Geschrieben am 15. Juni 2011 von für Musikmag

Mohr Music: Berlin, ach mein Berlin

Sehnsuchtsort für Kreative – das war und ist immer noch Berlin. Ob Nick Cave, Mick Harvey oder Danielle de Piciotto, sie und zahllose andere haben sich von der Berliner Luft beeinflussen lassen. Christina Mohr über neue Bücher und Platten, die fest oder auch lose mit der Hauptstadt verknüpft sind.

Wenn die Sonne fehlt, wenn der Regen läuft,
wenn die Unterschicht das Kindergeld versäuft,

wenn die Hunde wachen, ihre Haufen machen,
ja dann sind wir wieder in Berlin…

(aus „Berlin“ von Christiane Rösinger)

Warmherziger Rückblick

Seit vergangenem Herbst hat Berlin dank Christiane Rösinger eine neue Hymne, die, siehe Textauszug oben, mit ihrem gehassliebten Objekt hart aber herzlich ins Gericht geht. Trotz aller (berechtigten) Kritik an der Hauptstadt: auch Christiane Rösinger gehört zu den vielen vielen Zugezogenen, die sich in Berlin in welcher Form auch immer selbst verwirklichen wollen. Berlin war und ist der Sehnsuchtsort für Kreative, für KünstlerInnen aller Couleur, zu Mauerzeiten überdies als Rettungsinsel für Kriegsdienstverweigerer interessant.

Beinah so lange wie Rösinger, seit 1987 nämlich, lebt auch die Multimediakünstlerin Danielle de Picciotto in Berlin. Nach längeren Aufenthalten in New York und Köln entschloss sich die 1965 geborene Italo-Amerikanerin, ihren Künstlerfreunden zu folgen und ihr Glück ebenfalls in Berlin zu versuchen. Über ihr Leben und Wirken in dieser Stadt hat de Picciotto jetzt ein Buch veröffentlicht, das nicht weniger als eine authentische Underground-Kulturgeschichte Berlins der letzten 25 Jahre ist – und die Liebeserklärung an eine Stadt, mit der de Picciotto bis heute untrennbar verbunden ist. De Picciotto jobbte in Clubs und Cafés und knüpfte beim Geldverdienen Kontakte. Mit ihrer eigenen Kunst (zunächst Mode, später Club-Ausstattungen, Zeichnungen, Gemälde, Video und und und) machte sie sich rasch einen Namen und wurde zum festen Bestandteil der Berliner Kreativszene.

Danielle war und ist sowohl Beobachterin als auch Mitgestalterin verschiedenster subkultureller Strömungen von Punk bis Techno: sie gehörte zur Ex’n’Pop-Clique, begründete mit ihrem damaligen Boyfriend Matthias Roeingh (Dr. Motte) 1989 die erste Love Parade und organisierte Raves in leerstehenden Industriegebäuden. Sie dekorierte Dimitri Hegemanns Tresor, machte Musik mit Gudrun Gut, nahm mit den Space Cowboys eine Platte auf, kuratierte unzählige Ausstellungen, tourte mit den Tiger Lillies – man könnte Danielles Aktivitäten minutiös aufzählen, viel schöner ist es aber, davon in ihrer eigenen Schreibe zu lesen. „The Beauty of Transgression“ ist ein einzigartig warmherziger (Rück-)Blick auf das schöne, wilde und manchmal auch verzweifelte Vierteljahrhundert einer „Ex-Pat“ in Berlin. Sie widmet FreundInnen, Clubs und Orten jeweils eigene Kapitel, sodass das Buch Panoptikum und Familienalbum zugleich ist – viele verschiedene Leute, Stile und Ideen, vereint durch die Kraft der Kunst.

Zur Ruhe gesetzt hat sich de Picciotto inzwischen keineswegs: gemeinsam mit ihrem Ehemann Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) entwickelt sie Bühnenprogramme wie z. B. die Neubearbeitung von Sebastian Brants „Narrenschiff“ aus dem 15. Jahrhundert, zudem veröffentlichten Hacke & Picciotto unlängst das Album „Hitman´s Heel“ und gingen unter dem Motto „Burn Baby Burn“ mit so illustren Kollegen wie Kid Congo Powers auf Tournee. Derzeit ist Danielle mit „The Beauty of Transgression“ auf Lesereise in Deutschland.

Danielle de Picciotto: The Beauty of Transgression. Die Gestalten Verlag. Gebunden mit Schutzumschlag, 288 Seiten, Englisch. Die Website der Künstlerin und Danielle de Picciotto bei Facebook.

