Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Musikmag, Vermischtes

Mohr Music

Unsere Autorin Christina Mohr hat sich durch musikalische Neuveröffentlichungen aus Frauenhand gehört und nebenher zwei interessante Bücher mit feministischer Brille gelesen.

Joan As Policewoman: The Deep FieldSinnliche Erweckung: Joan As Policewoman

„Isn’t it great we made it until here?!“ ruft am Ende eines langen Interviewtages die überdrehte Joan Wasser ins Telefon, als ich ihr eröffne, ebenso wie sie den 40. Geburtstag bereits hinter mir zu haben. Die Sängerin, Violinistin und Pianistin Joan Wasser aka Joan As Policewoman beschloss an jenem Tag, keine Kompromisse mehr einzugehen, nur noch zu tun, was sie wirklich will. Und das war zuallererst, ein lebensbejahendes, weltumarmendes Soul-Album aufzunehmen. Auch ihre eher introspektiven Alben „Real Life“ und „To Survive“ waren trotz aller offen gelegten Selbstzweifel positiv gedacht und trugen Soul im Sinne Al Greens in sich. Doch erst auf ihrem Coming-of-age-Album „The Deep Field“ enthüllt Joan ihre sinnliche Seite. „I want you to fall in love with me“ – unmissverständlich beginnt das Album mit „Nervous“, in „The Action Man“ wird Joan noch direkter: „Ain’t we talked enough already/ and don’t you wanna be/ the action man“. Das Älterwerden habe dazu geführt, sich mehr zuzutrauen und mehr zu wollen, erklärt Joan. Einschneidende Ereignisse wie der Tod ihrer Mutter und eine von Damon Albarn organisierte Reise nach Äthiopien taten das Übrige, um in Joan eine so nie gekannte Stärke zu entfesseln. „Ich vertraue mir selbst mehr“, sagt sie, „und das hat eine Menge mit Loslassen-können zu tun.“ Auf „The Deep Field“ lässt Joan los und beginnt neu: umgeben von alten Weggefährten wie Sänger Joseph Arthur und Trompeter Doug Wieselman, nicht weniger als fünf verschiedenen Bassisten wie z. B. Nathan Larson von Shudder To Think und weiteren Gastmusikern taucht Joan tief ein in lässig in den Knien federnden Blue Eyed-Soul und sogar Rock. Die meisten Songs sind sechs, sieben Minuten lang, ohne Rücksicht auf radiokompatible Konventionen. Das Tempo ist moderat, die Stimmung leidenschaftlich – Joans Stimme ein Instrument, so wichtig und präsent wie die anderen, die Gitarre und die fünf verschiedenen Bässe, Joseph Arthurs Einsätze wunderschön. Joan As Policewoman schwimmt sich auf „The Deep Field“ frei, verlässt die Ära, in der sie vorwiegend als Begleitmusikerin des berühmten Antony und des berühmten Rufus erwähnt wurde. Aber, diese Frage muss man mit der aktuellen Spex stellen, was folgt auf die sinnlich-erweckte Joan? Die religiös-geläuterte?

