Dieses Mal müsste Mohr Music eigentlich Mohrbooks heißen, weil es überwiegend um Druckwerk geht. Aber weil es eine renommierte Schweizer Literaturagentur mit diesem Namen gibt und Frau Mohr sich nicht mit fremden Federn schmücken will, tun wir jetzt einfach so, als wäre alles wie immer. Nur halt mit Büchern und, immerhin, einer CD.
Eine Revue liebenswerter Hochstapler
Natürlich ist Pierre Bayards „Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist“ keineswegs „ein Lob des Nichtreisens“ und „praktische Lebenshilfe für alle, die lieber zu Hause bleiben und trotzdem mitreden wollen“, wie es der Klappentext verkündet. Nach dem Bestseller „Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“ strickt der Pariser Literaturprofessor und Psychoanalytiker mit dem neuen Werk seine erfolgsgekrönte charmante Masche weiter: Man wird quasi von hinten durch die Brust ins Auge vom Gegenteil des eigentlichen Anlasses (und Titels) des Buches überzeugt. Denn selbstverständlich konnte nur jemand sehr Belesenes „Wie man über Bücher spricht …“ schreiben, wie sich auch nur im Grunde leseaffine Leute dafür interessierten. Genauso ist es mit dem Reisebuch: Nur beim Unterwegssein lernt man, welche Orte die Reise nicht lohnen.
Als Ratgeber taugt „Wie man über Orte spricht …“ jedenfalls nicht, vielmehr präsentiert Bayard wie in einer Revue lauter (durchaus liebenswerte) Hochstapler, die alle – entweder um ihren Ruhm zu steigern, Geld zu verdienen, Abwesenheiten zu rechtfertigen, etc.pp. – Geschichten von Ländern erfanden, obwohl sie dort mutmaß- oder nachweislich nicht gewesen sind. Die meisten dargestellten Schummeleien wären heutzutage, im Zeitalter von GPS, Facebook und Twitter schlichtweg nicht mehr möglich, weil man theoretisch stets und überall von jemand anderem fotografiert, gefilmt, gespottet und gepostet werden kann.
In vergleichsweise jüngerer Vergangenheit, 1980 nämlich, erzielte Rosie Ruiz die Bestzeit der Frauen beim vor wenigen Wochen von tragischen Vorfällen überschatteten Boston Marathon. Vor 32 Jahren konnte man Rosie Ruiz zwar bei ihrem dramatischen Zieleinlauf inklusive Zusammenbruch, rascher Erholung und Triumphgejubel beobachten, nicht aber den gesamten Lauf verfolgen: war Ruiz wirklich die ganze Strecke gelaufen oder nahm sie zwischendurch die U-Bahn? Dieser Vorwurf konnte bis heute weder ausgeräumt noch bestätigt werden – Ruiz wäre im Übrigen nicht die Erste, die lange Etappen im Wettbewerb nicht ausschließlich aus eigener Muskelkraft bewältigte: Auch in der Frühzeit der Tour de France stieg so mancher erschöpfte Radler gern mal auf die Eisenbahn um.
Andere Entlarvungen Bayards sind von weitaus größerer Tragweite als Ruiz´ verzeihliche Behumserei: So soll ausgerechnet Marco Polo nie über Konstantinopel herausgekommen sein, seine Beschreibung des Lebens in China also reine Erfindung. Auch Margaret Mead hat sich das ausschweifende Sexleben der Samoaner höchstwahrscheinlich nur ausgedacht, um ihre trockenen anthropologischen Schriften ein wenig aufzupeppen. Dass Karl May Amerika erst kurz vor seinem Tod besuchte und dennoch mit seinen „Winnetou“-Geschichten mehr zu interkultureller Toleranz beitrug als viele Politiker, ist nur eine der erstaunlichen Erkenntnisse, die man aus Bayards Buch zieht. Denn der Psychoanalytiker in ihm würde in den erwähnten Fällen nicht von Lüge oder Betrug sprechen, sondern vom Erschaffen innerer Orte, die äußere erklären können – und wozu es nicht zwingend nötig ist, das heimische Studierzimmer zu verlassen.
Auch Rosie Ruiz‘ vermeintlich unsportliche Tat ist es gar nicht: Bayard erklärt, dass der griechische Bote Pheidippides nur deshalb im Jahre 490 v. Chr. zu Fuß von Athen nach Sparta lief, weil es ihm als die unkomplizierteste Methode erschien. Nirgends steht geschrieben, dass er nicht auch mit der U-Bahn hätte fahren dürfen, um Hilfe für den Krieg gegen die Perser zu holen.
