Industrial in Praxis…
– Der Londoner DJ und Labelinhaber Trevor Jackson alias Playgroup ist verbürgter Industrial-, Post Punk- und EBM-Experte und hat für Strut das Doppelalbum „Metal Dance“ kompiliert, auf dem sich neben dem namensgebenden Track der australischen Industrialband SPK 26 Früh- bis Spätachtziger-Perlen befinden, die die müden Knochen nochmal richtig zum Knacken bringen. Dazu hat Christina Mohr ein Buch über die Einstürzenden Neubauten gelesen.
Jon Savages fünf Industrial-Kriterien:
- Organizational autonomy
- The use of synthesizers and non-musical sounds
- An interest in the Information War
- The employment of extra-musical elements like film or video
- The use of shock
(zitiert nach Jennifer Shryane: Blixa Bargeld and Einstürzende Neubauten: German Experimental Music, S. 56)
In den 1970er-Jahren war Tanzengehen eine hedonistische Angelegenheit: Das Gebot der Stunde hieß Disco und bestimmte Musik, Outfit und Location. Ab den frühen 80ern wendete sich das Blatt. Punk und Postpunk markierten ihr Revier, der Kalte Krieg zollte seinen Tribut. Getanzt wurde immer noch, aber unter veränderten Bedingungen: Coolness und Härte herrschten, die Beats waren nicht mehr smooth und groovy, sondern knallend, metallisch und martialisch. Statt Dauerwelle zackige Haarschnitte, an den Füßen statt Highheels von Halston Doc Marten´s für die harte Arbeit auf dem Dancefloor. Aus Punk-Ethos und neuer Technik entstand – hauptsächlich in England, Deutschland und den Niederlanden – eine extrem körperbetonende, gleichsam maschinelle Musik, die auf das Rock-Instrument überhaupt verzichtete: die E-Gitarre. Bands wie DAF oder Kraftwerk, die Überväter jeglicher elektronischer Musik, wollten mit selbstverliebtem Gegniedel auf der 12-saitigen Gitarre nichts mehr zu tun haben.
„Wir wollen, dass die Maschinen schwitzen“, wird Gabi Delgado von DAF aus den frühen Achtzigern zitiert. Trotz der Vorwürfe traditionalistisch geprägter Musiker und Fans, die neue Musik sei synthetisch, nicht-authentisch, ja, morbide, unmenschlich und daher dem raschen Untergang geweiht, zeigt sich der Maschinensound bis heute äußerst lebendig, quasi unkaputtbar. Viele junge Musiker nennen als Vorbilder Depeche Mode und Kraftwerk, die Rolling Stones und die Eagles werden weit seltener genannt (außer vielleicht von den Fleet Foxes, aber das ist ein ganz anderes Kapitel).
Die elektronischen Klänge der frühen achtziger Jahre beeinflussen Gothic-Bands, Disco-Erneuerer wie LCD Soundsystem und Hot Chip, Epigonen wie Hurts und Postwave-Acts wie The Knife. Wo waren wir stehengeblieben? Genau, beim Tanzen: Drummachines und Synthesizer erzeugten unerbittliche Beats, die von Combos wie Nitzer Ebb und Skinny Puppy mit Drill Instructor-Gebrüll zum passenden Soundtrack für eine verwirrte Jugend zusammengehämmert wurde, die von ihren Lehrern Angst vor Atomkrieg, Saurem Regen und Helmut Kohl eingeimpft bekam. Worauf konnte man sich schon verlassen außer auf sich selbst/den eigenen Körper? Das war EBM (Electronic Body Music), egozentriert und zu 99 % männlich. Industrial im Sinne ihrer Erfinder Throbbing Gristle und Cabaret Voltaire hatte mit körperlicher Ertüchtigung in Indie-Discotheken nichts am Hut (siehe Jon Savages Kriterien für Industrial-Music).
Industrial war ein Kommentar zur verdammten Welt, dark und white noise aus eiskalten Geräten. Wer jetzt noch tanzen wollte, war ein Hippie. Wie immer sind es die Nebenarme und Seitensprosse, die einen Trend für eine breitere Menge interessant machen. Das elektronische EBM- und/oder Industrial-Gerippe zeigte sich von Anfang an (also ab ca. 1980) extrem durchlässig für verschiedenste Einflüsse. In die zischelnden Hihats und Drumcomputer-Beats ließen sich Pop-, House-, Dub-/Reggae- oder auch Rockelemente wunderbar integrieren – das Genre verwässerte oder entwickelte sich wahlweise weiter.