Stilbildend

Danielle de Picciotto findet auch Erwähnung in „Berliner Chic“, einer Studie der kanadischen Kulturwissenschaftlerinnen Susan Ingram und Katrina Sark über Stil und Mode Berlins. Der Berliner Stil – sei es Mode oder Kunst – zeichne sich in erster Linie durch Montagetechnik aus, sprich durch das Kombinieren von Dingen, die nicht unbedingt zusammen passen, und vielleicht lässt sich diese Beobachtung mit dem zuweilen notgedrungenen Pragmatismus erklären, den Berliner ModeschöpferInnen, SchneiderInnen, KünstlerInnen seit jeher an den Tag legen mussten. In kaum einer anderen deutschen Stadt liegen Glanz und Glorie, Not und Elend so dicht zusammen; Kaiserzeit, Erster und Zweiter Weltkrieg, Teilung, Mauerbau, Wiedervereinigung – Berlin bekam die Geschichte immer am dicksten ab.

Und heute? Ist Berlin „arm, aber sexy“, Anziehungspunkt für Kreative und den EasyJet-Set, Heimstatt renommierter Museen und Gastgeber wichtiger Modemessen wie der „Bread & Butter“. Sark und Ingram konzentrieren sich nicht ausschließlich auf Bekleidung, wenn sie „Chic“ meinen: für den Berliner Style sind Musik und Fotografie, die Museenlandschaft und die Clubkultur genauso wichtig wie Designer und Boutiquen. Ebenfalls stilbildend sind Filme, die in Berlin spielen und ein Image der Stadt in die Welt tragen: man denke z. B. an die zu Berliner Ikonen gewordenen Schauspielerinnen Marlene Dietrich in „Der Blaue Engel“ und – aktueller – Franka Potente in „Lola rennt“. Die Autorinnen greifen Aspekte heraus, die so kurios wie typisch für Berlin sind: so befindet sich das weltweit einzige Museum, das sich dem Werk der Ramones widmet, nicht etwa in Queens/New York, sondern in Berlin – weil hier der glühendste Fan der Ramones lebt: Flo Hayler, seines Zeichens Chefredakteur des Magazins unclesally*s.

Und natürlich die Love Parade, die in Berlin als fröhliche „Friede, Freude, Eierkuchen“-Tanzdemo mit ein paar hundert Ravern begann (in diesem Zusammenhang wird de Picciotto in „Berliner Chic“ erwähnt, leider nicht als Designerin) und den Grundstein legte für Berlins bis heute lebendige Techno-Szene, die u. a. Clubs wie den legendären Tresor und das Berghain hervorbrachte, die jedes Wochenende Besucher aus aller Welt anziehen. Das Aufeinandertreffen vieler verschiedener Szenen beeinflusst selbstverständlich die Arbeit der Berliner Modeschöpfer, seien sie ‚echte‘ Berliner oder Zugezogene. Einen kohärenten Berliner Stil gibt es nicht – aber den Berliner Chic. Und der ist quasi immer auf Montage.

Susan Ingram, Katrin Sark: Berliner Chic: A Locational History of Berlin Fashion. Intellect.  Broschur, 256 Seiten.

Nick Cave & The Bad Seeds: No More Shall We PartLetzte Rettung Berlin

Soundtracks für Berlin kann man sich ja einige vorstellen, vom nostalgischen Schlager „Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin“ über Gassenhauer wie „Kreuzberger Nächte“ und Popklassiker wie David Bowies „Heroes“; Frickelelektro, Funpunk, Schranztechno, der expressive Lärm der Einstürzenden Neubauten – die Liste wird lang und das Mixtape voll.

Wer auf keinen Fall fehlen darf, ist Nick Cave, der von 1983 bis 1989 in Berlin lebte und dort laut eigener Aussage eine ziemlich gute Zeit hatte: In einem Interview mit einer deutschen Zeitung lobt er 2008 die „unglaubliche Gastfreundschaft der Deutschen“ und die „intellektuelle Umgebung, die wirklich stimulierend war! Mir kam es vor, als wäre eine wundervolle Bombe in meinem Leben explodiert.“ Zu diesen begeisterten Eindrücken mag beigetragen haben, dass Cave zuvor ein trostloses Dasein als drogensüchtiger und relativ unbeachteter Künstler in London fristete. Der Umzug nach Berlin war Verheißung und vielleicht letzte Rettung – auf jeden Fall nutzte Nick Cave nutzte seine Berliner Zeit zum ausgiebigen Musikmachen.