Joan As Policewoman: The Deep Field. Pias.
www.joanaspolicewoman.com

Regina Spector Live In LondonIdealtypische Singer-/Songwriterin: Regina Spektor

Regina Spektor, 30 Jahre alt, amerikanische Singer/Songwriterin und Pianistin mit russischen Wurzeln, ist zu Recht und hoffentlich nicht nur kurzfristig Publikums- und Kritikerdarling gleichermaßen. Wie beliebt sie ist, veranschaulicht ihr aktuelles Live-Album, das im Londoner Hammersmith Apollo Theatre aufgenommen wurde: die Fans feiern Spektor begeistert und wollen sie gar nicht mehr von der Bühne lassen. Zu sehen auf der beigelegten DVD, die neben den Liveaufnahmen mit amüsantem Backstage-Material aufwartet. Das Paket ist eine schöne, runde Sache, das Regina Spektor als mitreißende, charmante Performerin zeigt (nicht selbstverständlich, wenn man hauptsächlich am Klavier sitzt!), vor allem aber als tolle Komponistin. Energiegeladene Stücke wie „Eet“, „Dance Anthem of the 80’s“, „The Calculation“ oder „Us“ überzeugen in den Liveversionen genauso wie die sensiblen Balladen. „Live In London“ ist ganz nebenbei ein „Best Of“-Album von Regina Spektor – nach immerhin zehn Jahren als recording artist darf man das schon mal machen.Auf „Live In London“ erscheint Regina Spektor als idealtypische Singer/Songwriterin: Ihre Biografie ist spannend und sorgt für originelle Songideen. Regina ist eine begnadete Pianistin, dabei nicht so idiosynkratisch wie Tori Amos, mit der sie oft verglichen wird. Spektors Songs sind weder zu glatt noch zu schräg: Rockbands wie The Strokes lieben Regina Spektor ebenso wie Poppianist Ben Folds, sowohl mit den Strokes als auch mit Folds arbeitete sie bereits zusammen. Spektor erzählt brilliant beobachtete Geschichten, und wird dabei manchmal recht drastisch (z. B. bei „Ode To Divorce“ oder „Love, You’re a Whore“), was zum „Parental Advisory“-Sticker auf der amerikanischen Version des Albums führte. Ihre Stimme ist klar, kräftig und voller Emotion, dazu ist Regina Spektor auch noch freundlich, sympathisch und gut aussehend. Wo ist der Haken, möchte man fragen – wir finden keinen!

Regina Spektor Live In London. CD + DVD. Sire (Warner).
www.reginaspektor.com
www.myspace.com/reginaspektor

Ciara: Basic InstinctReady for Grabbeltisch: Ciara

Vor gut fünf Jahren nahm die aus Atlanta stammende R’n’B-Sängerin Ciara mit Missy Elliott den Track „1,2 Step“ auf – und man darf behaupten, dass diese Single der Höhepunkt in Ciaras Laufbahn war. Mit ihrem vierten Album „Basic Instinct“ erinnert die 25-jährige Ciara nicht nur qua Titel an längst vergangene Zeiten (hu, wie verrucht: „Basic Instinct“, der Film aus den Achtzigern, in dem man freien Blick auf Sharon Stones private parts hatte). Der Mischmasch aus aalglattem Konfektions-R’n’B, müdem Hip-Hop, uninspirierten elektronischen Dance-Beats und – yeah, wie modern! – Autotune-Effekten wirkt reichlich abgestanden und macht auch mittelmäßige Konkurrenzprodukte wie z. B. Rihannas aktuelles Album im Handstreich zu Meisterwerken. Dabei scheint Ciara, die als Soldatenkind einige Jahre in Mittelhessen verbrachte, auf den ersten Blick alles richtig zu machen: als Produzenten wurden Tricky Stewart und The Dream verpflichtet, Ludacris und Usher treten als Gastrapper auf, die Bässe pumpen tief und locken auf die Tanzfläche, der Albumeinstieg mit „Eye Of The Tiger“-Zitat spricht sogar für ein bisschen Humor. Und doch offenbart „Basic Instinct“ nur die ganze Misere des R’n’B, vor allem die der weiblichen Acts: Ciara ist nur eine mittelmäßige Sängerin und Rapperin, sieht aber super aus. Ganz klare Sache also für Ciaras männliche Zeremonienmeister: möglichst viele Centerfold-Fotos von Ciara (Ciara in Hotpants, Ciara im schwarzen Netzshirt im Regen) ins Booklet packen, ein paar sexysexy (Achtung, X-Rated!) Lyrics in Tracks wie „Ride“ (man ahnt, worum es geht), dazu ein fadenscheinig emanzipatorischer Song namens „Girls Get Your Money“ – und fertig ist das Convenience-Produkt „Basic Instinct“, Haltbarkeitsdatum bereits abgelaufen, ab auf den Grabbeltisch. Oh Mann, wenn es nicht so traurig wäre, könnte man glatt drüber lachen.

Ciara: Basic Instinct. Zomba (Sony Music).

