Geschrieben am 14. September 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Die Frauenfrage

Man kann den Eindruck bekommen, dass Frauen im Popgeschäft derzeit präsenter sind als Männer, denn es tummeln sich jede Menge Sängerinnen im Radio und in den Charts: Lily Allen, Zaz, Aura Dione, Imelda May, Caro Emerald, Ayo, Colbie Caillat, Leona Lewis, Jessie J., Nicky Minaj, usw., usw.  Aber auch außerhalb des Mainstreams tut sich was, berichtet Christina Mohr.

Can´t Men Do Pop Anymore?

Wir müssen mal wieder über die Frauenfrage sprechen: vor einigen Wochen erschien im Guardian ein Artikel mit der Überschrift “’Men Can´t Do Pop Anymore’”.

Autorin Sophie Heawood zitiert in der Headline einen Freund, dem dieser Ausruf beim Blick auf die britischen Verkaufscharts entfuhr – Anfang August 2011 befanden sich in den Top Five ausschließlich Platten weiblicher Popstars: Zweimal Adele, zweimal Amy Winehouse, einmal Beyoncé. Ob sich aus dieser kurzen Liste irgendeine Aussage ableiten lässt, ist fraglich: nach Amy Winehouse‘ Tod schnellten die Verkaufszahlen ihrer (zwei) Platten erwartungsgemäß in die Höhe, Adele ist die zurzeit angesagteste Mainstream-Soulsängerin und Beyoncé besitzt als einziger lebender weiblicher Superstar neben Lady Gaga und Madonna (noch) eine Top-Platzierungsgarantie, egal wie gut ihre Platte tatsächlich ist.

Heawoods Gewährsmann macht für das Auftauchen männlicher Musiker unter “ferner liefen” die auffallende Unauffälligkeit von Leuten wie Calvin Harris oder Paolo Nutini verantwortlich – kaum jemand würde sie im Supermarkt erkennen. Hier liegt die Crux, die aber für männliche wie weibliche Stars gilt: Musik ist das eine, Aussehen das andere, meistens wichtigere Element für flächendeckenden Erfolg. Nun könnte man anmerken, dass das a) schon immer so gewesen ist und b) sich z. B. Adele angenehm aus diesem Lookism-Wettrennen heraushält – und ja, genau so ist es, die Charts waren schon immer zum überwiegenden Teil mit Produkten anstatt mit Musik gefüllt und Adele ist die Ausnahme von der Regel: dank ihres Normalo-Aussehens dient sie als Identifikationsfigur. Man kann schließlich nicht jeden Tag Lady Gaga sein wollen.

Eine Band wie Warpaint weiß: Qualität, Charterfolg oder Gender sind keine Synonyme.

Chartplatzierungen sagen also nichts über die Qualität aktueller Popmusik oder den Stand der Gleichberechtigung im Musikgeschäft aus. Geschenkt. Interessanter und diskussionswürdiger ist, dass Sophie Heawood in ihrem Artikel ausgerechnet Beyoncé als Beispiel für das erstarkende feministische Bewusstsein im Pop heranzieht: mit Songs wie “If I Were A Boy” und “Girls (Run The World)” spiele Beyoncé Knowles mit den Geschlechterrollen und mache sich für eine Women-Community stark. Unbestritten ist, dass Miss Knowles eine tolle Sängerin ist, aber Galionsfigur des Feminismus? Well… Wahrscheinlicher ist, dass Beyoncé (und ihr überwiegend männlicher Produzentenstab) dachten, dass es nicht schaden kann, ihr etwas braves Klassenprima-Image mit ein paar zeitgemäßen topics aufzupimpen.

Und ja, man kann sehr wohl den Eindruck bekommen, dass Frauen im Popgeschäft derzeit präsenter sind als Männer: neben den erwähnten Topstars tummeln sich jede Menge Sängerinnen im Radio und in den Charts: Lily Allen, Zaz, Aura Dione, Imelda May, Caro Emerald, Ayo, Colbie Caillat, Leona Lewis, Jessie J., Nicky Minaj, usw., usw. Was fällt auf? Richtig, alles Sängerinnen. Häufig auch die Komponistinnen und Texterinnen ihrer Hits, zuallererst aber hübsche Gesichter mit hübschen Stimmen. Die amerikanische Frauenband Warpaint bemerkte kürzlich in einem Interview für den TV-Sender arte, dass man sich nicht von der Fülle weiblicher Popstars blenden lassen sollte: solange die meisten Produzenten, Manager, Tonmischer, Schlagzeuger und Roadies männlich seien, könnte man nicht von einer Ausgewogenheit der Geschlechter im Musikbiz sprechen.

