Geschrieben am 29. Juni 2006 von für Musikmag, Vermischtes

Hurricane Festival 2006

Die Staubhölle von Scheeßel

Fußball und Rock’n’Roll. Ein subjektiver Spielbericht vom „Hurricane Festival 2006“ in Scheeßel. Während sich die Deutsche Elf mit dem fulminant gestarteten Achtelfinale gegen Schweden eine Runde weiter schießt, wälzen sich 50.000 Festival-Besucher im Staub und feiern den deutschen Sturm, 70 geniale Bands aus Deutschland und der Welt und natürlich sich selbst. Von Markus Kuhn

Gegensätze verstärken die gefühlte Intensität. Scheeßel und Hurricane sind ein Widerspruch an sich: Scheeßel, eine kleine Gemeinde in Niedersachsen, zwischen Hamburg und Bremen, mit reetgedeckten Scheunen, wo Fohlen über grüne Weiden tollen, schwarzweiße Kühe grasen und Bauern mit Strohhalm im Mund entspannt den einfallenden Massen hinterher schauen, die sich ab Donnerstagnachmittag in vollgeladenen Pkws dem Festivalgelände bei Scheeßel nähern, um drei Tage das zu leben, was sie für Rock’n’Roll halten und verboten viel überschüssige Energie in Feiern, Saufen und Abtanzen zu investieren. Die Bauern kennen das und wissen, dass sie dieses Wochenende damit leben müssen, dass der Wind dumpfe Bässe und schrille Schreie über ihre Felder trägt, die Super- und Pennymärkte der Umgebung leergekauft werden und sich ab und an mal ein schmutziger Festivalgänger in den Ortskern verirrt. Aber sie wissen auch, dass der wahnwitzige Spuk so schnell wieder vorbei sein wird, wie er begonnen hat. Das Festivalgelände ist eine andere, beinahe hermetisch abgeriegelte Welt, zumindest dann, wenn man drei Tage mitmacht. Wer nicht bereit ist, die Festival-Feuertaufe mindestens von Freitag bis Sonntag zu überstehen, war nicht beim Hurricane. Davon sind zumindest diejenigen überzeugt, die sich Freitag an den Rand der zentralen Achsen zwischen Parkplatz und Campingfeldern hocken, Bier saufen und die anderen anfeuern, die es noch nicht geschafft haben, Zelt, Schlafsack und Biervorrat dorthin zu schleppen, wo sie die nächsten rund 50 Stunden hausen werden.

Scheeßel-Veteranen vs. Hurricane-Greenhorns

Schon bei der Ankunft fällt es leicht, erfahrene Scheeßelfahrer von Grünschnäbeln zu unterscheiden. Wer oft da war und genügend Zeit hat, kommt am Donnerstag, wenn man sich noch in Ruhe eine Zeltfläche auf einem der Stoppelfelder aussuchen und die Zelte wagenburgartig um einen Sonnen- und Regenschutz aufbauen kann, unter dem der Grill aufgestellt, Holzkohle und Bierpaletten gebunkert werden. Hurricane-Veteranen mit weniger Zeit kommen zwar wie die Neulinge am Freitag, haben aber irgendein bizarres Gefährt dabei oder zumindest eine kluge Idee, um die Gepäck- und Getränkemassen vom Auto zu den Zelten zu schaffen: Omas Bollerwagen, Einkaufswagen mit extra anmontierten dicken Gummireifen oder Feuerwehrtücher, die man zu sechst trägt. Manch guter Versuch bleibt trotzdem stecken: Überladene Wagen mit Achsbruch, gerissene Deichseln, von Gepäcktürmen rollende Fässer, im Staub festgefahrene Einkaufswagen, vom Gewicht erdrückte Teenager. Ameisenhaft sind die Massen in Bewegung. Vom Auto zum Zelt, vom Zelt zum Wasserholen, vom Grillen zur Lieblingsband, von Donnerstag bis Samstagmittag tendenziell in die eine Richtung, ab Samstagabend bis Montagvormittag in die Gegenrichtung. Wie ein Flüchtlingstreck, möchte man sagen. Aber es geht ja nur um Rock’n’Roll.Nur? Nein, nicht nur, natürlich nicht, im Gegenteil: ob Veteran oder Neuling, alle geben hier alles, jeder auf seine Art. Jugendpower im Überfluss, viel Staub und nackte Haut, viele Kampftrinker und ebenso viele junge Girls mit engen Hosen und knappen Bikinis. Gezielt verschwendete Energie im Übermaß. Alle steigern sich, ununterbrochen, wälzen sich im Staub, saufen warmgewordene Paletten leer und dann, um 4 Uhr nachts am Waschtrog: Punks im Bademantel, kleine Rock’n’Roller mit elektrischen Zahnbürsten.

