Geschrieben am 3. Juli 2013 von für Musikmag

Halbzeit: 181 Tage 2013 – Alles Elektro, oder was?

Visage_FadetoGreyEin Halbjahresrückblick

– Warum müssen Rückblicke eigentlich immer im Winter veröffentlicht werden? Das Erreichen der Jahresmitte ist doch ein treffender Zeitpunkt, um einige Glanzlichter aus den vergangenen Monaten mit Pop zu würdigen, dazu gehören auch Fundstücke aus dem Netz. Eine kleine Bilanz zum 30. Juni zeigt, dass die ersten 181 Tage 2013 einiges zu bieten hatten. Der Autor dieser Zeilen durfte dabei sogar zum zweiten Mal nach 1987 ein Comeback des New Wave-Projekts Visage („Fade to Grey“) erleben. Und das bleibt nicht der einzige Moment, an dem wir uns hier in die frühen 1980er-Jahre denken. Von Thomas Backs

Steve Strange, Martyn Ware, Steven Patrick Morrissey, David Bowie – das sind vier Künstler, die ein halbwegs geschmackssicherer Vorstadt-DJ anno 1983 durchaus auf dem Schirm gehabt haben dürfte. 30 Jahre später befinden wir uns mitten im Achtziger-Revival, was nicht nur ein Blick in die weltweiten Schaufenster der Hipster-Boutiquen unweigerlich deutlich macht. Die vier hier eingangs genannten Herren sollen also auch in der Rückschau auf die ersten 181 Tagen des Jahres 2013 Erwähnung finden.

Elektro, New Wave und Synthie-Pop gehören zu den dominanten Themen, so auch zum Einstieg, den wir mit den frühen Stunden der 1980er-Jahre bzw. dem Dezember des Jahres 1979 verbinden können. In diese Zeit führen uns nämlich die Klänge eines elektronischen One-Hit-Wonders, das in einem der bisher schönsten Kino-Filme des Jahres erklingt, während einer ziemlich berührenden Szene, in der Michelle Williams als Margot zusammen mit Luke Kirby (Daniel) auf einer Karussel-Fahrt unterwegs ist, dazu läuft „Video Killed The Radio Star“, vom Trevor Horn-Projekt The Buggles. Ein zentraler Moment des Sarah Polley-Films „Take This Waltz“. Ganz wunderbar.

Entzückt zeigte sich da auch unser aller Lieblings-Filmredakteur Thomas Vorwerk von satt.org, der „Take This Waltz“ nicht nur zum Film des Monats März kürte. Der gute Mann legte sogar noch nach und feierte die bezaubernde Michelle Williams in der Rubrik ‚Critics In Love‘. Stark.

Mit den Buggles sind wir zeitlich gar nicht so weit von den New Romantics entfernt, den Anhängern eines ziemlich hippen wie gewohnt kurzlebigen Trends aus dem UK, bei dem elektronische Musik, Mode und Mascara zentrale Elemente waren. Megaerfolgreich war dabei zu Beginn der 1980er-Jahre für ganz kurze Zeit auch das Elektro-Projekt Visage um Steve Strange, das sich im Umfeld der Synthie-Popper Ultravox bildete, Midge Ure und Billy Currie gehörten zur Urbesetzung und zu den Songwritern des großen Hits „Fade To Grey“. Drei Longplayer gab es insgesamt, mit deutlich sinkendem Erfolg.

Ein erstes – ähem – Revival gab es übrigens 1987. „Fade To Grey“ wurde nämlich bereits damals neu aufgelegt, kein Scherz. Als ‚Folge 49‘ in der 7inch-Serie ‚Hit Comeback‘. Ganz zur Freude der Teenager jener Jahre, die im Plattenladen ihrer Wahl dankbar zugriffen.

Im Juni 2013 trägt Steve Strange um einiges dicker auf, veröffentlicht als einziges verbleibendes Original-Mitglied von Visage mit „Hearts And Knives“ das erste Album nach 29 Jahren Pause, mitten im laufenden Achtziger-Revival. Kaum verwunderlich, wenn langweilende Epigonen wie Hurts gerade in aller Welt groß Kasse machen. Da wollen wir Herrn Strange auch ein paar Taler gönnen, schließlich hat er Musiker wie Robin Simon (Ultravox) und Mick Mac Neil (Simple Minds) reaktiviert und über Jahre an neuen Werken gebastelt.