Caroline Henderson: Keeper Of The FlameEine große Stimme: Caroline Henderson

Dass JazzsängerInnen Alben mit Coverversionen und Standards aufnehmen, ist nicht ungewöhnlich. Im Gegenteil, oft scheint es, als gehöre das Covern und Neuinterpretieren zum Vokaljazz zwangsläufig dazu – und ebenso oft gerät das Nachsingen bekannter Stücke zur reinen Pflichtübung für Künstler und Fans. Nicht aber bei der schwedisch-amerikanischen Sängerin Caroline Henderson, die in ihrer Wahlheimat Dänemark ein großer Star ist: Henderson hat für ihr nunmehr neuntes Album „Keeper Of The Flame“ zwar auch einige sehr berühmte Stücke wie Nat King Coles „Nature Boy“, Cole Porters „Get Out Of Town“ und den Über-Klassiker „Caravan“ von Duke Ellington ausgesucht, ihre Wahl traf aber auch auf außergewöhnliche, aktuellere Kompositionen wie PJ Harveys „This Is Love“ und „Yesterday Is Here“ von Tom Waits und Kathleen Brennan. Caroline Henderson besitzt eine einzigartig volltönende, warm-dunkle Samtstimme, mit der sie jeden „fremden“ Song zu ihrem eigenen macht: so klingt Bob Dylans „Ring Them Bells“, als hätte er es für niemand anderen als Caroline geschrieben, und auch das titelgebende „Keeper Of The Flame“ hat man lange nicht so emotional und packend gehört. Henderson nutzt zeitlos klassische Jazz-Arrangements, um wahrhaft zeitlose Songs zu kreieren oder leicht angestaubte neu zu beleben. Caroline Henderson ist eine echte Diva und große Künstlerin, vergleichbar mit Nina Simone und Billie Holiday, was man ja nicht grundlos behaupten sollte. Mit der Eigenkomposition „Evolution“ erweist sie sich zudem als versierte Songwriterin, die mit dem Covern vertrauter Stücke ihrer eigenen Arbeit lediglich ein weiteres Sahnehäubchen aufsetzt.

Caroline Henderson: Keeper Of The Flame. Sony.

Anna Calvi: ditoDüstere Diva: Anna Calvi

Manch einem wird als Referenz für Anna Calvi genügen, dass ihr Mentor Brian Eno heißt und Nick Cave sie als Support für die letzte Grinderman-Tour verpflichtete. Doch selbst nur flüchtiges Hören von Calvis Debütalbum (produziert von Rob Ellis, um einen weiteren berühmten Mann einzuführen) macht klar, dass es die junge Italo-Britin auch ohne Schützenhilfe der oben Genannten schaffen würde. Anna Calvi ist Gitarristin und Sängerin: so weit, so profan. Aber wie sie singt, und vor allem, wie sie Gitarre spielt, ist mehr als außergewöhnlich. Geschult durch so unterschiedliche Einflüsse wie Debussy und Django Reinhardt, Maria Callas, Scott Walker, Leonard Cohen, Roy Orbison und Nina Simone, ist Calvis Musik nicht einfach Pop oder Indie oder Was-auch-immer. Atmosphärisch vergleichbar mit Musikerinnen wie Kaki King und Gemma Ray zelebriert Anna Calvi eine düstere Grundstimmung, ihre operntaugliche Stimme trägt durch nostalgische Teenage-Angst-Epen mit morbiden Texten. Calvis Gitarrenspiel ist virtuos, beeinflusst von Reinhardt und Jimi Hendrix, dabei völlig eigenständig und unverwechselbar. Unterstützt wird sie von Mally Harpaz am Harmonium und Drummer Daniel Maiden-Wood – und doch gelingt dem Trio mit dieser aufs Wesentliche reduzierten Instrumentierung ein voller, opulenter Sound, gemäß Calvis Wunsch, „ihre Gitarre wie ein ganzes Orchester“ klingen zu lassen. Songs wie „Desire“, „Suzanne And I“ und „Morning Light“ sind gospelhafte Hymnen, in ihrer Perfektion Ehrfurcht gebietend und dabei doch popaffin und zugänglich. Calvis erste Single „Jezebel“ war ein Remake der durch Edith Piaf berühmt gewordenen Wayne Shanklin-Komposition und verschaffte ihr viel Aufmerksamkeit. Es passt zur durch und durch bemerkenswerten Künstlerin Calvi, dass dieser Song nicht auf dem Album zu finden ist – sie empfindet ihr Debüt als abgeschlossene Einheit, die nicht aus kommerziellen Gründen aufgebrochen werden darf.

