Geschrieben am 28. November 2012 von für Musikmag

Have yourself an Indie little Christmas!

Alle Jahre wieder

– Von wegen immer nur „Oh Tannenbaum“ und Ihr Kinderlein kommet“:  Janine Andert stellt die besten Indie-Weihnachtssongs der letzten Jahre vor.

Angeblich soll „Stille Nacht“ das bekannteste Weihnachtslied der Welt sein. Diese Weisheit muss gefühlt aus der Zeit vor 1984 stammen. „Last Christmas I gaaaave youuu my heart …“ klingelt es alle Jahre wieder in den Ohren. Was Mitte der 1980er noch ein netter Hit war, verdient nach fast dreißigjähriger Überdosis den Stempel musikalische Folter. Radiostationen und Einzelhandel können ihre Finger trotzdem nicht davon lassen. Innovativ, wer Coverversionen spielt. Wir legen jedem die Interpretation von iLiKETRAiNS ans Herz – „Last Christmas“ in halber Geschwindigkeit mit Tendenz zum Requiem (zum free Download). Das war nicht der erste Weihnachtsstreich der Postrocker aus Leeds. 2008 veröffentlichten iLiKETRAiNS die EP „The Christmas Tree Ship“. Unschlagbar entschleunigte Musik gegen den Weihnachtsstress.

Damit wären wir bei einer anderen interessanten Wendung im Weihnachtsland. Wer denkt, nur Popstars und -sternchen stecken sich in rote Kostümchen mit weißen Plüschapplikationen und nehmen das Konsumfest mit, irrt gewaltig.

Neuestes und bestes Beispiel ist Sufjan Stevens, der schon 2006 den zwei Stunden und fünf Einzelalben umfassenden Longplayer „Songs For Christmas“ herausbrachte. Offensichtlich hat Herr Stevens einen Faible für das heilige Fest der Liebe, denn in diesem Jahr erscheint der zweite Teil dieses Mammutwerks. Auf „Silver & Gold“ spielte der amerikanische Singer-Songwriter noch einmal veränderte Interpretationen bekannter Christmas-Klassiker ein.

Wer auf diese Musikrichtung steht, kann so Heiligabend und zwei Feiertage ohne ausgenudelten Radiopop überstehen. Allerdings sei hier auch eine Warnung ausgesprochen: Besinnlich sind beide Alben. Was auf „Songs For Christmas“ noch klassisch choral um die Ecke kommt, wirkt 2012 wie ein Oratorium, das eher die Kreuzigung Jesu betrauert als ausgelassene Stimmung verbreitet. Unser Tipp: Beide Alben kaufen und selbst ein Best of zusammenstellen. Genug Material ist vorhanden.

Sufjan Stevens: Songs For Christmas I (Vol. 1-5). Asthmatic Kitty Records (Soulfood). VÖ: 21.11.2006.
Sufjan Stevens: Songs For Christmas II (Silver & Gold, Vol. 6-10). Asthmatic Kitty Records (Soulfood). VÖ: 16.11.2012. Zur Homepage, zum Album-Stream von Songs for Christmas I, zum Stream von Songs for Christmas II.

Nur Sufjan Stevens hören ist natürlich öde. Aber in jede gute Musiksammlung gehört der Megastar der Indie-Weihnachts-Alben: Lows „Christmas“. Im Jahr 1999 erschienen, landet es seit dem jedes Jahr wieder unterm Christbaum und dürfte das Einkommen der Band noch auf Jahre sichern.

Besinnlich und trotzdem mit einem für Low untypischen fröhlichen Charme werden hier Evergreens wie „Little Drummer Boy“ zum Besten gegeben. Zeitlos schön und als Geschenk geeignet.

Low: Christmas. Chairkickers/Rough Trade. VÖ: 02.12.2002 Deutschland/29.11.1999 Rest der Welt. Zur Homepage, zur Facebook-Site, zu einigen Hörproben (nur für Spotify-NutzerInnen).

Festlich gediegen ist ja ganz nett, aber irgendwie fehlt bisher noch was für die Stimmung nach der dritten Flasche Wein und ausreichend Verdauungsschnaps. Wer wäre da besser geeignet als die charmante Zooey Deschanel, die zusammen mit M. Ward als She & Him firmiert und im letzten Jahr Weihnachten um 60s-verliebten Indiepop bereicherte. „A Very She & Him Christmas“ hebt die Stimmung im Reich sakraler Andacht.

She & Him: A Very She & Him Christmas. Domino. VÖ: 25.11.2011. Zur Website, zur Facebook-Präsenz.

Aber machen wir euch nichts vor: Weihnachtslied bleibt Weihnachtslied. Egal ob Mainstream oder Indie, der Tenor ist besinnlich. Wer das nicht mag, dem legen wir wärmstens Death Metal ans Herz. Sehr beruhigend und erholsam ab dem dritten Tag Dauerbeschallung mit Wham!s „Last Christmas“. Wer sich gegen den Death Metal entscheidet – für den haben wir noch mehr: Bright Eyes. Mastermind Conner Oberst, bekannt für sein geübtes Leiden an der Welt, hält auf dem 2002er „A Christmas Album“ die perfekten Trauerhymnen für die Verlassenen, Depressiven und Einsamen des Festtagshorrors bereit. „I have a blue Christmas without you“ heißt es hier. Dazu einen Topf Glühwein mit Schuss und fertig ist die glückselige Zelebration des Weihnachtshassers, der nicht zugeben mag, dass es doch ein ganz nettes Fest ist.