Visage_HeartsandKnivesGewidmet hat Steve Strange das Album übrigens Martin Rushent, der im Juni 2011 gestorben ist. Der legendäre Produzent (u.a. „Dare“ von The Human League) begleitete Visage bereits 1979 und wirkte auch an den Anfängen zu „Hearts And Knives“ mit. Darauf setzen Visage 2.0 (fast) komplett auf die Analog-Synthesizer jener Tage, um Pop-Melodien wie „Shameless Fashion“ oder „Dreamer I Know“ besonders antiquiert klingen zu lassen. Ist ja schließlich hip, in Notting Hill. Und so.

Wer es in Sachen Elektropop innovativer mag, der hält sich allerdings besser an Martyn Ware (Heaven 17), der sich ebenfalls in diesen Tagen zurück meldet. Im Interview mit Christina Mohr erzählt Ware über die Rückkehr seines Projekts BEF (British Electric Foundation), am neuen Longplayer haben unter anderen Green Gartside (Scritti Politti), Boy George und Andy Bell (Erasure) mitgewirkt.

Platz 2 im UK: „Ding, Dong! The Witch Is Dead“

Als der Elektropop von OMD (neues Album 2013: „English Electric“), Heaven 17, The Human League, Visage und Co. im UK die Charts bestimmte, war Margaret Thatcher Premierministerien. Ihr Tod am 8. April 2013 brachte einige Reaktionen, manch ein Musikliebhaber hätte im Plattenschrank auf ein abendfüllendes Programm zurückgreifen können. Auch in den offiziellen Charts des Vereinigten Königreichs ging es rund, unter anderem mit „Ding, Dong! The Witch Is Dead“. Das Lied aus dem Musical „The Wizard of Oz“ schaffte es bis auf Platz 2. Groß genug war die Auswahl für Musikliebhaber auf jeden Fall, was auch Klaus Walter zeigte, der von unserer Redaktion so geschätzte Radio-Moderator und DJ. „Am Tag als Margaret Thatcher starb“ hieß seine Ausgabe von ‚Was ist Musik‘ auf ByteFM, mit einer ziemlich erstaunlichen Playlist.

Wer da nicht fehlen durfte: Morrissey mit „Margaret On The Guillotine“. Persönliche Nachrufe des Künstlers liefen über True To You gleich doppelt, eine erste Reaktion auf Thatchers Tod veröffentlichte er im von Julia Riley betreuten Magazin am 9. April. Regelmäßige Besuche lohnen dort auf jeden Fall, der Ex-Sänger der Smiths meldet sich hier regelmäßig zu Wort. Das bisherige Glanzlicht vom ‚Last Of The Famous International Blogstars‘: Morrissey schreibt über eine zufällige Begegnung mit Kirk Douglas in Los Angeles. Am 22. Februar 2013.

Neon Neon – ‚Hammer & Sickle‘ from Lex Records on Vimeo.

Neon Neon_Praxis Makes PerfectWeiter geht`s in Sachen Elektropop: Mit dem zweiten Konzeptalbum des Duos Neon Neon und einer Sammlung voll musikalischer 80er-Zitate. Gruff Rhys (Kopf der Waliser Band Super Furry Animals) und US-Produzent Boom Bip widmen sich auf „Praxis Makes Perfect“ ganz dem Leben des italienischen Verlegers Giangiacomo Feltrinelli, in Zeiten von Systemkrise und Umverteilung lässt sich mit Elektropop eben auch der Marxismus bestens vertonen, ganz wunderbar sogar.

Beim Vorgänger „Stainless Style“ stand noch Autobauer John DeLorean im Blickpunkt, Hip-Hop und tanzbare Beats wurden in den Elektropop gemischt. „Praxis Makes Perfect“ reicht an diesen kleinen Meilenstein (2008) nicht ganz heran, macht aber trotzdem eine Menge Freude. Wer außer Neon Neon hat schon den Nerv, ausgerechnet Italo Disco-Sternchen Sabrina Salerno (Ballermann-Hit „Boys“ im Sommer 1987) zu reaktivieren? Kapitalismus-Kritik at its best. Und überhaupt: Wer ist schon Lady Gaga?