Anna Calvi: dito. Domino.
www.myspace.com/annacalvi

Various: Funky Fräuleins 2Schlagersängerinnen auf der Suche nach Glamour: „Funky Fräuleins II“

Zwischen den späten 1960er- und mittleren 80er-Jahren suchten deutschsprachige Schlagersängerinnen nach neuen Ausdrucksformen, die weniger betulich klangen als das übliche Hitparadenliedgut. Für viele lag die Lösung im Funk und im in den 70ern aus den USA herüberschwappenden Discosound. Vor einem Jahr sorgte der Sampler „Funky Fräuleins“ für jede Menge Aha-Erlebnisse, und weil sich so viele Sängerinnen auf dem weiten Feld von Funk, Beat und Disco versuchten, musste für „Funky Fräuleins 2“ nicht auf langweiliges Material zurückgegriffen werden. Auch hier findet sich Erstaunliches, wenn auch bei den deutschen Disco-Übungen viel Quatsch herauskam, wie Joy Flemings zwar stimmlich beeindruckende Coverversion von „Fever“, die aber kein Liebesglühen, sondern einen faulen Opa zum Inhalt hat. Weitere Kuriositäten wie die Mitropa-Lobeshymne „He, wir fahr’n mit dem Zug“ von DDR-Star Veronika Fischer oder das rührend brave „Mein Wochenende“ von „Schätzchen“ Uschi Glas lassen die echten Perlen umso heller strahlen: allen voran die „schwärzeste weiße Stimme Deutschlands“, Su Kramer mit dem knochentrockenen Funkmonster „Weißer Sand“ oder Bluesrockerin Inga Rumpf mit ihrer Version von Stevie Wonders „Superstition“. Auch Peggy March, Hildegard Knef und Heidelinde Weis, die schon auf „FF 1“ vertreten waren, sind mit guten Songs zu hören.
Wirken heute auch viele der hier versammelten Lieder albern und peinlich, muss man sie doch vor dem Hintergrund ihrer Zeit betrachten: vor 35 Jahren verhießen Disco und Funk Ausschweifung, künstlerische Entfaltung und Sexyness. Für deutsche Schlagersängerinnen, die mit ihrem biederen Image kämpften, eine willkommene Gelegenheit, etwas Glamour zu erhaschen. Gleichzeitig darf man in die groovy Geh- bzw. Tanzversuche von Lill Lindfors oder Uschi Moser nicht zu viel hineininterpretieren. Fast immer lenkten männliche Komponisten, Produzenten und Manager die Geschicke ihrer Schützlinge. Der Einfluss der Sängerinnen selbst blieb auf ein Minimum beschränkt. Su Kramer, Anne Haigis und Inga Rumpf mögen Ausnahmen sein, von künstlerischer Emanzipation kann jedoch keine Rede sein. Glitzerfummel hin, Discokugel her.

Various: Funky Fräuleins 2. Female beat, groove, funk from Germany 1968 – 1981. Große Freiheit/Bureau B (Indigo).

