Geschrieben am 7. Mai 2014 von für Musikmag

Mohr Music – Let´s write about POP

popbücherrückenPOP lebt!

Zunächst die hard facts: möchte man sich alle vier im Folgenden vorgestellten Bücher anschaffen, benötigt man siebzehn Zentimeter freie Regalfläche für insgesamt 2560 Seiten. Uff.

Angesichts der zurzeit gern verbreiteten Kunde, dass das gedruckte Buch so gut wie tot sei, sind diese vier Werke offenbar antagonistische Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit. Das Gegenteil ist der Fall: von Bruckmaier über Diederichsen und Stanley bis Dimery ruft es aus jeder Zeile: POP lebt! POP wird endlich wertgeschätzt! POP ist Bestandteil des Kulturkanons! POP muss in Großbuchstaben geschrieben werden (und POP-Musik unbedingt mit Bindestrich, siehe DD)!

POP I

Auch wenn das Subjekt bei allen Titeln dasselbe ist, sind die Ansätze der Autoren grundverschieden: Der 1956 geborene bayrische Rundfunkmoderator (u.a. Zündfunk), Hörspielregisseur und Kritiker Karl Bruckmaier wählt einen ungewöhnlichen Einstieg. Für ihn beginnt das, was wir seit ungefähr sechzig Jahren Pop-Musik nennen bereits im 9. Jahrhundert, als der Musiker Ziryab von einer Reise eine fünfsaitige Laute aus Bagdad mitbringt, der er unerhörte Klänge entlockt und den Hof von Córdoba in Verzückung versetzt. Mit diesem Bruch der Hörgewohnheiten bei gleichzeitiger Einführung des Neuen legt Ziryab den Grundstein für POP, so Bruckmaier. Sein Buch schert sich auch auf den übrigen Seiten wenig um die althergebrachte und schon oft erzählte Pop-Genese.

Bruckmaier durchstreift die ganze Welt mitsamt ihren skurrilen Instrumenten, Liedern und Geschichten; die elektrifizierte Gitarre der westlichen Hemisphäre kommt auch vor, aber nicht als einzig signifikantes Ereignis – höchstens im persönlichen Erleben. Die Kapitel sind kurz, intensiv, subjektiv und emotional, eher kurze Erzählungen als lineare Geschichtsschreibung, die sich mal mehr, mal weniger mit 3-Minute-Heroes beschäftigen. Aber auf Stringenz kommt es sowieso nicht an im POP. Bruckmaier schreibt vermeintliche Randfiguren wie Irving Berlin oder Bert Williams in die Historie ein und erreicht so maximale Authentizität in einem anti-authentischen Topos. Manchmal driftet er ab und landet von der Sklavenbefreiung ohne Umschweife beim Holocaust und man wünscht sich, dass ein Lektorat diese Passagen durchgesehen hätte. Andererseits ist es genau dieses Nichteinhalten von POP-Konventionen, das Bruckmaiers Buch so besonders macht. Man muss sich einlassen und darauf gefasst sein, dass man mit Bruckmaiers Stories und thematischen Sprüngen nichts anfangen kann – ungefähr so wie damals, als dir dein älterer Bruder dieses seltsame Free-Jazz-Album gab, um dir Nachhilfeunterricht in guter POP-Musik zu geben. Für ihn guter Musik.

Originelles Add-on: im Buch ist ein QR-Code, mit dem man einen exklusiven Song des Darmstädter Duos Woog Riots („The Story of Pop“) runterladen kann.

POP II

Zu Diedrich Diederichsens (* 1957) Buch „Über POP-Musik“ ist so viel geschrieben, räsonniert und analysiert worden, dass an dieser Stelle kaum etwas hinzugefügt werden kann. Der große DD entwirft in vielen Kapiteln und Unterkapiteln eine Theorie des Pop (obwohl er den Akt der Theoriebildung fragwürdig findet), weniger emotional als analytisch, wissenschaftlich, gelehrt. Die Musik an sich spielt dabei nicht immer die größte Rolle: er befasst sich neben MusikerInnen und Bands auch mit Schriftstellern, Soziologen, Philosophen und fördert trotzdem oder gerade deshalb Erstaunliches über POP zutage (z.B.: „Von Jean-Luc Godard zu den Dirty Projectors und Matthew Friedberger: Index plus Anti-Index zusammenzählen“).

Diederichsen sagt zu Recht, dass über das Material (O-Ton) schon genug gesagt wurde, nicht zuletzt von ihm selbst. Beim Schreiben höre er immer Musik, nicht zwangsläufig die, über die er schreibt – dieses DD eigene Maß an Abstraktion ist für die Lektüre seines Pop-Buches durchaus nützlich. Denn auch Diederichsen geht es (wie Bruckmaier) nicht darum, eine allgemeingültige Pop-Geschichte zu verfassen. DD interessieren die Fragen, die Pop stellt bzw. die die Hörer stellen – die Rezipienten sind ebenso wichtig wie die Akteure, was die Hierarchie verschiebt. Kurz: Was ist ein Pop-Song, wenn ihn niemand hört? So platt schreibt es DD natürlich nicht hin, seine Überschriften lauten „Ist Pop-Musik eine arbeitsteilige Kette von einander infizierenden Tätigkeiten?“, „Musikalische Räume für postmusikalische Ideen“ oder „Nähe: Glücksanspruch und Warencharakter“, womit er jegliche Kritik, Pop sei kein wissenschaftliches Subjekt, Lügen straft und des Platzes verweist. Wie in all seinen Texten überwältigt DDs schiere Fachkenntnis: Ob Terre Thaemlitz, Kanye West, Scritti Politti, Alice Coltrane oder Culture Club, DD nimmt alle gleich ernst und wichtig und das ist gut so. Nur so kann Theorie gebildet werden, auch wenn der Autor das eigentlich nicht will. Aber was sonst? „Nur“ ein Buch über Pop-Musik ist „Über Pop-Musik“ jedenfalls nicht.

bücherpopPOP III

„YEAH YEAH YEAH“ von Bob Stanley dagegen ist genau das: ein Buch über Pop-Musik.