Pierre Bayards: Wie man über Orte spricht, an denen man nicht gewesen ist
. Verlag Antje Kunstmann 2013. 224 Seiten.Übersetzt von Lis Künzli. 18,95 Euro. ISBN: 978-3-88897-825-8 . Zur Autoren-Seite des Verlags.
Die Straße muss ernst genommen werden
Einen völlig anderen Aufhänger als Bayards Buch hat Danielle de Picciottos zauberhaftes Graphic Diary „We Are Gypsies Now“: Die aus New York stammende und seit vielen Jahren in Berlin lebende Multimedia-Künstlerin und ihr Gatte Alexander Hacke (Gitarrist und Bassist der Einstürzenden Neubauten) gaben vor zwei Jahren Haus und Besitz auf, um für anderthalb Jahre als Nomaden durch die Welt zu ziehen. De Picciotto und Hacke entschieden sich bewusst fürs Unterwegssein – aus Frust und Überdruss an ihren bestehenden Verhältnissen, in der Hoffnung, dass sich auf Reisen der Sinn des Lebens eher einstellen würde als bei schlecht bezahlter Arbeit und zuviel Fernsehgucken in Berlin.
Um es kurz zu machen und den Griff zum Buch ausdrücklich zu empfehlen: ja, sie finden ihr Glück, wenn auch auf vielen Umwegen durch Bruchbuden und Absteigen wie in den Häusern ihrer in aller Welt ansässigen Freunde, die sie aufnehmen. „Die Straße muss ernst genommen werden“, schreibt Danielle in ihrem Buch und ja, das sollte man. Man muss ja nicht gleich alles aufgeben, aber „rumfahren ist immer das Schönste und gibt allem wieder Sinn“, wie es auch schon die große Reiseschriftstellerin Christiane Rösinger zu Protokoll gab.
Danielle de Picciotto: We Are Gypsies Now. Der Weg ins Ungewisse
. WALDE + GRAF bei Metrolit 2013. 210 Seiten. Übersetzt von Alexander Hacke. 22,99 Euro. ISBN: 978-3-8493-0047-0) . Zur Homepage der Autorin. Zur Homepage des Verlags.
Ein Album zum Losfahren, Ankommen und Dableiben
Mit Alexander Hacke als EN-Mitglied gab es ja schon einen rechtfertigenden musikalischen Link, die Londoner Singer-/Songwriterin Franka De Mille (anders als de Picciotto schreibt Franka ihr „De“ groß) nennt ihr Debütalbum „Bridge The Roads“ und rundet diesen Artikel deshalb perfekt ab.
Im Presseinfo steht, dass De Mille „Americana, Kammermusik und Neofolk“ mixt, und stimmlich an Patti Smith und Tori Amos erinnert, aber das ist nur die halbe Wahrheit und außerdem das, was über noch relativ unbekannte Musikerinnen häufig geschrieben wird, wenn diese ohne Discobeats und Autotune-Effekte arbeiten.Mich persönlich konnte Franka De Mille jedenfalls von meinem ennui erlösen, das mich seit einiger Zeit befällt, wenn ich den Begriff „Singer-/Songwriterin“ höre. Viele, sehr viele junge Frauen sind mit ihren Gitarren, Celli, Geigen, Pianos und Glockenspielen unterwegs und singen kleine, intime Geschichten dazu. Das ist nett, aber sich oft eben sehr ähnlich. Obwohl auch Franka De Mille rein akustische Instrumente und ja, Cello und Geige spielt, fällt ihre Musik aus diesem Rahmen wirklich heraus, und von Neofolk ist bei ihr glücklicherweise kaum etwas zu hören.
Songs wie „Come On“ oder das superbe „Gare du Nord“ verbinden vielmehr französisches Chanson mit Indiepop und werden von Frankas kräftiger, in der Tat manchmal an Patti Smith erinnernden Stimme fort und fort getragen. Sehr schön. Es lohnt aber auch, auf ihre Texte zu achten: berührend, aber völlig kitschfrei erzählt sie in „Birds“ vom Sterben ihres Vaters, und in „So Long“ verabschiedet sie sich mit hörbarer Freude von peinigenden Menschen, Dingen und Orten. „Bridge The Roads“ ist ein Album zum Losfahren, Ankommen und Dableiben – und Franka De Mille eine echte Entdeckung.
Franka De Mille: Bridge the Roads
(Chi Wara Music). Zur Homepage.
Christina Mohr