Ist 2013 also wirklich alles Elektro, oder was? Dreht sich alles um Synthie-Pop und Plastik, außer Achtziger-Revival nix gewesen? Das wäre ja furchtbar, die Welt ist zum Glück noch viel bunter. Das MusikMag im CULTurMAG versucht regelmäßig, eine ansprechende Auswahl der neuer Veröffentlichungen vorzustellen. Immer wieder mittwochs.

Vielfätig war das Angebot im ersten Halbjahr 2013, Newcomer wie Savages und Roxanne de Bastion treffen auf Etablierte, wie Daft Punk, Yeah Yeah Yeahs oder Tocotronic. Und auch auf die herrlichen Mudhoney, die nach ihrer Rückkehr noch lange nicht ans Aufhören denken, mit „Vanishing Point“ legten sie gerade Studioalbum Nr. 9 vor. Da schrieb Tina Manske, unsere allseits geschätzte MusikMag-Chefin so treffend: Mit ‚Vanishing Point‘ gewinnt man als Hipster keine Gummipunkte, das Album ist im schönsten Sinne des Wortes unzeitgemäß und überhaupt nicht cool. Und also so gemütlich wie dein Lieblings-Nagelbett und ganz und gar richtig und wichtig. Ganz genau, so sieht es aus.

Wer das Glück hatte, im Mai bei der Europa-Tour zu Gast zu sein, der durfte sich außerdem fragen, ob Mark Arm vielleicht der neue Iggy Pop ist. Ein Eindruck, der durchaus nahe lag. Zwischenzeitlich, jedenfalls, wenn der Sänger der Grunge-Legende sich seiner Gitarre entledigte und nur mit dem Mikro bewaffnet über die Bühne schritt. Musikalisch und optisch gab es da zwischen Klassikern wie „Suck You Dry“ und „Touch Me I`m sick“ durchaus Momente, die an Mr. Osterberg himself erinnerten, und das nicht zu knapp. Ein guter Anlass, im Netz nach einem Live-Auftritt der Band zu suchen, an dieser Stelle werdet ihr fündig, 71 Minuten aus dem KOKO, London, im Jahr 2009.

Iggy Pop selbst meldet sich derweil mit einem neuen Stooges-Album zurück, sein alter Spezi David Bowie veröffentlichte zeitgleich sein erstes Album seit zehn Jahren, auf „The Next Day“ schwelgt er in Songs wie „Where Are We Now?“ in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit in Westberlin. Da kann ich gar nicht anders, ich muss Songs auflegen, die Pop/ Bowie dort zusammen geschrieben haben, zum Beispiel „China Girl“ von Iggys Album „The Idiot“ (1977). Bowies Version erschien sechs Jahre später, tummelte sich vor genau 30 Jahren in den Charts. Womit wir wieder beim – manchmal ziemlich kitschigen – Sound der Achtziger sind:

„China Girl“ 1983 from David Bowie on Vimeo.

So war das damals, mit Pop im Linear-TV. Aber so wollen wir Euch an dieser Stelle nicht in einen langen – hoffentlich heißen – Sommer 2013 entlassen. Vor dem Abschluss gibt es zunächst noch ein Highlight aus der Netzwelt, nämlich die Serie ‚Sehen alle gleich aus‘ im BILDblog. Ohne den wäre uns glatt entgangen, dass kürzlich tatsächlich jemand Biggie Smalls live on stage ablichten konnte, das ist wirklich erstaunlich.

DJ Koze_AmygdalaDas Beste zum Schluss: Jeder Sommer braucht seine Hits und LPs. Würde ich nun auf die einsame Insel fliegen, dann wäre neben einem Koffer voller Bücher ein Album auf jeden Fall im Gepäck, bzw. auf dem Player: „Amygdala“ von DJ Koze. Entspannter als auf dieser Scheibe geht es wirklich kaum noch. Und vor allem: Herr Kozalla und seine Freunde zeigen hier, was mit Electronica abseits des Achtziger-Revivals alles möglich ist. Zum Beispiel gemeinsam mit Caribou, Apparat, Dirk von Lowtzow, Matthew Dear und – bingo ! – der Rückkehr von Hildegard Knef. Titel: ‚Ich Schreib`Dir Ein Buch 2013‘.

Wenn das nicht der ultimative Sommerhit 2013 ist, was dann?

Thomas Backs

Visage: Hearts And Knives. Blitz Club (PIAS). