Geschrieben am 19. Januar 2011 von für Musikmag, Porträts / Interviews

Hans-Joachim Roedelius über Captain Beefheart

Am 17. Dezember 2010 starb Don van Vliet aka Captain Beefheart, einer der einflussreichsten Rock- und Bluesmusiker des letzten Jahrhunderts. Seine wohl bekannteste Veröffentlichung ist das Doppelalbum „Trout Mask Replica“ aus dem Jahr 1969. Hans-Joachim Roedelius, als Musiker für die elektronische Avantgarde nicht minder einflussreich, schreibt für CULTurMAG einen sehr persönlichen Nachruf.

Hingabe und Bedingungslosigkeit

Captain Beefheart and his Magic Band: Trout Mask ReplicaDon van Vliet hat mich wie kaum ein anderer am Anfang meines Weges als Musiker in meinem Selbstverständnis beeinflusst. Dieses Verständnis orientierte sich bis dahin noch an ‚gutbürgerlichen‘ Denk- und Verhaltensmustern, war mitgeprägt von der mich psychisch ziemlich heftig belastenden Hinterlassenschaft bzw. Nachwirkung des Inhalts zahlloser Monologe aus den Mündern meiner Patienten, die ich mir als ihr quasi Beichtvater beim Massieren hatte anhören müssen, von der Erinnerung an sterbende Menschen, die ich in den Tod begleitet hatte. Somit war die Berührung mit der Kunst eines solchen, für meine damaligen Begriffe, „heilsam Wahnwitzigen“ ein ganz besonderer Meilenstein auf meinem gerade erst beginnenden Weg zur eigenen künstlerischen Äußerung.

Ich wusste ja zu jener Zeit noch nicht, was man jetzt bei Wikipedia lesen kann, dass van Vliet seine Mitmusiker bei der Produktion von „Trout Mask Replica“ über Monate hin quasi in ‚Schutzhaft‘ genommen hatte, sie zum Teil äußerst grob behandelte und ihnen seinen Willen aufzwang. Aber wie soll ich dieses verstörende Faktum nun einordnen und kommentieren in Anbetracht dessen, was ich hier in der Folge beschreiben möchte?

Mein damaliges erstes Nase-hineinstecken ins Selber-musikmachen, die Tatsache, dass es bereits ein Publikum für neue, wenn auch kaum noch elaborierte Tonkünste gab, Genres, die also eigentlich noch gar nicht wirklich existierten, welche ich für meinen Teil ja auch erst zu erkunden/erfinden hatte, diente mir natürlich auch als Brücke zur Kunst anderer Zeitgenossen, z. B. der von Jimi Hendrix, Third Ear oder Pink Floyd, die einen, wenn auch nicht so tiefen, aber doch einigermaßen ähnlich gewinnbringenden Eindruck in meinem Hörbewusstsein hinterließ, nachdem ich mich ja ursprünglich über die bildende Kunst, über Duchamps, Ball, Dali, Beuys, Schnitzler u. a. meinem ’neuen‘ Beruf angenähert hatte.

Nachdem also bei mir – gepaart mit der Einnahme gewisser Substanzen – ein solch prominenter Zeitgenosse wie Don van Vliet mit seiner Kunst die Tür in ein anderes Seinsverständnis aufzustoßen geholfen hatte, sind meine Aussagen über die sensationelle Wirkung seiner Musiken auf mich in ihrem Kern eigentlich Aussagen über mich selber, über Erkenntnisse, die sich vor allem am Beginn, aber letztlich natürlich im Verlaufe der einzelnen Etappen meines eigenen künstlerischen Werdegangs eingestellt haben, eines Werdegangs, der ohne den Einfluss der Beefheartschen Kunst und jener Substanzen sicher anders verlaufen wäre, wahrscheinlich nicht so radikal auf das bezogen, was ich heute als ‚mein Eigenes‘ betrachte, oder als ‚meine Kunst‘ bezeichne.

Da ist etwas bei mir im Spiel, das meiner Meinung nach im Innersten sehr verwandt zu sein scheint mit dem Impetus der hinter der künstlerischen Aussage des Don steht, ohne dass meine Kunstwerke so spektakulär und raffiniert konstruiert und so in Szene gesetzt werden mussten, wie das bei seiner Kunst der Fall ist – auch wenn ich während der Anfangskapitel meiner ‚Karriere‘, in der Zeit mit Human Being und Kluster, mit formal höchst diversen Klangexperimenten, gewagten Grenzüberschreitungen und unerhörten Lautstärken zu tun hatte, dies aber anfangs einfach nur dahinimprovisiert im Zusammenspiel mit anderen, gleichgesinnten Musikern/Freunden, auch mit dem Stolz als Antrieb, endlich zu meiner Berufung gefunden zu haben.

