20, 30 oder 38 umbringen? Ist ja auch keine Lösung, also weitermachen.

Über diese und ähnliche Fragestellungen unterhalten sich Jörn Morisse und Oliver Koch mit ihren InterviewpartnerInnen in dem Buch „Never Get Old“ – kleiner Einschub: natürlich sind Interviewbücher eine ziemlich billige Masche. Man stellt ein paar scharfsinnige, kluge, dumme oder unverschämte Fragen, und das Buch wird dann insgesamt so gut wie die Antworten der Interviewten eben ausfallen.

Dennoch ist es mehr als reizvoll, Menschen zu befragen, die als Jugendliche dem Popzirkus beitraten und heute, einige Jahrzehnte später, noch immer dabei sind – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Die Hits wie „Forever Young“ hatten (Alphaville) oder wie Conor Oberst auch als Über-Dreißigjähriger noch immer als „Indie-Wunderkind“ gelten. Fast durch die Bank bekunden alle MusikerInnen, sei es Kim Wilde, Justine Frischmann, Grant Hart oder Melissa Auf Der Maur, nicht noch einmal 20 sein zu wollen. Oder wenn, dann mit dem Wissen/Erfahrung/Einsicht von heute – also durchaus deckungsgleich mit dem, was Nicht-Künstler auch immer sagen.

Interessanter und bis fast unerträglich berührend wird es in den Gesprächen mit dem von seinen Schlaganfällen schwer gezeichneten Edwyn Collins und der todkranken Poly Styrene, die die Hoffnung nicht aufgeben wollte, ihr aktuelles Album doch noch live präsentieren zu können. Wenige Wochen nach dem Interview starb Styrene im keineswegs hohen Alter von 53. Genesis Breyer P-Orridge berichtet mehr über das Pandrogynie-Projekt, das er mit seiner zur Unzeit verstorbenen Partnerin Lady Jaye Breyer betrieb, als über das Älterwerden an sich; die tiefgläubige Gloria Gaynor distanziert sich mit den Worten „das war nicht ich“ von ihrer Zeit als Discoqueen; Vashti Bunyan wundert und freut sich über ihre späte Renaissance.

Das alles liest man am besten nicht am Stück, sondern häppchenweise – wie eine Serie in einer Zeitschrift, was dieses Buch eigentlich auch hätte sein können. Die Herausgeber bleiben in der Form konsequent und schreiben kein Fazit oder eine Zusammenfassung, sondern unterhalten sich am Schluss des Buches einfach ein bisschen. Letzter Satz: „Zumindest ist es ja schon eine Errungenschaft, wenn das Alter nicht per se diffamiert wird.“ Das wiederum ist derzeit nicht zu befürchten, siehe oben.

Jörn Morisse, Oliver Koch (Hg.): Never Get Old. Interviews mit Musikern über das Älterwerden (Broschur, edel Music, 239 Seiten).

Frau Mohrs Musiktipps, passend zur Lektüre: alles garantiert alt! Oder neu, aber von Senioren eingespielt!

Various: Fac. DanceStil-Demokratie

„Mixes & Rarities“-Compilations sind meistens enttäuschend, da fast immer aus zu recht bisher unveröffentlichtem Ramsch bestehend. Ganz anders „Fac. Dance“: der legendäre DJ Bill Brewster stellte dieses Doppelalbum zusammen, das die tanzbare Seite des Factory-Labels aus Manchester präsentiert.

Bands wie A Certain Ratio, Quando Quango, Durutti Column, Blurt und natürlich New Order dürften als bekannt vorausgesetzt werden, Streetlife, Section 25, Swamp Children oder Royal Family and the Poor hingegen sind echte Entdeckungen. Labelchef Tony Wilson (2007 verstorben) war ein großer Stil-Demokrat, was ihm gefiel, wurde veröffentlicht – ob düsterer Gitarrenpostpunk à la Joy Division oder avantgardistische Wave-Funk-Experimente, was Factory in der Rückschau umso mehr als heterogenen Rummel- und Tummelplatz für musikalische Wagnisse erscheinen lässt.

Shark Vegas- Pretenders Of Love (FAC. DANCE) by Strut

Various: Fac. Dance – Factory Records 12. Mixes & Rarities. 1980-1987. Strut (Al!ve). Zur Homepage.

Elvis PresleyJugendfrisch

Würde Elvis noch leben, ginge er jetzt scharf auf die Achtzig zu und wäre damit noch älter als die Rolling Stones. Es wäre aber äußerst unwahrscheinlich, dass er – wie Mick Jagger – noch immer so super tanzen und hüftschwingen könnte wie als junger Mann. Elvis erholte sich von seiner Las Vegas-Phase nicht mehr und starb 1977 an einem Bananenshake (oder wie war das?).

SonyMusic hat jetzt den tollen, jugendfrischen Elvis auferstehen lassen und seine beiden ersten Platten von 1956 und ’57 als, na klar, Legacy Edition mit extra ausgewiesenen Singles, Bonustracks, Fotos, schickem Booklet und allem Pipapo herausgebracht.

All diese Extras wären gar nicht nötig gewesen, denn der junge Elvis hatte es wirklich drauf: „Blue Suede Shoes“, „One-Sided Love Affair“, „Rip It Up“ oder „How Do You Think I Feel“ machen spätere Ausfälle wie „Muss I denn“ noch unbegreiflicher.

Elvis Presley & Elvis Legacy Edition. 2 CD. RCA Victor (Sony). Mehr hier.

Gary Numan: Dead Son RisingAltersweise

Einen gruseligen Titel und überhaupt ganz schön viel Post-Goth-Schmock in der Anmutung bietet Gary Numans neues Album – doch schlecht finden kann ich „Dead Son Rising“ nicht: der umtriebige Numan, der von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet alle paar Jahre neue Platten herausbringt, reitet erfreulich wenig in seiner eigenen Tubeway Army-Ursuppe („Cars“ und „Are ‚Friends‘ Electric?“) herum, sondern liefert ein altersweises Elektro-Werk ab, das sich weder anbiedert noch in Wehmut über vergangene Zeiten ertrinkt.

Breite Synthieflächen, zeitgemäße Beats, ein reines Klavierstück am Schluss, („Not The Love We Dream Of“) und Numans unverwechselbare – unveränderte – Stimme zeigen einen Künstler, der weiß was er kann und wofür er steht. Legacy calling!

Gary Numan: Dead Son Rising. Mortal (Cargo). Zur Homepage.

Suicidal TendenciesPlatz- und geldsparend

Die Reihe Sony Original Album Classics muss ungeheuer erfolgreich sein, sonst würde sie ja nicht in solchem Umfang weitergeführt werden: minütlich kommen neue Box-Sets auf den Markt, die im platzsparenden Schuber drei bis fünf Originalalben von Sony-Acts beinhalten. Das sind meistens nicht die Top-Top-Top-Alben der jeweiligen Bands und Künstler, aber die günstige ‚Preisung‘ der Sets lässt die geneigte Kundschaft darüber hinweg sehen. Frau Mohrs Empfehlungen aus dieser Reihe für den Herbst:

Blondie (Livid, No Exit, The Curse of Blondie)
Suicidal Tendencies (How Will I Laugh Tomorrow, Controlled By Hatred, Lights…
Camera… Revolution, The Art of Rebellion, Still Cyco After All These Years)
Lou Reed (Rock’n’Roll Animal, Rock’n’Roll Heart, Street Hassle, The Bells, Growing Up In Public)

Christina Mohr

Tags : , , , , , , ,