Die wirklich wahren Stimmen
– Das 27. Internationale Jazzfest Gronau. Ein Bericht von Christiane Nitsche.
Wenn das mal kein Line-up war: Gregory Porter, Randy Crawford, Maceo Parker, Cécile Verny, Brenda Boykin, Stefanie Heinzmann, Flo Mega und Anja Lücking (um jetzt nur ein paar herauszugreifen). In einem zehntägigen Konzertmarathon. In einem Atemzug. Geht das? Geht das gut? Jazzgrößen von Weltformat, Legenden der Musikgeschichte, die Weisheit der alten Mutter Jazz in einer Reihe mit Hip Hop, Pop, Soul, Alternative und so weiter – noch dazu deutschsprachiger Genese? Und wer ist eigentlich Anja Lücking? Vorweg gesagt: Alle sind Stimmen, die man sich nicht entgehen lassen sollte – echte, starke, besondere, berührende Stimmen. Solche, die verführen können – zum Lachen, Jauchzen, Feiern, Tanzen, Weinen und Singen. Zum Leben.
Die Macher des Internationalen Jazzfests von Gronau haben der „Jazzpolizei“ schon vor Jahren eine Absage erteilt. Das Festival hat sich längst von der Kritik emanzipiert und misst sich sehr gut an der Resonanz derer, die es besuchen. Das sind viele. Und da ist eben alles vertreten: Puristen, Dixie-Fans, Brass-Enthusiasten, Funk-Fanatiker und dank des Programm-Mixes auch endlich wieder vermehrt die Generation U40. Die meisten Konzerte sind ausverkauft, für Gregory Porter wird die Bürgerhalle mit rund 1500 Besuchern auf ihr Maximum ausgereizt. Alles, was nicht unbedingt drin bleiben muss, wurde ausgelagert: Bierbude, Stehtische, Catering und der VIP-Bereich, die zusammen genommen ihren ganz eigenen Soundteppich produzieren. Gut so.
Wer hinten stand, konnte in diesem Jahr dank dieser Maßnahme und einer Neuinvestition in die Technik gut hören und auch sehen. Videoleinwände beidseits der Bühne übermittelten Live-Bilder in gestochenem HD von einer Steady-Cam und einer fahrbaren im Fotografengraben direkt von der Bühne. Und noch eine Neuerung seit dem Jubiläumsjahr 2013 hat sich bewährt: Zum Auftakt gibt es Musik vom Nachwuchs. Im benachbarten niederländischen Enschede studieren angehende Jazz- und Popmusiker. Naturgemäß entstehen dabei Bands mit vielversprechenden „Rising Stars“, wie es im Programm des Jazzfests heißt. Im ethno-gestylten Club-Restaurant „Enchilada“ dürfen sich am Vorabend des Hauptprogramms drei junge Bands präsentieren. Da schlackert die Generation Ü40 bisweilen mit den Ohren. Meine persönliche Entdeckung in diesem Jahr: Lemon Lights. Doch dazu später.
Jauchzen mit Gregory Porter
„Diese Stimme – geschmeidig wie Honig“ wird der Kollege von den Westfälischen Nachrichten später begeistert titeln. Und ja: Gäbe es eine Stimme, die die Aggressoren dieser Welt befrieden könnte: es wäre diese. Es gibt diesen Moment, wo sich selbst beim coolsten Beobachter der Kloß im Hals und die vom Gesang ganz sanft geöffnete Seele in einem Jauchzer Luft machen und wo die Kollegen im Fotografengraben die Kameras Kameras sein lassen, weil sie einfach nur noch zuhören. Porters Stimme hat ein unvergleichlich warmes Timbre, das sie selbst in extremen Tieflagen wie bei „Brown Grass“ noch behält. „Be Good“ wird zur schönsten Liebeserklärung des Abends, dabei kann Porter auch anders: Er scattet, synkopiert, zollt dem Soul und dem Jazz Respekt. Wenn er improvisiert, liefert eine Hommage an Marvin Gaye ab. Und mitunter gerät der Hüne selbst derart in den Bann der Musik, dass er unvermittelt zu tanzen anfängt, obwohl man ahnen kann, dass er das nicht gerne öffentlich tut.
Singen mit Randy Crawford
Sie hört überhaupt nicht auf. Das Konzert ist längst vorbei, die Musiker verladen ihr Equipment, sie hat sich umgezogen und die Brille mit den starken Gläsern wieder auf der Nase. Jemand hilft ihr die Treppe hinunter, die alten Knochen machen ihr das Gehen und Stehen schwer. Sie strahlt. Sie lächelt. Und sie singt. Die ganze Zeit – unterbricht sich nur für einen kurzen Scherz, ein lachendes „Thank you“ in die Runde der Helfer backstage. Sie singt, trällert, in jedem Ton ein Stück Freude. Sie ist froh und glücklich, wieder auf Tour zu sein, nachdem im Vorjahr wegen des Todes ihres langjährigen musikalischen Weggefährten Joe Sample alle Termine abgesagt werden mussten.
