Christina Mohr hat sich in dieser Woche einige Veröffentlichungen von Frauen auf elektronischem Feld vorgenommen. Von Harakiri über Bezüge zu H. G. Wells bis hin zu unhörbaren Worten ist für alle etwas dabei.
Messer in der Stirn
This is… strange: schon das Cover von „Quarantine“ verwirrt. Zuerst sieht man die bunten Manga-Girls und denkt sich, ‚ach, wie süß‘, auf den zweiten Blick bemerkt man, dass sich die hübschen Mädchen Messer in den Bauch rammen, also Harakiri betreiben. Die Musik der 25-jährigen Ina Cube alias Laurel Halo aus Ann Arbor, die außerdem noch unter dem Pseudonym King Felix Technobeats veröffentlicht, wirkt ebenfalls auf verschiedenen Ebenen. Zunächst nimmt man den schwebenden, ambientartigen Elektronik-Klangteppich wahr, durchwoben mit asiatisch anmutenden Tönen – die Assoziation ‚Asien‘ eröffnet sich aber nur mangels greifbarerer, konkreterer Vergleichsmöglichkeiten.
Und das möchte man doch so gern: vergleichen, sich an Bekanntem orientieren. Schlaubergerhaft bemerken, dass Laurel Halo bestimmt ganz viel frühen Brian Eno gehört hat oder Faust, oder sich an der Filmmusik von Angelo Badalamenti orientiert. Aber nix da, Vergleiche funktionieren nicht, so etwas wie Laurel Halo hat man einfach noch nicht gehört. Jedenfalls nichts, was mit Tracks wie „Airsick“, „MK Ultra“ oder „Carcass“ in Verbindung zu bringen wäre. Ja, auch Polica und Zola Jesus verfremden ihre Stimmen so sehr, dass sie wie ein Instrument unter anderen wirken – Laurel Halo klingt aber noch eine Spur sphärischer, körperloser, synthetischer und zugleich organischer. Worte sind oftmals nicht zu erkennen, und so klebt man mit dem Ohr am Lautsprecher, verzweifelt nach Anhaltspunkten lauschend.
Freundlich lächelnd zieht Frau Halo ein Messer und sticht in deine Stirn. Blut fließt, Blockaden verschwinden und plötzlich kommen einem die drei letzten Songs des Albums, „Morcom“, „Nerve“ und „Light & Space“ so vertraut und eingängig vor wie kaum etwas zuvor.
Laurel Halo: Quarantine. HyperDub (Cargo). Zur Homepage.
Betörend
Wer im letzten Herbst den Eröffnungsabend der Veranstaltungsreihe „Certain People“ im Berliner Berghain besuchte, kam nicht nur in den Genuss eines tollen Auftritts von Janine Rostron/Planningtorock, sondern durfte auch eins der seltenen Konzerte von Elizabeth Walling alias Gazelle Twin erleben. Die vom Guardian und anderen Magazinen gehypte britische Künstlerin passte perfekt als Ergänzung zu Planningtorock: Gazelle Twin operiert und experimentiert ebenfalls mit „altem“ Electro à la Cocteau Twins und neueren Entwicklungen, wie sie The Knife und Fever Ray vorbereitet haben.
Gazelle Twin liebt außerdem die dramatische Kostümierung, spielt mit verschiedenen Identitäten, was sie überdies – auch stimmlich übrigens – in die Nähe von Björk und Kate Bush rückt. „The Entire City“, Gazelle Twins Debütalbum nach einer Reihe vorab veröffentlichter Singles, ist eine Art Konzeptalbum mit mehreren Konzepten: zunächst bezieht sich Gazelle Twin auf eine Gemäldeserie von Max Ernst mit dem Titel „The Entire City“, der Song „Men Like Gods“ wiederum rekurriert ganz konkret auf den gleichnamigen Science Fiction-Roman von H. G. Wells. Urbanität, Be- und Entschleunigung, Umweltzerstörung und gleichzeitiger Fortschrittsdrang, Vereinzelung und Untergehen in der Menge, Sehnsucht nach utopischen Welten oder einer paradiesischen Vergangenheit sind die Themen auf Gazelle Twins „The Entire City“, was sich erstmal anstrengend und unaufgeräumt anhört, aber das ist es nicht: die mehrfach hochbegabte Walling packt ihre Gedanken in betörend schöne, teils klassisch anmutende Bernsteine aus Klang, denen man sich mit der gebotenen Aufmerksamkeit widmen sollte. Aber sobald Gazelle Twin ihre glasklare Stimme erhebt, verstummt sowieso jegliches Geschwätz.
Gazelle Twin: The Entire City. Anti-Ghost Moon (Cargo). Zur Homepage von Gazelle Twin.
Wohlig entfremdet
Die Frage ist ja: kann man auf dem von Leuten wie Aphex Twin oder Autechre abgesteckten Elektronikfeld noch etwas wirklich Neues, Überraschendes zustande bringen? Die Antwort kann nicht eindeutig ausfallen, denn eine weitere Frage wäre, ob es auf dem Störgeräusche-Sektor überhaupt Neues geben MUSS oder ob es genügt, sich jeglicher Gefälligkeit zu verweigern.
Anita (über die sich leider nur spärliche Informationen finden lassen) baut aus synthetischen und organischen, „natürlichen“ Klängen wie Kinderstimmen eine so unwirkliche wie vertraute, weil eben doch ganz reale Welt. Die Tracks auf „Hippocamping“ folgen keinem aktuellen Trend, weisen Spuren von Dub, Techno und Krautrock auf und sind dabei ganz autark. Wie ein Blick aus einem Satelliten auf die Erde – alles ist da, alles ist erkennbar, und doch in seiner Miniaturität kaum greifbar. Anita legt Soundschicht auf Soundschicht, es wirbelt und rauscht und dann: ist da ein ganz klarer Klang, ein Gezwitscher, eine Spieluhr, ein Wort. Ein Wort? Welches? Was bedeutet es? Man weiß es nicht und fühlt sich im dubbigen “Dun (By Bulb)” oder “A La Playa” so wohl wie entfremdet.
Für wen ist diese Platte gedacht? Anita und ihr Label rechnen offenbar nicht mit großen Hörergruppen: „Hippocamping“ erscheint in einem Siebdruck-Cover der Künstlerin Sofy Maladie und ist auf 300 Stück limitiert.
Anita: Hippocamping. Wildrfid. Zur Homepage.
Christina Mohr