Tut uns leid, dass es an dieser Stelle keinen launigen Buchmesserückblick gibt, der mit Anekdötchen und Literatur-Gossip gespickt ist – Frau Mohr eilte mit Tunnelblick durch die Messehallen und guckte nur nach Büchern, die für ihre Kolumne interessant sein könnten. Also Bücher über (Pop-)Musik und Musiker resp. Bücher von MusikerInnen. Und was soll man sagen, es werden von Jahr zu Jahr mehr: Biografien über Justin Bieber und DSDS-Sternchen, Noten zum Nachspielen des Gesamtwerks der Kastelruther Spatzen, Lithografien von Udo Lindenberg und ABBA-Bildbände. Seufz. So viel Papier, so wenig Lebenszeit …
Unbefriedigend und nutzlos
Also, keine Zeit verlieren! Wir eröffnen den Musikbuchreigen mit einem unfassbar grottigen Titel und arbeiten uns dann langsam hoch: Die Idee, ein ganzes Buch mit Bandnamen und ihren Bedeutungen vollzuschreiben, klingt erst mal ganz plausibel. Hat zwar was ungeheuer Nerdiges, aber hey, man wollte doch schon immer wissen, wer oder was Mott the Hoople ist, wie man Buzzcocks möglichst elegant übersetzt und warum The Band einfach The Band heißt und nicht etwa The Stupid Band oder The Crazy Band. Leider ist das Vater-Sohn-Gespann Manfred und Henning Schmidt bei Recherche und Niederschrift so schludrig vorgegangen, dass sich schon beim Vorwort die Haare des Lesers grau färben oder gleich ganz ausfallen: Wer Rhythm ohne vorderes „h“ schreibt und Bands namens „Bachmann, Turner Oberdrive“ und „Creedence Clearwater Revivel“ erfindet, dem traut man nicht und tut gut daran, denn es wird im Verlauf des Buchs immer schlimmer. Feeler über Veehler, man glaubt es kaum: Soll „Clarke Geebel“ ein Witz sein oder wussten es die Verfasser wirklich nicht besser? Wer waren die „Tremolos“? Möglicherweise ist die Sixtiesband The Tremeloes gemeint, aber sicher kann man da nicht sein. Genialische Übersetzungen à la „Mudhoney“, auf Deutsch etwa: „Schlammhonig“, müde Witzchen, unzählige Tipp- und Trennungsfehler und obsolete Erläuterungen, die seit Äonen zum Allgemeinwissen gehören, wie z. B., dass Depeche Mode ihren Namen von einer französischen Modezeitschrift entliehen haben, runden dieses durchweg unbefriedigende, nutzlose Machwerk ab, das meine an Popmusik gänzlich desinteressierte Tante an zwei Nachmittagen auch zusammengegoogelt hätte. Man könnte noch darüber wehklagen, wie viele Bäume für „Das Buch der Bandnamen“ sterben mussten, dass der renommierte Wissenschaftsverlag Königshausen & Neumann wenigstens die Praktikanten Korrekturlesen lassen und die Autoren zu gewissenhafterer Arbeit zwingen sollte – aber irgendwie ist es auch egal. Angesichts von ca. 90.000 Neuerscheinungen auf dem deutschen Buchmarkt wird für „Das Buch der Bandnamen“ nicht allzuviel Aufmerksamkeit übrig bleiben.
Henning Schmidt, Manfred Schmidt: Das Buch der Bandnamen (Königshausen & Neumann, Broschur, 128 Seiten). Zur Verlagshomepage.
Noch mehr Unnötiges …
Auch dieser Titel fällt in die Kategorie „Bücher, die die Welt nicht braucht“, obwohl Verlag und Autor eigentlich für solides Druckhandwerk in Sachen Rock und Pop stehen. Aber „Sex, Love & Rock’n’Roll“ ist nicht nur eine Ansammlung von in Hannibal-Büchern bereits gemeldeter Klatsch-und-Tratsch-Facts aus der wilden Welt des R’n’R, sondern überdies ein schon beinah rührend altmodisches, glatzköpfiges, bierbäuchiges und hechelatmiges Gaffen durch Schlüssellöcher, die ohnehin so groß wie Scheunentore sind. Vor vielen Jahren erwarb ich second hand eine sehr abgegriffene Ausgabe von Gary Hermans „Rock’n’Roll Babylon“, in dem immerhin Fotos der halbnackten Marianne Faithfull und Bianca Jagger zu sehen sind – in Hollow Skais „Skandalbuch“ gibt es stattdessen briefmarkengroße s/w-Abbildungen von Plattencovern der Cramps, von Rihanna und Mötley Crüe, wow! Die 320 Seiten des Buchs sind mit sagenhaften Enthüllungen gefüllt: So erfährt man z. B., dass CocoRosie der queeren Szene nahe stehen und MIT ANGEKLEBTEN BÄRTEN auftreten, dass Elvis laut Russ Meyer-Star Tura Satana wie ein „nasser Fisch“ küsste, dass Chris Isaaks schöne Partnerin im Video zu „Wicked Game“ Supermodel Helena Christensen heißt und David Bowie ANGEBLICH BISEXUELL ist. Oh, mir wird ganz schwummrig, huu! Dazu jede Menge unnötiger Listen, die sich in irgendeiner Form mit Drogen, Sex und fehlender Unterwäsche befassen. Wem darf ich mein Exemplar im neutralen Umschlag zuschicken?
Hollow Skai: Sex, Love & Rock’n’Roll (Hannibal, Broschur, 320 S., viele s/w-Fotos). Zur Verlagshomepage, zur Seite von Hollow Skai.