Aufgeräumt erzählt sie Witze, auch mal gerne einen dreckigen, aber immer wieder singt sie, mit dieser noch immer glasklaren, zarten Stimme, dass es etwas Magisches hat. Bei „Almaz“, dem Wiegenlied für ihre gleichnamige Nichte, wird es so still im Saal, dass die Ergriffenheit wie Watte in der Luft zu greifen ist. Crawfords Stimme hat fast nichts von ihrem Timbre eingebüßt, seit sie vor beinahe 40 Jahren als Frontfrau der Crusaders zu Weltruhm kam. „Street Life“ hat noch immer Gassenhauer-Qualitäten, das Publikum feiert sie frenetisch für diese Reminiszenz an früher – und an den Komponisten Joe Sample. Spätestens da singen alle mit.
Tanzen mit Maceo Parker
Gut, der Mann singt nicht nur, er spielt vor allem Saxofon, und das wie kaum einer sonst: Maceo Parker ist gelebter Funk’n’Soul. Dazu gehört, wenn man wie er aus der Schule des großen James Brown kommt, die Provokation. Eine der schönsten gibt es am Ende des Konzerts, als Darliene Parker (Maceos Cousine) eine soulig-verruchte Version von „Stand by me“ zum Besten gibt – ausnahmsweise begleitet von Maceo an der Querflöte. Er selbst höre Jazz beim Autowaschen, erklärt er. Ob die Leute beim „Jazz-fest“ (mit besonders scharfem „t“ zu sprechen) überhaupt wüssten, was er und seine Band machten, wundert er sich. „We. Make. It. Funky!“ Das Mantra des 72-Jährigen zieht sich wie ein roter Faden durch das Programm, in dem er natürlich auch dem Soul frönt und teils balladesken Jazz mit einfließen lässt. Aber ruhige Momente gibt es wenige – es sei denn, der Meister fordert: „Freeze“, woraufhin alle auf der Bühne in der Bewegung erstarren. Parker selbst gefriert zu einem weitäugigen, gebückten Instrumententräger. Doch, kaum hat das Publikum begriffen, was da passiert, geht es in atemberaubendem Tempo weiter. Wer da nicht tanzt, kann nur taub sein.
Freuen mit Cécile Verny
Wer sie nicht kennt: Merken! Die von der Elfenbeinküste stammende Sängerin und ihr Quartett haben in Freiburg im Breisgau ihre Heimat, man dürfte also hierzulande öfter Gelegenheit haben, sie zu erleben. In 25 Jahren Bandgeschichte hat das aus hervorragenden Solisten bestehende Quartett so einiges an Stilrichtungen durch – und sich einverleibt. Da gibt es reinen Jazz, Soul, Ethno-Folk, Rockiges und Balladen. Sogar ein Sonett der englischen Dichterin Elizabeth Barrett haben die vier vertont – alles getragen von der Stimme Vernys, die nicht nur technisch brillant geschult ist, sondern vor allem geprägt wird von der offenkundigen Freude an der Musik. Dass sie den „Mädelsabend“ mit Randy Crawford eröffnen darf, freut sie ebenfalls – später wird sie sich die Nase am Bühnengitter zum Backstagebereich hin plattdrücken.
Feiern mit Brenda Boykin
Die Leadsängerin der deutschen Nu-Jazz Combo Club des Belugas wäre vermutlich imstande, ein Erdbeben auszulösen mit ihrer Energie. Ihre Stimme straft den offenkundig maroden Bewegungsapparat Lügen: Ihr Weg auf die Bühne ist erkennbar schmerzhaft, Rücken und Hüften machen Probleme, wer weiß, welche Gliedmaßen noch. Doch wenn sie zu singen beginnt, scheint alle Qual vergessen. Die Kalifornierin deckt eine erstaunliche Range ab, bedient die sanften Töne genauso wie die knarrenden. Sie ruft, jault, brummt und schreit es mitunter hinaus, dass sie es feiert, dieses Leben, ist ständig in Kontakt mit den Musikern und mit ihrem Publikum, fordert alles von allen, am meisten von sich selbst. Dafür wird sie vom Publikum gefeiert. Mit Recht.
Lachen mit Anja Lücking
Anja wer? Kaum einer kennt sie. Bis jetzt. Man darf davon ausgehen, dass sich das ändern wird. Die junge Absolventin des ArtEZ Konservatoriums in Enschede ist Frontfrau und Songschreiberin der Band Lemon Lights, die mit einem unorthodoxen Mix aus Reggae, Balkan, Folk, Jazz und Pop aufwarten. Die 26-Jährige, die in ihrer Erscheinung alles zwischen 18 und 34 sein könnte, fasziniert nicht nur mit ihrem lebendigen Auftreten, das in der Attitüde einem Musical-Star in nichts nachsteht (inklusive des Understatements mit betont löchrigem Pulli). Sie hat Stimme – und wie. Sie moduliert sich in Kadenzen durch die Oktaven wie Kinder auf einem Klettergerüst, mit einer Leichtigkeit und Spielfreude, dass es den Zuhörern den Atem verschlägt. Selten ist ein Debüt wohl so eingeschlagen.