Bright Eyes: A Christmas Album. Saddle Creek. VÖ: 2002. Zur Homepage von Conner Oberst/Bright Eyes, zu den Bright Eyes – Infos auf der Label-Website von Saddle Creek, zur Facebook-Site, zu einigen kurzen Hörproben.

Unterstützung erhält Herr Oberst aus Schottland. Glasvegas beglückten uns 2008 mit der wunderbaren EP „A Snowflake Fell (And It Felt Like A Kiss)“. Single an Weihnachten – och, wenn das so pompös und gitarrenlastig wie bei Glasvegas ist, muss das bejubelt werden. Ein paar „Fuck you!“s an die Ex mit schottischem Akzent ins Mikrofon gebrüllt und schon fühlt sich der Verlassenheitsschmerz so richtig heimelig an.

Glasvegas: A Snowflake Fell (And It Felt Like A Kiss). Columbia. VÖ: 13.11.2009. Zur Website, zur Facebook-Präsenz, zu einigen Hörproben (nur für Spotify-NutzerInnen).

Wobei sich mittlerweile ernsthaft die Frage stellt, warum so viele Weihnachtslieder der Popgeschichte von verlassenen Protagonisten handeln. Ihr wisst schon, selbst in Wham!s „Last Christmas“ trällert George Michael: „Last Christmas I gave you my heart / but the very next day you gave it away / This year to save me from tears /I’ll give it to someone special.” Wünscht sich die Mehrheit im Kreise der Liebsten die Einsamkeit? Besser verlassen als Familienterror in großer Runde? Müssen wir uns die Hymnen der allein Zurückgelassenen gar als optimistische Alternativen zum Familienfest vorstellen?

Bonnie ‚Prince’Billy und Dawn McCarthy beantworten diese Frage ganz einfach mit „Christmas Eve Can Kill You“.

Dawn McCarthy & Bonnie ‚Prince‘ Billy -… von domino

Geht es nach Holly Golightly, kommen wir ebenfalls zu keinem anderen Ergebnis. Auf ihrer Single „Christmas 2006“ entwirft sie die perfekte Anti-Weihnachtsstimmung. In „Hear My Call, Here“, im Original von den Staple Singers, seufzt Golightly entzückend zu einer meandernden Orgel „help me to live this day … It’s cold, dark and wet”, um dann im wahrsten Sinne des Wortes mit „Christmas Tree’s On Fire“ das Ereignis Country jodelnd in Flammen aufgehen zu lassen. Ein klamaukiger Spaß und die Anti-Weihnachtshymne schlechthin.

Holly Golightly: Christmas 2006. Damaged Goods. VÖ: 2006. Zur Homepage, zur Facebook-Site, zu den Hörproben (nur für Spotify-NutzerInnen).

Und wem das bisher alles zu fröhlich erscheint – nun ja, da wäre noch Jason Lytles (Grandaddy) „Merry X-Mas 2009“. Ein halbstündiges Klavierkonzert in Moll, das bei bandcamp.com hier kostenlos heruntergeladen werden kann.

Jason Lytle: Merry X-Mas 2009. Eigenregie. VÖ: 07.12.2009. Zur Website, zur Facebook-Präsenz.

Unsere Auswahl kommt nicht ohne den deutschen Meister der Weltverzagtheit aus. Die Rede ist von Konstantin Gropper alias Get Well Soon, der 2005 die EP „My Tiny Christmas Tragedy“ in Eigenregie veröffentlichte. Gropper arbeitet sich „Ride the Supersleigh!“ an Wham!s „Last Christmas“ ab. „My Tiny Christmas Tragedy“ befreit den Hörer mit seinem elektronischen Plinka-Plonka dennoch von der allzu oft eingesetzten tragenden Festlichkeit und wirkt daher fast wie ein Befreiungsschlag vom vorherrschenden Weihnachtsoratorium.

Get Well Soon – Christmas In Adventure Parks from City Slang on Vimeo.

Wer hätte gedacht, dass Gropper unter den vorgestellten Alben Punkte in Sachen Lebensfreude einheimst? Dumm nur, dass die EP nicht mehr erhältlich, aber auf spotify zu hören ist. Immerhin hat es „Christmas In Adventure Parks“ 2008 auf Groppers Durchbruch „Rest Now, Weary Head! You Will Get Well Soon“ geschafft.

Get Well Soon: My Tiny Christmas Tragedy. Eigenvertrieb.VÖ: 2005. Zur Homepage, zur Facebook-Präsenz.

Zusammenfassend konnten wir glückselig feststellen, dass Weihnachten gar nicht das Fest der Liebe, sondern das Fest des Herzschmerzes ist und unsere geliebten Indiebarden Soundtracks zum Ereignis anbieten, die eher den Charme einer Trauerzeremonie haben als fröhliche Gassenhauer sind. In diesem Sinne warten wir darauf, dass endlich auch Bohren und der Club of Gore ein Weihnachtsalbum herausbringen, damit unser Christstern vor euphorischer Begeisterung in einem Feuerwerk der Melancholie explodiert.

Janine Andert

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