Der Londoner DJ und Labelinhaber Trevor Jackson alias Playgroup ist verbürgter Industrial-, Post Punk- und EBM-Experte und hat für Strut das Doppelalbum „Metal Dance“ kompiliert, auf dem sich neben dem namensgebenden Track der australischen Industrialband SPK 26 Früh- bis Spätachtziger-Perlen befinden, die die müden Knochen nochmal richtig zum Knacken bringen. Beginnend mit dem ziemlich lustigen „The Bubblemen Are Coming“ von The Bubblemen, einem Seitenprojekt von Love & Rockets, präsentiert CD 1 Klassiker und Raritäten: Nitzer Ebbs „Control (I’m Here)“ ist in einer Extended Version zu hören, DAF nicht etwa mit einem ihrer frühen NDW-Hits, sondern mit „Brothers“ von 1986, das ihnen weltweite Club-Credibility bescherte, vor allem aber in Frankreich ein großer Erfolg wurde. Pete Shelley, Cabaret Voltaire, Portion Control, Executive Slacks, Neon und Analysis stehen für die schroffe, un- oder antikommerzielle Seite elektronischer Musik; Jah Wobble, Fini Tribe oder 400 Blows experimentieren mit Dub, House und Disco und zeigen sich insgesamt deutlich lebensbejahender.
Auf CD 2 hat Jackson ungewöhnliche Remixes zusammengestellt: Alien Sex Fiend, die freundlichen Ghouls von nebenan, warten mit einem Dub-Mix von „Under The Thunder“ auf, Adrian Sherwood bearbeitete „Yü Gung“ von den Einstürzenden Neubauten, Yello´s „You Gotta Say Yes to Another Excess“ klang in seinem UK-Promo-Mix mindestens so mainstreamtauglich wie Frankie Goes To Hollywood. Ebenfalls dabei: „The Duke Arrives“ aus dem Soundtrack des John Carpenter-Films „Escape From New York“, Ledernacken, Naked Lunch, Mark Stewart und Honey Bane und Diseno Corbusier, wo tatsächlich auch mal weibliche Stimmen zu hören sind.
Trevor Jackson Presents Metal Dance. Industrial, Post Punk, EBM, Classics & Rarities 80 – 88. Strut (Alive). www.strut-records.com
… und Theorie
Laut der Liverpooler Professorin Jennifer Shryane findet man die Alben der Einstürzenden Neubauten in allen Plattenläden in unterschiedlichen Kategorien: Punk, Industrial, Elektro, Noise, Deutschrock, Wave, Post Punk. Am ehesten anfreunden könnte man sich mit Punk/Noise, Blixa Bargeld himself nennt Ton Steine Scherben und Can als wesentliche Einflüsse für seine Band, die seit immerhin 32 Jahren (!) für eine Musik aus Deutschland steht, die nicht tümelt, sondern einreißt, rückbaut, aufbaut. Da Propheten im eigenen Land meist nicht viel gelten, sondern gern geschmäht werden, sind Blicke von außen notwendig und sinnvoll.
Jennifer Shryane unternimmt in ihrem Buch den (gelungenen) Versuch, die Geschichte der Einstürzenden Neubauten und ihrer Errungenschaften für die zeitgenössische Musik unter besonderer Berücksichtigung ihres Status als “Mauerstadt”-Band mit allen architektonischen, literarischen und philosophischen Implikationen nachzuzeichnen. Rein performativ waren die Neubauten stets Rock-basiert, aber in Ausdruck und Wahl ihrer Mittel so radikal wie niemand vor ihnen. Die ersten Aufnahmen im Pfeiler einer Berliner Autobahnbrücke sind so legendär wie die selbstgebauten Metallinstrumente und ihre Auftritte hinter Gittern.
Aber schon seit vielen Jahren produzieren die Neubauten keinen kakophonischen Lärm mehr, wurden vielmehr zur Goethe-Institut-Vorzeigeband, die auf Theaterbühnen reüssiert und musikalisch mehr und mehr zum Kunstlied tendiert. Aber bitte: keine Häme. Simon Reynolds wies in seinem Buch “Rip It Up And Start Again” auf die immense Bedeutung von EN für die Popmusik seit 1981 hin, vor allem natürlich wegen ihrer Krach-Experimente, die sich in abgeschwächt-modifizierter Form in den Charterfolgen von Bands wie Depeche Mode, Frankie Goes To Hollywood, Propaganda und unzähligen anderen niederschlugen. Jennifer Shryane gräbt überdies nach Antonin Artaud-, Dada- und Dekonstruktivismus-Bezügen im Werk der Neubauten und hebt die Band damit vollends aus dem Punkrock-Sumpf, dem sie sowieso nie angehörte.
Christina Mohr
Jennifer Shryane: Blixa Bargeld and Einstürzende Neubauten: German Experimental Music. „Evading Do-Re-Mi“ (Ashgate, Gebunden mit Schutzumschlag, 270 Seiten). www.ashgate.com