„YEAH YEAH YEAH will remind you why you fell in love with pop music in the first place“ verspricht der Klappentext und thy will be done. Pop heißt bei Stanley: Rock’n’Roll, Blues, Ska, Reggae, Folk, Rockabilly, Elektronik, Punk, New Wave, Disco, Post-Punk, Rave, Techno… everything is everything.

Stanley (* 1964), Mitglied der britischen Band St. Etienne, außerdem Journalist und Kritiker, ist ein Pop-Fan und -Aficionado allererster Kategorie und schafft es, dass man sein Buch mit höchster Aufmerksamkeit von der ersten bis zur letzten Seite liest – obwohl kaum etwas wirklich Neues, vorher noch nie Berichtetes darin steht. Aber er entzündet den Funken der Leidenschaft (love in the first place): anders als analytische Pop-Autoren wie Jon Savage, Simon Reynolds und Diedrich Diederichsen entwickelt er keine Theorien, sondern erzählt Anekdoten, beschreibt the rises and falls of many so-called pop-stars und wertet durchaus, denn er will ja – wie gesagt – keine Theorien herleiten. Das ist zuweilen höchst amüsant (lest das Kapitel über The Police und Sting oder seine Auslassungen über U2) und auch manchmal bitter, wenn man Fan von z.B. The Clash oder The Stranglers war/ist, denen Stanley nonchalant nichts weniger als Dumm- und Plattheit vorwirft – im Gegensatz zu den Sex Pistols übrigens, die nach der Lektüre Stanleys in gänzlich neuem Licht erscheinen.

Und da ist er, der Funke der Leidenschaft: Stanley erzählt bereits Bekanntes mit solcher Verve und mit den entscheidenden Details, dass man atemlos und schmunzelnd sogar das Kapitel über die Bee Gees liest oder den Blur/Oasis-Konflikt durchlebt, als hätte man davon noch nie gehört. Stanley hat Geschmack, Stil und vergisst die Frauen nicht: das Kapitel über amerikanischen Punk ist nach einem Songtitel von Blondie benannt („A Shark in Jets‘ Clothing“) und weist Debbie Harry den verdienten Platz im SongschreiberInnen-Olymp zu; er ehrt die Girl-Groups der Sechziger Jahre nicht nur wegen ihrer spektakulären Frisuren und nennt Madonna trotz ihres unerhörten Erfolges kein kaltes Karriereweib wie so viele andere SchreiberInnen. Stanley schreibt klug und witzig und es passt zu seinem britischen Understatement, dass seine eigene Band nicht einmal in einer Fußnote vorkommt.

Sie merken schon: „YEAH YEAH YEAH“ ist mein Lieblingsbuch dieser Kolumne und ich empfehle es ausdrücklich.

POP IV

Nach diesen drei extrem textlastigen und bilderarmen/-losen Büchern endlich mal was zum Gucken und Lesen: Bereits in der siebten rundum erneuerten Ausgabe erscheint „1001 Alben…“ (Original von 2006, erschienen bei Quintessence), das im Grunde die Überzeichnung des nicht tot zu kriegenden Listenwahns ist (die Redaktion von XY kürt die zehn besten KISS-Songs und ähnlicher Quatsch), wäre es nicht so gut geschrieben und wirklich beeindruckend zusammengestellt. Die 1001 Alben stammen aus allen Epochen und Genres von den 1950ern bis zur Jetztzeit (letzter Eintrag: David Bowie, „The Next Day“) und untermauern in wohltuender Weise nicht den allseits abgenickten Kanon von Led Zeppelin über Pink Floyd bis Bob Dylan. Die genannten Bands und Künstler haben zwar auch ihren Platz auf den knapp tausend Seiten, aber eben auch P.J. Harvey, Tupac, The Young Rascals, Motörhead und The Go-Go´s.

Die Autorschaft setzt sich aus renommierten SchreiberInnen zusammen, die für die unterschiedlichsten Magazine arbeiten, TV-RedakteurInnen sind und zum Teil tatsächlich weiblich sind. Denn als Schlusssatz sei mir ollem Blaustrumpf der Einwand gestattet, dass – so toll und wichtig und faszinierend sie auch sind – zumindest die ersten drei Titel in diesem Artikel von weißen, mittelalten, mitteleuropäischen Männern geschrieben wurden und trotz der unterschiedlichen und klugen Ansätze der genannten Autoren die Popgeschichte eine man´s world ist und wohl auch bleibt.

Fehlt also noch eine 1.500-seitige Pop-Herstory? Da bin ich mir gerade nicht so sicher, sondern eher ein wenig erschöpft. Ich sollte mal wieder eine Platte hören…

Christina Mohr

Karl Bruckmaier: The Story of POP. Murmann Verlag 2014. Gebunden. 352 Seiten.

Diedrich Diederichsen: Über POP-Musik. Kiepenheuer & Witsch 2014, Klappenbroschur. 472 Seiten.

Bob Stanley: YEAH YEAH YEAH. The Story of Modern Pop. faber & faber 2013. Broschur. 776 Seiten.

Robert Dimery (Hg.): 1001 Alben. Musik, die Sie hören sollten, bevor das Leben vorbei ist. edition olms zürich. Klappenbroschur. 960 Seiten. 7. Aktualisierte Neuausgabe 2006/2014.

Videos Phoenix & Lauryn Hill, Everything Is Everything.