Er war ein Medium

Don van VlietVan Vliet war offenbar total up to date, weil auch mit vielen verschiedenen Projekten beschäftigt und damit involviert in die Szene der jungen, populären Musik Amerikas, mit einem unerhört großen gestalterischen Reichtum begabt, er ging mit einer quasi unfassbaren gedanklichen Vielfalt und Komplexität an die Fertigung seiner Musiken heran, die er in langen Sitzungen mit seinen Mitmusikern (wie man heute weiß extrem diktatorisch auf diese einwirkend) erarbeitete und die er live dann mit dieser Vorarbeit im Hintergrund ‚aus dem Ärmel schüttelte‘, vielleicht auch, wie bei mir, oft zu seinem eigenen Erstaunen und dem seiner Magic Band.

Ob ihm dabei nun, wie mir, die Tatsache bewusst war, dass er Medium für etwas sei, das sich nur durch ihn so lebendig und ausdrucksstark äußern konnte, ob er wusste, dass die Kunst, welcher er zu dienen hatte, die von ihm praktizierte Hingabe und Bedingungslosigkeit sowieso radikal einforderte oder ob ihm seine prominente Position im damaligen zeitgenössischen Musikgeschehen mit Frank Zappa als Mentor und Diener, aber zugleich auch als Rivale im Hintergrund sehr wohl deutlich bewusst war und er sich mit seinen fundierten musikalischen Grundkenntnissen bei absolut klarem Verstand an die Konstruktion seiner vielschichtigen musikalischen Gebilde und Texte machte, so wie manche andere seiner Zeitgenossen in anderen Domänen als dem Blues und der Rockmusik, wie etwa Stockhausen, Ligeti, Messian, Xenakis u. a. – das wird man wohl nie wissen.

In Wikipedia wird geschrieben, dass er die Frage, ob er je Drogen genommen hätte, immer wieder strikt verneinte, wobei aber einige der Mitspieler seiner Magic Band das Gegenteil behaupten. Alleine der Titel „Trout Mask Replica“ scheint mir darauf hinzuweisen, dass im Verlaufe der Produktion der Platte nicht alles so ‚koscher‘ gewesen sein kann, wie van Vliet sich das wohl gewünscht haben mag, da er doch verneint, Drogen genommen zu haben, was aber nichts daran ändert, dass ihm mit diesem Album ein großartiges und einzigartiges Werk gelungen ist.

Die raffinierte Polyrhythmik der von ihm entworfenen Stücke, diese unvorhersehbaren Zeit- und Stimmungsumschwünge, seine im Dadaismus wurzelnden Wortbildungen – gesprochen, geschrien, gehaucht, gehechelt – im Kontext zu den meiner Meinung nach schamanistisch angehauchten Musiken, die Bravour seines Vortrags, mit dem er sozusagen unstürmbare Bastionen einer Daseinsbeschreibung aus reiner Poesie errichtet, das alles ist meiner Meinung nach heute noch gleichermaßen so bedeutsam für eine generelle Annäherung an und Rezeption von zeitgenössischer Kunst/Musik wie damals.

Van Vliets „Trout Mask Replica“ gehört zu den anspruchsvollsten Musiken, die ich je gehört habe. Nichts hat die Wirkung davon bisher wirklich übertreffen können. Eine fürwahr einzigartige Musik, eine Musik, die die Wahrnehmung für etwas zu öffnen vermag, das nicht verstanden werden muss, sondern Verstand ist in einer seiner überzeugendsten Verkörperungen, gestalterischer Reichtum, der sich in höchst verblüffenden Ausdrucksformen äußert, eine Musik, vom Stallgeruch eines wahren Genius gänzlich durchtränkt. Einer der wenigen wirklichen American heroes, immer noch weithin unerkannt als das, was er darstellte: Einen Pionier der Lebenskunst, lebendiges Beispiel dafür, wie sich künstlerische Äußerung zu einem Juwel kristallisieren kann, das in der Dunkelheit einer von großem Unverständnis gekennzeichneten Zeit aufleuchtet, auch wenn dieses Juwel mit ziemlicher Gewalt auf dem Amboss des z. T. erzwungenen Entgegenkommens und der Leidensbereitschaft seiner Mitarbeiter in der Magic Band geschmiedet worden ist, wie man heute hört.

Ein Diktator? Und was für einer!