Ulrike Haage: in:finitumSpartanisch, aber reich an Wohlklang: Ulrike Haage

Kein Ton zuviel, aber auch keiner zuwenig. Auf diesen sehr kurzen Claim könnte man „In:finitum“, neuestes Album der Komponistin und Pianistin Ulrike Haage, reduzieren. Doch schon der Albumtitel drückt aus, dass Haage nicht an schneller, oberflächlicher Wirkung interessiert ist. Ob mit ihren Avantgardeprojekten Stein und Vladimir Estragon, ob als ehemalige Weggefährtin Katharina Francks bei den Rainbirds, als Solokünstlerin oder Leaderin der Jazztruppe Reichlich Weiblich – stets ist Ulrike Haage auf der Suche nach dem richtigen Ton. Veränderung ist Programm, Stillstand wäre tödlich. Auf ihrer inzwischen dritten Soloplatte „In:finitum“ wird Haage vom Schlagzeuger Eric Schäfer, Uwe Steinmetz am Saxofon und der Mezzosopranistin Franziska Markowitsch begleitet. Ulrike Haage ist eine so sensible wie bestimmte Musikerin: in jedem Ton des Albums ist ihre Handschrift spürbar, ohne sich zu stark aufzudrängen. Ihr Pianospiel hält das Album zusammen, sorgt für den Wiedererkennungswert. Die anderen Instrumente und Markowitschs Gesang entfalten sich in klassischen Arrangements, die spartanisch, nie sperrig sind. Effekthascherei ist Haages Sache nicht, markante Hooks finden sich auf „In:finitum“ nicht. Dafür einen infiniten stream of musical consciousness, minimalistisch und doch unendlich reich.

Ulrike Haage: In:finitum. blue pearls music.
www.myspace.com/ulrikehaage

Haerdle: Amazonen der Arena

Frauen in der Manege: „Amazonen der Arena“

Das Zirkus-und-Manege-Motiv ist im Popgeschäft sehr beliebt – auch wenn man sich heutzutage zeitgemäßere Sujets vorstellen könnte, nennen Stars wie Take That, Britney Spears oder Mia. Touren und Alben „Circus“ oder dressen sich wie Madonna mit Zylinder und Peitsche als Dompteuse/Direktorin. Wie gefährlich, anrüchig, aufreibend und anstrengend das Leben echter Zirkusleute war und ist, können sich oben genannte KünstlerInnen wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellen. Wir „Normalos“ allerdings auch nicht. Vor knapp vier Jahren veröffentlichte die Berliner Autorin Stephanie Haerdle im Verlag Aviva mit „Keine Angst haben, das ist unser Beruf!“ ein Buch, das auf bisher nie geschehene Weise die Lebensläufe von Zirkuskünstlerinnen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts darstellt. Haerdles Arbeit ist nun in etwas gekürzter Form als Wagenbach-Taschenbuch unter dem Titel „Amazonen der Arena: Zirkusartistinnen und Dompteusen“ erhältlich – ein ungemein lohnenswertes Leseerlebnis: Haerdle beschreibt das Leben wahrlich außergewöhnlicher, unkonventioneller Frauen, die, man verzeihe mir diese Floskel, im harten Zirkusalltag ihren Mann standen. Hatte das Dasein als Zirkusartistin auch nur eine geringe Vorbildfunktion für die breiteren Schichten der Gesellschaft, darf der Zirkus doch eine Brutstätte der Emanzipation genannt werden. Bei aller Härte erlaubte der Zirkus Frauen nämlich schon vor gut 150 Jahren, was das bürgerliche Leben nicht vorsah: eigenständiges Arbeiten, Reisen durch die ganze Welt, Führungspositionen und nicht zuletzt die Chance, nicht heiraten zu müssen. Dass Zirkusfrauen unter schwierigsten Umständen doch hin und wieder Kinder bekamen, war natürlich wichtig für den Fortbestand von Zirkusdynastien wie Busch, Barum oder Krone. Doch viele Dompteusen, lebende Kanonenkugeln und tollkühne Todesfahrerinnen blieben kinderlos – oder starben in der Manege, bevor sie sich über künftige Familienfreuden Gedanken machen konnten. Die von Haerdle ausgewählten Beispiele wie z. B. die legendäre Löwen-Dompteuse Tilly Bébé, Zirkusdirektorin Margarete Kreiser-Barum, Kraftartistinnen wie Katharina Brumbach und „Athleta“ oder Sensationsartistin Hélène Dutrieu, die als „menschlicher Pfeil“ Geschichte schrieb (sie schoss auf dem Fahrrad im freien Flug über Hindernisse), sind hervorragend recherchiert und spannend beschrieben – atemlos und staunend blättert man sich von Amazone zu Amazone und mag kaum glauben, welche Anstrengungen Zirkusartistinnen auf sich nahmen, um in diesem Metier zu bestehen. Gerade Kraftartistinnen hatten stark unter den Anfeindungen der männlichen „Herkulesse“ zu leiden, die ihre Vorherrschaft auf diesem Gebiet bedroht sahen und ihre weiblichen Konkurrentinnen nicht selten des Betrugs bezichtigten. Doch keine der tollkühnen Amazonen wünschte sich ein bürgerliches Leben als Ehefrau eines braven Mannes – der Zauber der Manege wog alle Entbehrung auf. Damit ließe sich der Bogen zu oben genannten Popstars spannen, die gewiss Ähnliches von sich behaupten würden. Doch die von Stephanie Haerdle präsentierten Zirkuskünstlerinnen arbeiteten im Wort- und übertragenen Sinne meist ohne Netz und doppelten Boden.