Noch im selben Jahr seiner Ankunft gründete Cave mit Blixa Bargeld, Mick Harvey, Barry Adamson und Hugo Race die Bad Seeds – seine Band, die noch heute besteht, allerdings ohne Bargeld und Harvey. 1984 erschien das erste Album der Bad Seeds, „From Her To Eternity“, ein Meilenstein des düsteren Punk-Blues und Beginn einer äußerst langlebigen und erfolgreichen Bandgeschichte. So erfolgreich, dass alle Bad Seeds-Alben peu á peu als neu gemasterte, aufwändig verpackte und mit Doku-DVDs angereicherte CD-Sondereditionen wiederveröffentlicht werden. Die vier jüngst erschienenen Alben „Let Love In“ (Original von 1994), „Murder Ballads“ (’96), „The Boatman´s Call“ (’97) und „No More Shall We Part“ (2001) entstanden zwar, als Cave Berlin längst verlassen hatte, um sich in Sao Paulo und später Brighton nieder zu lassen, sind aber – schon allein durch die Berlinverbundenheit der anderen Musiker – durchaus noch von Berliner Zeiten beeinflusst.

Spätestens mit „Murder Ballads“ begann der kommerzielle Höhenflug Nick Caves: noch heute gilt sein Duett mit Kylie Minogue, „Where The Wild Roses Grow“ als einzigartiger Coup. Durch Cave wurde die bis dahin als Stock/Aitken/Waterman-Hupfdohle belächelte Minogue auch in Indie-Fankreisen rehabilitiert; Cave profitierte von Minogues Mainstream-Popularität. Auf „Murder Ballads“ befindet sich auch „Henry Lee“, ein Duett mit PJ Harvey, mit der Cave zu jener Zeit eine heftige, aber kurzlebige Liebesaffäre verband. Mit „The Boatman´s Call“ setzte sich Caves Erfolgsgeschichte fort, wenn auch die vom Neuen Testament beeinflussten Texte und der rockigere Sound viele Fans irritierten. Aber Cave ist es ernst mit Gott und der Bibel: 1998 schrieb er eine Einleitung zum Markus-Evangelium. Was hat das jetzt alles mit Berlin zu tun? Wurde Cave in Berlin zum Christen? Hat Berlin Nick Cave gerettet? Ersteres ist ungeklärt, letzteres würde er sicherlich unterschreiben.

Nick Cave & The Bad Seeds Remastered 2011 (jeweils CD + DVD). Mute; The Boatman´s Call; Murder Ballads; Let Love In; No More Shall We Part Die Homepage der Künstler. Nick Cave & The Bad Seeds auf Myspace und bei Facebook.

Mick Harvey: Sketches From The Book Of The DeadHabt keine Angst

Von 1986 bis ’89 spielte der Berliner Musiker Roland Wolf Keyboards bei Nick Cave & The Bad Seeds, Wolf ist auf den Alben „Tender Prey“ und „The Good Son“ zu hören. Einige Jahre später waren Roland Wolf und Danielle de Picciotto ein Paar, de Picciotto berichtet über diese nicht immer unbelastete Beziehung in ihrem Buch „The Beauty of Transgression“. Wolf starb 1995 an den Folgen eines Autounfalls, kurz nachdem er seine langjährige Heroinsucht überwunden hatte. Sein Bad Seed-Kollege Mick Harvey widmet sein aktuelles Album „Sketches From The Book Of The Dead“ toten Verwandten und Freunden, zu denen auch Roland Wolf gehört.

Harvey bedient sich dafür des US-amerikanisch geprägten Folksongs und des Blues, die Texte sind ebenfalls an das amerikanische Storytelling angelehnt. Songs – die eigentlich keine „Songs“ sind, sondern Skizzen/Sketches – wie „October Boy“, „The Bells Never Rang“ oder „That´s All, Paul“ sind traurig und wehmütig, beklagen das Verrinnen der Zeit und das Abschiednehmen-Müssen von allem und allen, verbreiten aber dennoch Hoffnung. Und sagen auch: Habt keine Angst, Freunde. Morbide, aber auch schön.

Mick Harvey: Sketches From The Book Of The Dead. Good to Go/Mute. Die Homepage des Musikers. Mick Harvey bei Facebook und auf Myspace.

Christina Mohr