Wer es echt super findet, wenn ein Konzert außerordentlich lang war und jeder ein Solo spielte, für den wurden Deep Purple erfunden. Dafür gebührt der Band mindestens eine Medaille für Rock-Klassikertum, findet Matthias Penzel.
Darf’s etwas mehr sein?
– Im Hinterland ticken die Uhren anders. Und nicht nur die Uhren. Dank MTV weiß man zwar überall, was hip aussieht, man kennt Gesten und Turnschuhmarken aus Harlem und Manchester, aus Compton und anderen Slums westlicher Industrienationen. Doch eins ist in kleineren Städten bis heute unbekannt: dass mehr und länger und dicker nicht gleichbedeutend ist mit besser. Wer es echt supi findet, wenn ein Konzert außerordentlich lang war und jeder ein Solo spielte, für den wurden Deep Purple erfunden.
Das lustige: Lange wussten das Deep Purple nicht. Zunächst verwurstelte das Quintett Bolero und Beatles und Hendrix mit Psychedelic Sounds, die so kamen wie zweitklassige Procol Harum mit schlechten oder wenig, vielleicht auch gestreckten Drogen. Sie rangen mit einem Keyboarder, der wie alle Tastenleute gern Sperenzchen vorführte, wie sie auch Musiklehrer schätzen (und das London Symphony Orchestra bass erstaunte). Und nach einer Handvoll Platten, Besetzungswechsel 1970 „In Rock“. Wie in Fels gemeißelt, ganz mächtig. Riffs und Gedröhne und Pfeifen wie Mount Rushmore. Solch drastische Wechsel von Stil – dann auch Live-Act und Kontostand – gibt es so selten, dass man ihnen eine Medaille dafür geben möchte, am besten in Gold und viereckig: 33 x 33 cm, in der Mitte ein Bild der Band bei der Arbeit auf der Bühne.
Kurz darauf „Fireball“, für die Zeit außerordentlich schnell, ja richtig eilig schon der Opener „Speed King“, rasend schnell darauf folgend, die Platte mit „Smoke On The Water“, das Studio war abgebrannt, eingespielt wurde „Machine Head“ im Hotelflur. Und nonstop auf Tour, 1972 ganze 44 Wochen. Irgendwann meinte irgendwer bei der US-Plattenfirma, die Band solle in Japan ein Livealbum aufzunehmen, nur für den dortigen Markt. Drei Konzerte wurden mitgeschnitten, in Tokyo und Osaka – 1972, also lange vor Dylan, Cheap Trick, Scorpions usw. Obwohl mit bescheidener Technik, ohne Overdubs, setzten Sound und Performance einen neuen Standard (also vor Led Zeppelin, Black Sabbath, Uriah Heep und an wen man sich erinnern kann … oder will, ohne dass vor lauter Scham wichtige Äderchen zerplatzen).

Die Mark II- Besetzung.
Wie oft ist eine Platte abspielbar?
Anders als die Rolling Stones, The Who und Grand Funk Railroad (die bereits Livealben veröffentlicht hatten) gehörten Deep Purple zu den Musikern, die ihr Handwerk ernst nahmen. „Made In Japan“ führte dies vor. Fast zwangsläufig waren die Songs sehr lang, auf dem Doppelalbum erklingen nur sieben (wie auf fast jeder Platte, auf der Ritchie Blackmore wirkte, auch noch Jahre nach seinem Split von Purple). Noch 1972 kam das Album in die Läden. Und nichts war wie vorher. Tausende Metalheads saßen mit Kopfhörer und Airguitar oder Trommelstöcken in Kinderzimmern und überprüften, wie oft eine Schallplatte abspielbar ist. Zur Musik, auch der drei vorherigen Studioalben, ist wenig zu sagen – „hat ja sowieso jeder – wenn schon nicht selbst gekauft, dann wenigstens geerbt“, so Frank Schäfer in dem Buch „Heavy Metal“.
Ein neues Kapitel auch für den Fotografen Fin Costello: „Ende der Sechziger ging alles ganz locker, es gab viele kleine Label wie Island, A&M, Bronze Records gaben mir erste Jobs, ein Cover für Uriah Heep, in wenigen Monaten machte ich Humble Pie, Manfred Mann, und der große Wurf dann 1972: Deep Purples ‚Made In Japan‘. Was für mich dadurch losgetreten wurde, war phänomenal: Als direkte Folge davon bekam ich den Auftrag für Kiss’ ‚Alive‘ und ‚Rocks‘ von Aerosmith.“ Das Cover von „Made In Japan“: in Gold und viereckig, in der Mitte ein Foto Deep Purples bei der Arbeit (in London, siehe Bühnenrampe mit Logo des Rainbow!).
Mehr als dreißig Jahre später scheiden sich die Gemüter unverändert an den Duellen zwischen Jon Lords Hammond-Orgel und Ritchie Blackmores erratischem Krieg auf der Stratocaster, dem meisterhaft epischen über 20-minütigen „Space Truckin’“ und mit Johann Sebastian Bach verpanschten Vanilla-Fudge-Anleihen, an dem Dialog zwischen Ian Gillans Sirenen-Organ und der hohen E-Saite. Klar, oberflächlich betrachtet, ohne aufwändige Light- oder Pyro-Show, ohne Drumriser und Laserkanonen, nur mit viel Haaren und Koteletten und viel Lautstärke… aber dieses endlose Brillieren auf Instrumenten? Für „Rock Hard“ ist es „die Mutter aller Livealben“, AC/DCs Angus Young erkannte darin kaum mehr als „Led Zep für ganz Arme“… und Iron Maiden verbeugten sich mit der Live-EP „Maiden Japan“.
„Teen-Sublimations-Riff“
So wie alle legendären Geschichten hat auch diese einen Dreh, wie er in keinem Marketingmeeting geplant werden kann. Das Line-Up („Mk. II“ in den Worten der Fans) zerbrach Monate später am Zuviel (der Konzerte und Duelle). Das von einem Amerikaner nur für Japan ersonnene Album erschien weltweit, in Uruguay mit einer aufgehenden Sonne auf dem Cover und einer Schwarzweiß-Fotografie der Mk.I-Besetzung auf der Rückseite. 21 Jahre später wurden auch die restlichen Aufnahmen als 3-CD-Set veröffentlicht. Doch in den USA blieben Deep Purple bis heute eher bedeutungslos, laut Fließband-Reviewer Robert Christgau, weil ihr Sound so unerträglich „oi-ropäisch wie ein Vampir-Film, nur halt nicht so camp“ war. Jene Zeit und Sounds brachte Kritiker-Papst+Teufel Lester Bangs cleverer auf den Punkt, und zwar schon 1972, in „Creem“: „Ein großer Teil von punkigem Rock ist der Große Amerikanische (eigentlich natürlich Englische) Teen-Sublimations-Riff. Jeder will gebumst werden, vorwärts, rückwärts, rund um die Uhr denkt er daran […] und überkompensiert seine Neurosen mit übertriebenen Darstellungen von Macho-Arroganz, die er dann mit Bass-Riffs, hart wie eine Morgenlatte, raushämmert“.
Vielleicht ist das Hinterland doch viel größer als man denkt.
Matthias Penzel
Deep Purple: Made in Japan. EMI.