Leben mit Flo Mega und Stefanie Heinzmann. Oder: Die wirklich wahren Dinge
Der Titel von Flo Megas Debütalbum, mit dem er sich raketenartig in die Charts und sich selbst in der Folge für einige Zeit ins Abseits schoss, wird am Ende eines zehntägigen Konzertmarathons zum Aufhänger für die Fragen, denen sich er und Stefanie Heinzmann im Interview stellen. Beide stehen am letzten Jazzfestabend auf der Bühne in der Bürgerhalle. Beide haben Erfahrung mit den mittlerweile allgegenwärtigen Castings im Musikgeschäft, Stefanie Heinzmann inzwischen sogar als „Coach“ in der Schweizer Version von „The Voice“. Beide haben bei derlei Wettbewerben mit ihrer Stimme überzeugt, beide für den rasanten Erfolg im multimedialen Business bezahlt – Flo Mega mit einem Burnout, Stefanie Heinzmann mit Ödemen an den Stimmbändern, die sie zur Operation zwangen.
Für ihn sei die Stimme so etwas wie eine Prothese, sagt Flo Mega. „Ich habe mich da immer rein geflüchtet.“ Weil sie attraktiv macht? „Ja“, sagt er. Dabei sei seine Stimme gar nicht so besonders stark, meint er. „Ich brauche Verstärkung und habe über die Jahre herausgefunden, wie ich das Mikro halten muss.“ Schön sei, dass sie einen hohen Wiedererkennungswert habe. „Das ist natürlich geil.“ Und vielleicht, so überlegt er, könne sie Erkenntnisse transportieren „und auch erzeugen, die ich nicht in Worte fassen kann.“
Sie habe gelernt, sie auch mal in Ruhe zu lassen, sagt Stefanie Heinzmann über ihre Stimme. „Manchmal kann sie auch dein Feind sein“, überlegt sie. „Aber ich bin dann eher der Feind meiner Stimme.“ Ein Gitarrist könne sein Instrument weglegen, aber mit der Stimme sei das eben anders. „Sie ist ein Instrument, aber dann eben doch nicht.“
Dass sie sich beide auf einem Jazzfestival wiederfinden, ist keine Frage, an die beide viel Zeit verschwenden. Stefanie Heinzmann hat mit ihrer neuen Platte „Chance of Rain“ den Soul zugunsten des Elektro-Pop ein wenig vernachlässigt, bekennt sich aber auch zu einer neuen Liebe zum Reggae. „Ich leg mich halt nicht fest“, sagt sie. „Ich mag mich nicht verschließen, ich liebe die Musik und ihre Facetten, genauso facettenreich ist doch eigentlich auch das Leben.“ Sie könne sich und ihre Gedanken am leichtesten äußern, „wenn ich musikalisch frei bin.“ Auf dem Album macht sich das etwa bemerkbar in der Ballade „Stranger in this World“ – ein Appell für Empathie mit Migranten. Der Song wird zu einem der Höhepunkte beim anschließenden Konzert.
Auch Flo Mega will sich im Reggae probieren, er tüftelt an einer EP mit Grönemeyer-Texten. „Ich hoffe, er gibt sein Okay dazu“, lacht er. „Soul, Reggae und diese ganzen Sachen sind Brüder“, sagt er. „Für mich gibt es da keine Grenzen.“
Für ihn sei nicht mehr so wichtig, was die Leute erwarten. Wieder im Geschäft Fuß gefasst zu haben, „gibt mir grad was“. Das Musikgeschäft sei eine ganz andere Welt, die keiner sehe, so seine Erfahrung. „Wenn Geld fließt, gibt es ganz klare Regeln, das ist sehr absurd und absolutistisch. Da sind ganz viele starke Egos unterwegs.“ Er schütze sich dadurch, dass er sich auf das fokussiere, „was wahr ist, was stimmt und was im Leben wirklich Wert hat.“ Was das denn sei, diese wirklich wahren Dinge? Flo Mega zögert nicht lange mit der Antwort: „Akzeptanz, Toleranz, Liebe, Mitgefühl, Offenheit“.
Und für Stefanie Heinzmann lautet die Formel so: „Die Menschen in meinem Leben, sich auf den Weg machen, Respekt, Freundlichkeit. Und einfach leben.“
Christiane Nitsche
Zur Webseite des Jazzfestes Gronau. Fotos: Christiane Nitsche, unteres Foto: Hartmut Springer.