Informativ und kurzweilig
Wohltuend anders dagegen die „1001 Songs“: Normalerweise ist ja bei Büchern oder Listen, die sich anmaßen, qualitative Rangfolgen künstlerischer Werke zu erstellen, Skepsis angebracht. Der Schweizer Verlag Edition Olms macht dagegen alles richtig: Herausgeber Robert Dimery ist ein renommierter britischer Popkritiker und hat für Olms u. a. das schon in sechster Auflage erschienene „1001 Alben“ kuratiert. Dimery und seine Leute (49 Rezensenten) kennen sich aus, haben Spaß an der Musik und sind weder dem Mainstream noch dem totalen Indie-Nerdismus zu stark verhaftet. Außerdem gibt es keine „Charts“, sondern nur eine chronologische Sortierung. Beginnend im noch sehr jungen 20. Jahrhundert reitet man bis fast nach Heute: Der erste vorgestellte Song ist Enrico Carusos „O Sole Mio“ von 1916, der letzte „Stylo“ von den Gorillaz (2010). Dazwischen liest man sich in 999 kurzen und knappen, dabei höchst informativen und kurzweiligen Essays über Laurie Andersons „O Superman“ von 1981, Blondies „Atomic“ von 1979 oder „He’s A Rebel“ von den Crystals (1962) fest. Dimery und KollegInnen erklären anhand von „Radio Free Europe“, dass R.E.M. mal eine sehr tolle Band waren (1981 jedenfalls), dass „Don’t Stop Me Now“ von Queen auf jeder Festivität gespielt werden sollte und wofür das verrutschte „P“ auf dem Cover von Madonnas „Like A Prayer“ steht. „1001 Songs“ sind ein unerschöpfliches Kompendium aller Sparten, Genres und Musikrichtungen, Hip-Hop ist den AutorInnen genauso wichtig wie Punkrock, Doo Wop, Soul oder Elektro. Das 1000-seitige, aufwendig bebilderte Buch ist höchstens vergleichbar mit der 50-bändigen und damit recht unpraktisch zu lagernden „SZ-Discothek“ – nur ohne Tonmaterial, das man schon während der Lektüre entweder gierig aus dem eigenen Bestand zerren oder sofort erwerben möchte. Ob man es in der verbliebenen Lebensspanne noch schaffen kann, alle empfohlenen 1001 Songs zu hören, kann an dieser Stelle nicht garantiert, nur gewünscht werden.
Robert Dimery: 1001 Songs. Musik, die Sie hören sollten, bevor das Leben vorbei ist. Ausgewählt und vorgestellt von 49 internationalen Rezensenten. Mit einem Vorwort von Tony Visconti. Aus dem Englischen von Stefanie Kuballa-Cottone (Edition Olms, Klappenbroschur, 960 Seiten, ca. 800 z.T. farbige Fotos). Zur Verlagshomepage.
Nicht ohne Musik
Deutlich weniger als 1001, nämlich nur sechs Songs, benötigt Hirnforscher, Musiker, Produzent und Buchautor Daniel Levitin, um die Welt und das Menschsein zu erklären – wobei, wir erwähnen es vorab, diese Verkürzung der gewünschten Griffigkeit des Titels geschuldet ist. Vor fünf Jahren veröffentlichte Levitin die vielbeachtete Studie „Your Brain On Music“ (deutsch „Der Musik-Instinkt“, Spektrum Akademischer Verlag), in der er darlegt, welche nachweislichen Prozesse beim Musikhören oder -machen im Gehirn ablaufen. In seinem neuen Buch widmet sich Levitin neben der Neurowissenschaft der kulturellen und gesellschaftlichen Bedeutung von Musik. Ob sich der Mensch vom Tier – wenn überhaupt – durch Musikalität unterscheidet, wird seit langem diskutiert. Levitin definiert sechs Liedtypen, die seiner Auffassung nach Grundtypen der gesamten bisher dokumentierten Musikhistorie sind – und zwar weltweit. Diese Typen sind nach Levitin Freundschaft, Liebe, Freude, Trost, Wissen und Religion, was er historisch und inhaltlich belegt. In den einzelnen Kapiteln wird Levitin zuweilen etwas geschwätzig – er lässt es sich nicht nehmen, zu jeder erdenklichen Gelegenheit seine gute Freundschaft zu Sting und anderen Musikern zu erwähnen, auch seine Familiengeschichte muss immer wieder zur Begründung seiner Thesen herhalten. Dieser Plauderton ist es aber auch, was das Buch lebendig hält – und natürlich geht es Levitin um mehr als nur sechs Songs. Um viel mehr: Er schwelgt in Beispielen, zumeist aus der Rockgeschichte der letzten fünfzig Jahre, zitiert ausgiebig Songtexte (sogar von Sleater-Kinney!) und schreibt im Grunde eine Verteidigungsschrift für die populäre Musik. Er hält zwar auch musikalische Beispiele aus anderen Zeiten und Kulturen bereit, sein Fokus liegt aber klar auf dem angloamerikanischen Pop und auf seiner eigenen Biografie. Im Kapitel „Trost“ zählt er die Songs auf, die ihn zum Musikmachen brachten (z. B. „Autobahn“ von Kraftwerk und das komplette Beatles-Album „Revolver“), referiert über die Bedeutung der Countrymusic für Amerikaner und so weiter und so fort. Man driftet sehr oft gemeinsam mit Levitin ein wenig ab und vergisst das eigentliche Thema des Buches, das auch am Schluss nicht ganz klar geworden ist. Levitin wollte mutmaßlich einfach nur deutlich machen, dass der Mensch ohne Musik nicht leben kann und damit hat er: recht.
Daniel Levitin: Die Welt in sechs Songs. Aus dem Englischen von Susanne Röckel (Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann / Gebunden mit Schutzumschlag, 336 S.).
Christina Mohr