Geschrieben am 1. August 2012 von für Musikmag

Jarrett/Garbarek/Danielsson/Christensen: Sleeper

Jarrett/Garbarek/Danielsson/Christensen: SleeperPerfekte Interaktion

– Gar nicht angegraut mutet an, was jetzt, nach mehr als 30 Jahren, aus den Archiven von ECM gekramt wird. Das „europäische Quartett“ im Keith Jarrett ist auf „Sleeper“, einer Live-Aufnahme aus dem Jahr 1979, ganz gegenwärtig. Von Thomas Wörtche

Es ist schwer, den Kalauer zu vermeiden, aber wenn das Album schon so heißt, bitte: Seit 1979 haben diese Aufnahmen des berühmten „Belonging“- oder des „europäischen“ Quartetts von Keith Jarrett (also mit Jan Garbarek, mit dem Bassisten Palle Danielson und dem Schlagzeuger Jon Christensen) in den Archiven von ECM geschlummert. „Sleeper“ enthält ca. 100 Minuten exzellent analog aufgenommener, analog abgemischter und digital remasterter Musik – Material von dem ersten Japan-Konzert der Tour 1979. Material vom 2. Konzert befindet sich „Personal Mountains“, veröffentlicht 1989 (wobei es soviel Produktionen des „europäischen“ Quartetts gar nicht gibt: neben den Studio-Produktionen „Belonging“ 1974 und „My Song“ 1977, gibt es noch „Nude Ants“ [live in USA, auch 1979 aufgenommen, 1986 veröffentlicht] und jetzt eben „Sleeper“.

Natürlich kann man spekulieren, warum Manfred Eicher erst jetzt mit dieser Produktion herauskommt – in einem Interview mit hr2 meint er lapidar, er hätte sich damals geirrt und das erste Tokioter Konzert für nicht so perfekt gehalten wie das „Personal Mountains“-Material.

Mehr muss man auch nicht gründeln, denn „Sleeper“ bietet keine irgendwie geartete Sensation, sondern einfach sensationell gute Musik. Das war auch von diesem genialen Quartett nicht anders zu erwarten, das mit „Belonging“ in der Tat einen damals verblüffend neuen Sound, mit neuer Energie, mit unglaublichem Drive und gleichzeitig ausgekochter Raffinesse präsentiert hatte, inmitten der eher öderen Rock-Jazz- und anderen Exerzitien der Zeit.

Wichtigster Testpunkt: Hört man die Musik museal oder nicht?

Klare Antwort: Da ist überhaupt nichts gealtert; nichts, was man heute anders spielen müsste. Die Interaktion der vier Musiker ist perfekt, die sehr eigene Dynamik und Akzentuierung von Jarretts Klavier passt perfekt zu Garbareks Spiel auf den Saxophonen: Sehr jazzig, sehr bob/hardbop-mäßig phrasierend, mit weiten Bögen, allerdings noch ohne die allzuweiten Giga-Bögen der 1980er- und 1990er-Jahre.

Auch Jarretts Spiel findet eindeutig im Jazz-Idiom statt, von (spät-)impressionistischen Klängen sind höchstens schwache Echos zu hören. Bass und Schlagzeug kommunizieren perfekt – wie gut Danielsson und Christensen zusammen waren ist legendär, hier aber sind sie besonders gut, gerade wenn sie unspektakulär durch verschiedene Dynamiken fegen oder mit dem Klavier in Trio-Passagen gehen. Oder bei den wenigen Solo-/Duo-Passagen, wenn der Holzbass warm wie eine Glocke singt und die Felle von Christensens Trommeln vor sich hingewittern.

Jan Garbarek meinte einmal, in solchen Momenten hätte er es viel mehr genossen, den drei Kollegen einfach zuzuhören und die verschiedenen Energien auf der Bühne zu spüren, statt selbst mitzuspielen. Das ist schön gesagt, aber auch seine Spielfreude ist unüberhörbar sehr groß. Selbst wenn er sich für seine Verhältnisse dieser Jahre stark im Freestyle bewegt wie mit der Flöte in „Oasis“, dem Opener der zweiten CD, hat dieses Experiment etwas sehr Entspanntes und Groovendes.

Und mit vor Erstaunen flatternden Ohren hören wir immer, wie schnell, flexibel und perfekt diese Formation mit Dynamik und Tempo umgeht, wie sie eine Melodie ausspielen und eine andere nur kurz anspielen kann, wie Solo- und Ensemblespiel völlig organisch entstehen, und wie unhierarchisch das ganze Vergnügen strukturiert ist. Apropos Vergnügen – selten hörte man Keith Jarrett so vergnügt jauchzen und andere Geräusche der Wollust von sich geben.

Vom Wollust-Faktor aus geguckt ist es sowieso völlig egal, ob die Musik von 1979 stammt oder von heute. „Sleeper“ ist einfach großartig.

Thomas Wörtche

Jarrett/Garbarek/Danielsson/Christensen: Sleeper. Tokyo, April 16, 1979. 2 CD. ECM.