Da sich – ebenfalls wie immer schon – die Antworten auf unsere Fragen und die interessantesten Veröffentlichungen nicht im Mainstream finden lassen, lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf Künstlerinnen, denen mutmaßlich kein Chartserfolg zuteil werden wird oder wurde:

St. Vincent: Strange MercySt. Vincent: Strange Mercy

Liest man Besprechungen über St. Vincents neues, drittes Album „Strange Mercy“, dann könnte man vermuten, dass vor allem männliche Rezensenten verunsichert reagieren: verunsichert aufgrund des Künstlernamens (eine karibische Insel? Nein, Singer-/Songwriterin Annie Clark aus Texas) und der Musik. Manch einer verliert vollends das Bewusstsein, nennt St. Vincent „die homecoming queen aus der Vorhölle“ oder entdeckt in ihren Songs „auftürmende flimmernde Strudel“. Dieses beinah schon poetische schiefe Bild weckt Assoziationen einer musizierenden Medusa oder Loreley, die wehrlose Seeleute mit ihrem Sirenengesang in den Strudel, äh, ins Verderben schickt. Vor allem aber ist Annie Clark, die überdies mit ihren dunklen Locken und Kulleraugen als Pop-Lolita missinterpretiert werden könnte, eine Künstlerin, die vieles ausprobiert. Mit weißen Kieselsteinen resp. harmonischen Melodien legt St. Vincent falsche Fährten, die nicht zum Lebkuchenhaus, sondern mitten in den dunklen Wald führen.

Ein Soulstück wird von stotternden Rockgitarren unterbrochen. Elektronische Klänge gaukeln Dancefloor-Tauglichkeit vor und werden von Stolperbeats aus dem Takt gebracht. Übermütiges Rummelplatz-Getröte dominiert den Song „Cruel“. Das Tempo von „Surgeon“ bringt erst zum Tanzen und dann zur Hyperventilation. Die Ballade „Champagne“ ist von trauerschwarzer Schwere und wärmt wie beseelter Gospel. St. Vincent, die auch Mitglied von The Polyphonic Spree und der Sufjan Stevens Band ist, singt in heiklen Tonlagen, die an Björk und Kate Bush erinnern, schwieriges Terrain also. Und erst die Texte: der Song „Cheerleader“ sollte zunächst „Dirt Eater“ heißen. Dank der geänderten Zeile „I don´t wanna be a cheerleader no more“ morpht das eher allgemeine kein-Dreckfresser-mehr-sein-wollen zur feministischen Hymne. Die Dinge sind bei St. Vincent selten was sie scheinen: Das Dunkle blendet, Helligkeit verdüstert den Horizont. „Strange Mercy“ verwirrt und erfordert ganze Aufmerksamkeit. Für Männer vielleicht wirklich ein bisschen viel verlangt…

St. Vincent: Strange Mercy. 4AD/Beggars Group. Zur Homepage.


Throwing Muses: AnthologyThrowing Muses: Anthology

Okay, Throwing Muses waren keine ganz waschechte Frauenband: als die damals 14-jährigen Stiefschwestern Tanya Donnelly und Kristin Hersh 1981 The Muses gründeten, war ihr Schulfreund David Narcizo der einzige Drummer, den sie in Newport, Rhode Island kannten. Nach Narcizos Einstieg benannten sich die Muses in Throwing Muses um, tonangebend blieben Donnelly und Hersh. Ab 1983 gingen Throwing Muses regelmäßig ins Studio, aber erst ab 1986 erschienen ihre Alben beim britischen Indie-Label 4AD. Throwing Muses waren in England weitaus beliebter und bekannter als in den USA, wo ihre Bedeutung für die sogenannte Alternative Music erst später entdeckt wurde. Donnelly und Hersh schrieben ihre ersten Songs als Pre-Teens, brachten sich selbst das Gitarrespielen bei und sind Vorreiterinnen jeglichen „Indie“-Sounds.

Viele Jahre vor den Pixies verbanden sie bittersüße Melodien mit harschen Gitarrenriffs, kühne Laut-Leise-Wechsel, Noise und Pop. Tanya Donnelly war „the pretty one“, die vermeintlich Zugänglichere der Band, Hauptsongwriterin Kristin Hersh schrie exaltiert und laut ihre Lyrics heraus, mit denen sie versuchte die Stimmen in ihrem Kopf zu bändigen, die sie seit frühester Jugend heimsuchten und später dazu führten, dass sie das Sorgerecht für ihren ersten Sohn verlor. Harter Stoff, gegen den sich Donnelly nur schwer behaupten konnte – ihre Stunde schlug erst nach dem Ende der Throwing Muses: sie war kurzzeitig Mitglied von Kim Deals Breeders, um danach ihre erfolgreiche eigene Band Belly zu gründen. Kristin Hersh veröffentlichte hochgelobte Soloalben wie „Hips And Makers“ und reunierte die Muses Mitte der Neunziger Jahre, allerdings ohne Donnelly.