Don van VlietEr starb als Maler im Rollstuhl an multipler Sklerose in der kalifornischen Wüste, lebte zuletzt zwischen Sand und Steinen, Kandelaber-Kakteen und Joshua trees, im Campingwagen nachts von Coyoten umheult, ein Leben ständig von Klapperschlangen- und Skorpionsbissen bedroht. Auch auf diese Wirklichkeit hat er in seinen Musiken, Texten, Bildern und Skulpturen reagiert, er hat sie nicht romantisch entschärft, sondern klar zu Bewusstsein zu bringen versucht, ohne möglicherweise deutlich zu wissen, für welch großartige Leistung er letzten Endes zu einem Medium wurde bzw. sich selber machte. „Trout Mask Replica“ ist wohl kaum zu übertreffen als Beispiel für authentische Musik, für unerhörten Formenreichtum, inhaltliche Komplexität. Das Album ist Zeichen des Erwachens eines neuen Bewusstseins, das sich im Amerika jener Tage aber auch mit vielen anderen Stimmen wie etwa derer von Carlos Castaneda, Allan Ginsberg, Frank Zappa, Jack Kerouac, Jerry Garcia u. v. a. äußerte. Sie alle riefen nach tiefgreifenden Veränderungen dies- und jenseits des großen Teichs, auf allen Ebenen des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens, sie forderten alle mit einer Stimme, der Stimme des Bewusstseins, zu einem nachhaltigen Wandel im Denken und Handeln vor allem der Verantwortungsträger in Politik und Kultur auf.

Im Herbst 1968 wachte ich mehrere Nächte lang zusammen mit Künstlern und Freunden des Living Theatre von Julian Beck und Judith Malina im Hof des Palais du Pape in Avignon. Es war die Uraufführung des Stückes „Paradise now“ angesetzt, für welches hier wochenlang geprobt worden war. Ich war dabei Zaungast, war ja immer noch hauptsächlich ’nur‘ Masseur, aber wusste bereits, dass ich mit diesem Paradise in meine eigene Zukunft blickte. Deshalb stand ich auch nachts mit einem Knüppel bewaffnet hinter dem Haupteingangstor des Palais und wartete wie die anderen auf den Mob aus der Hauptstadt, der diese Veranstaltung stören wollte. Wer weiß, ob ich draufgeschlagen hätte, wenn’s hart auf hart gekommen wäre? Gott seid Dank war der Mob irgendwo im Land auf dem Weg nach Avignon steckengeblieben, und „Paradise now“ konnte unter dem Riesenbeifall eines internationalen Publikums ungestört über die Bühne gehen.

1970, zwei Jahre danach, spielte Cluster als Vorgruppe von Jimi Hendrix beim ersten Open Air Deutschlands auf der Insel Fehmarn aus der Nacht in den Sonnenaufgang hinein. Mehr als deprimiert schaute ich später beim Auftritt von Jimi zu, wie dieser zum x-ten Male seine Gitarre anzündete und auf dem Bühnenboden zerbrach. Welch ein Unterschied in der Kunst und im Leben der beiden, van Vliet und Hendrix. Van Vliet hat sich nicht kleinkriegen lassen vom kommerziellen Misserfolg der meisten seiner Alben, vor allem nicht von dem von „Trout Mask Replica“. Hendrix hat sich aufgezehrt, ist verbrannt am Erfolg, with the help of a dangerous friend. Ein Akrobat an seinem Instrument der eine, Hendrix, dessen Musik mich immer nur traurig macht, eine Virtuosität, ihm zum eigenen Verderben; ein Großmeister der Komposition und Darbietung der andere, van Vliet, dessen Kunst für mich als grundsätzliche Aussage zur besseren awareness in Sachen meiner eigenen Musikgestaltung beigetragen hat und – wenn auch im Rollstuhl und von der Sklerose am Ende seines Lebens erheblich behindert – etwas über die Zeiten hinaus Dauerhaftes geschaffen hat.

Hans-Joachim Roedelius

Hans-Joachim Roedelius

© Nadine Blanchard / Wien

Hans-Joachim Roedelius, geboren 1934, begann seine beruflichen Werdegang an der Berliner Charité als Krankenpfleger und Masseur; auch als Sterbebegleiter war er tätig. Seit Ende der 60er-Jahre ist er als Komponist, Musiker, Dichter, Texter und Produzent erfolgreich, solo ebenso wie als Mitglied von Bands wie Kluster (später Cluster) und Harmonia.

Zusammen mit Dieter Moebius bildete er bis Ende 2010 das elektronische Duo Cluster. Mittlerweile hat sich Cluster aufgelöst und wird in anderer Form als Qluster (zusammen mit Onnen Bock und weiteren Kollaborateuren) noch in diesem Jahr wieder auferstehen. Mehr dazu demnächst an dieser Stelle.