Kampfsäufer vs. Desinfektionsmittelnutzer

Der Weg zum Klo ist immer ein Abenteuer: jenseits der rudimentären Fragen, wie lange man wohl Schlange stehen muss, wie schlimm der Geruch sein wird oder ob die Duschen kalt oder warm sind, steht man hier auf engstem Raum mit unbekannten Festival-Gängern zusammen, ohne durch Bühnenlärm vor Kommunikation geschützt zu werden. Notorische T-Shirt-Leser, die das dreckige Stück des Vordermanns zurechtzupfen, um alle Tourdaten irgendeiner unbekannten Combo aus Delmenhorst erkennen zu können, schließen Freundschaften. Mit Baustellenband zusammengebundenen Kampfsäufer, die nicht wissen, wie sie auf dem Klo ihre Wette durchhalten sollen, sich 24 Stunden nicht mehr zu trennen, erklären ihr Lebensprinzip, das eben gerade darin besteht. Aber es gibt auch harte Jungs mit Desinfektionsfläschchen in der Hand, um die Klobrillen abzuwischen, die lieber nichts erklären wollen. Schönes Wetter, es regnet nicht, ab Samstag sogar Sonne satt, keine Schlammschlacht wie in anderen Jahren. Dafür: Staub. Grauer, dreckiger, hartnäckiger Staub. Überall: auf der Haut, in den Zelten, in der Nase, in der Lunge. Von ferne sieht man die Staubwolken, die über den Zeltfeldern stehen wie der Smogdunst über Mexiko City. Der Staub ist der beste Indikator dafür, Nichtduscher von Hygieneprofis zu unterscheiden. Spätestens am Samstagabend bewundert man doch, wie und wo manche Mädchen es schaffen, sich so professionell zu schminken, während das Gros der Besucher aussieht wie Clint Eastwood nach seinem Wüstenritt in „The Good, the Bad and the Ugly“. Staub, Schweiß, Sonnencreme, dazu etwas verschüttetes Bier sind der klassische „Teen Spirit“ von Scheeßel.

Explosive Lebensfreude vs. poesiegetränkte Spätabendmelancholoie

Seeed will ich sehen, auf der großen Bühne, dann die Arctic Monkeys auf der blauen Bühne, dann kurz Grillen, danach Manu Chao auf der grünen. Manche wissen ganz genau, wo sie hinwollen, wann sie vom Fußballgucken zum nächsten Gig wechseln müssen. Andere lassen sich treiben und wieder andere verlassen sich ganz auf König Alkohol, der hier die Droge Nummer eins ist; der festivalübliche Haschgeruch steigt einem erstaunlich selten in die Nase.Die Stimmung bei den verschiedenen Liveacts ist höchst unterschiedlich. Wen wundert’s bei einer viel versprechenden Auswahl von rund 70 Bands wie Fettes Brot, Maximo Park, Adam Green, Pantheon Rococo oder Wir sind Helden. Während die Strokes cool und arrogant auf der Bühne stehen und vor allem über ihre fulminante Lichtshow wirken – ein rhythmisiertes Farbfeuerwerk – versprühen Element of Crime ihre poesiegesättigte Melancholie; der Himmel über der Bühne glänzt düster. Was für ein Unterschied von Sänger Sven Regener, der zugibt, nicht zu wissen, was er ins Mikro sagen soll und deshalb immer wieder „So ist das“ sagt, zu Manu Chao, der einen Abend zuvor zwei Stunden Lebens- und Tanzfreude pur verbreitet hat.Überhaupt einer der Höhepunkte: Obwohl keine Bläsersection dabei, wird Manu Chao mit seinem Radio Bemba Sound System für diejenigen Zuschauer zur Überraschung, die noch nicht wussten, wie sehr er im Vergleich zu seinen eher getragenen Studioalben abgehen kann. Absoluter Spielspaß, Tempiwechsel bis zum Exzess, viele Songs vom Clandestino-Album, einige neue, Punk, Ska, Reggae. „Desaparecido“ mit ewigem Gitarren-Solo, allmählich gesteigert von zwei Tönen in zehn Sekunden auf Ska-Full-Speed. Am Ende viel zu viele Zugaben, aber herrlich, bis alle erschöpft zusammenbrechen.

Deutschland vs. Schweden

Ach ja, und dann war da noch das Achtelfinale. Das hatten die meisten Besucher von Anfang an auf dem Zettel, nur die Veranstalter nicht. Die entscheiden erst so spät, das Spiel zusätzlich auch auf einer der Hauptbühnen zu zeigen, dass sich diese wichtige News nicht mehr rumsprechen kann. Weshalb sich ein Großteil der 30.000 Fußball-Fans vor eine kleine Leinwand im Staubdunst der Zeltlätze quetscht. Sonne im Nacken und gegen die Hitze kämpfen wie Klinsmanns Jungs auf dem Platz, denen man das weniger ansieht als den meisten Festivalbesuchern. Dazu Totalbesoffene, die man sich nur mit bei St. Pauli erprobter Deeskalationstechnik vom Leib halten kann. Traurige Schwedinnen, grölende Deutschlandfans und Fahnen wohin das Auge reicht – der ganze Trubel der bundesdeutschen Fanmeilen konzentriert im Staub von Scheeßel. Auch hier beim Hurricane wird der Sieg gefeiert, natürlich, die ganze Nacht. Das passt gut zum eigentlichen Anlass des Festivals: Feiern ohne Ende. Fußball und Rock’n’Roll, eine Traumkombi.Das Ende der Geschichte: am Sonntagabend muss das Festival vorzeitig abgebrochen werden, weil sich das den ganzen schwülen Tag anbahnende Unwetter hurrikanartig über Scheeßel entlädt. Aber das ändert, bis auf den abrupteren Aufbruch und das zwischenzeitige Absaufen einiger Besucher, nicht viel. Alle haben Staub und Hitze getrotzt, viel Spaß gehabt, viel Musik gehört, etwas Fußball geguckt und viel getrunken und getanzt. Die meisten Greenhorns sind zu Insidern geworden und viele von ihnen werden im nächsten Jahr wiederkommen. So werden die Veteranen, die so ein Festival braucht, niemals aussterben, genau wie es immer neue erfolgreiche Bands geben wird, die das Herz jüngerer Fans höher schlagen lassen. Rock’n’Roll in Endlosschleife, als Lebensgefühlt, als Durchhalteparole.

Markus Kuhn