25 Jahre nach dem Erscheinen ihres Debütalbums veröffentlicht 4AD eine Werkschau der Throwing Muses, die ausdrücklich keine „Greatest Hits“-Kopplung sein will: Die 21 Songs der „Anthology“ enthalten nur wenige Singles, stattdessen hat die Band persönliche Lieblingssongs, Raritäten und Originalversionen ausgesucht und in nicht-chronologischer Reihenfolge kompiliert. So lässt sich das Werk der Throwing Muses neu entdecken, ohne dass der Blick von Erscheinungsdaten oder College Radio-Chartplatzierungen eingeengt würde. Muses-Hits wie „Cry Baby Cry“ , „Mania“, „Furious“, „Tar Kissers“ oder die raren, bisher unveröffentlichten Songs „Fish“ und „Hillbilly“ sind anstrengend und wunderschön, mit Tränen in den Augen feuert man das gute Geschirr an die Wand und wünscht sich eine so schwierige Schwester wie Kristin Hersh, damit man doch noch eine Band gründen kann.

Die limitierte Erstauflage der „Anthology“ ist luxuriös ausgestattet:

Zwei CDs mit insgesamt 43 Songs, ein 28-seitiges Booklet (oder besser book), Sleevenotes von Kristin Hersh.

Throwing Muses: Anthology. Doppel-CD. 4AD/Beggars. Zu Kristin Hershs Seite.

Le Tigre: Who Took The Bomp? Le Tigre: Who Took The Bomp?

Konzertdokus auf DVD sind meistens sterbenslangweilig: Zwischen viel zu kurze Liveausschnitte werden Interviewschnipsel mit Band, Crew und Fans montiert, dazu gibt es ein bisschen Backstage-Filmmaterial, in dem sich die MusikerInnen betont lustig und/oder rockstarmäßig aufführen. Rein formal ist Kerthy Fix‘ und Gail O’Haras Film „Who Took The Bomp?“ über Le Tigres Welttournee 2004/05 eine „normale“ Konzertdoku, abgesehen davon, dass die portraitierte Band eben Le Tigre ist. Hervorgegangen aus Kathleen Hannas wegweisender Riot Grrrl-Band Bikini Kill gründeten sich Le Tigre 1998 ursprünglich, um Kathleens Soloprojekt Julie Ruin zu begleiten. Nach einem personellen Wechsel – Sadie Benning ging, JD Samson kam – und zwei Alben („Le Tigre“, „Feminist Sweepstakes“) waren Le Tigre die wichtigsten Role Models der Post-Riot Grrrl-Ära geworden. In Songs wie „Hot Topic“ verhandelten Hanna, Samson und Johanna Fateman radikalfeministische und politische Themen, der spirit der Musik war Punk, gemixt aus Elektro und Disco, Synthies, Samplings und E-Gitarren.

„Who Took The Bomp?“ zeigt Le Tigre on tour anlässlich ihres ersten Majorlabel-Albums „This Island“, das bei Universal erschien und für Unmut und Ausverkauf-Vorwürfe sorgte. Auf den Konzerten merkt man davon nichts: mit jungen Frauen, Queers und Ladies of all Gender vollgepackte Säle kochen vor Begeisterung, wenn Le Tigre in Anti-Bush- oder knallbunten Cheerleaderkostümen ihre superenergetische Show abliefern. Mindestens so spannend – im Gegensatz zur üblichen Doku also – sind die Interviews und Backstageaufnahmen: JD Samson, selbsterklärte „butch lesbian“ sieht sich gezwungen, ihr Image zu rechtfertigen, nachdem sie von einem weiblichen Fan für einen schwulen Mann gehalten wurde. Die Band entscheidet sich gegen ein Feature in der Frauenzeitschrift „Jane“, weil diese zur Voraussetzung macht, dass im Artikel nicht das Wort „lesbisch“ stehen darf. Kathleen Hanna berichtet davon, als „Feminazi“ beschimpft worden zu sein. Ein Radiomoderator interessiert sich einzig dafür, dass Hanna mal ein Grafitti an Kurt Cobains Hauswand gesprüht hatte – über Le Tigre weiß der Radiomann nichts und schämt sich nicht einmal dafür. Spaß gibt es allerdings auch, z. B. in Form einer Workout-Persiflage: Le Tigre hopsen auf Gymnastikbällen und zählen ihre Liegestütze (4100, 4101…). Da Le Tigre seit 2007 mehr oder weniger auf Eis liegen, ist „Who Took The Bomp?“ so etwas wie das Vermächtnis der Band. Don´t miss!

Konzertfilm: 69 Minuten; plus outtakes, bonus tracks und einem Interview mit Handpuppe Rattina.

Le Tigre: Who took the Bomp? DVD. Bisher nur als US-amerikanischer Import erhältlich – die Firma liefert aber prompt! Zur Bandseite.

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