Stephanie Haerdle: Amazonen der Arena: Zirkusartistinnen und Dompteusen. Wagenbach Taschenbuch, 192 Seiten. 12,90 Euro.

absolute FeminismusFeminismus, gesamplet: „absolute Feminismus“

Vor einigen Wochen haben wir an dieser Stelle den Sammelband „Klassikerinnen feministischer Theorie“ aus dem Ulrike Helmer Verlag empfohlen. Bei orange press ist in der von Klaus Theweleit herausgegebenen Reihe „absolute ein auf den ersten Blick recht ähnlicher Band erschienen: „Feminismus, herausgegeben und kommentiert von der Kunsthistorikerin Gudrun Ankele, stellt ebenfalls Textauszüge berühmter Autorinnen vor, orientiert sich aber weniger an der klassischen Feministinnenschule. Ankele präsentiert radikalere, im weitesten Sinne „popfeministische“ Texte (wobei wohl erst in der Zukunft zu klären sein wird, was das denn damals war, Popfeminismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts), z. B. Virginie Despentes‘ „King Kong Theorie“, Judith Butler, Valie Export, Mina Loy, Donna Haraways „Manifest für Cyborgs“, die „pessimistischen Kardinalsätze“ von Helene Druskowitz, Valerie Solanas‘ berüchtigt-legendäres „SCUM-Manifest“ und Beatriz Preciados „Kontrasexuelles Manifest“, das in seiner Kompromisslosigkeit so obskur wie undurchführbar ist. Gudrun Ankele begrenzt ihre Auswahl nicht auf das 20. und 21. Jahrhundert, sie verwendet auch Originaltexte von Olympe de Gouges und – als eine der ersten explizit feministischen schriftlichen Äußerungen überhaupt – Christine de Pizans Utopie „Buch von der Stadt der Frauen“ aus dem Jahre 1405, die selbst aus heutiger Sicht erstaunlich modern und leider noch immer utopisch wirkt. Dass Ankele als selbst performende Künstlerin (z. B. mit den „Schwestern Brüll“) ein großes Interesse an Musik und Performance hat, verdeutlichen Texte wie Kathleen Hannahs „Riot-Grrrl-Manifest“, die kompletten Lyrics von Gustavs „We Shall Overcome“-Version oder die naturerotischen „25 Möglichkeiten, die Erde zu lieben“, verfasst von Charity-Porn-Queen Annie Sprinkle und Elizabeth M. Stephens.
In den vier Kapiteln vorangestellten Essays erläutert Ankele klug und eloquent die großen feministischen Themen Gemeinsam leben und handeln – Utopie oder Realität – Körper, Sex/Gender, Porno – Neue Gesellschaftsmodelle. „absolute Feminismus überzeugt durch die Kombination von Politik, Philosophie, Pop, Historie und aktueller Debatte und ist so der Popfeministin (wer immer sie ist, siehe oben) sicherlich näher als Ulrike Helmers „Klassikerinnen“.

absolute Feminismus. Hg. von Gudrun Ankele. orange press, broschiert, 221 Seiten. 18,00 Euro.

Christina Mohr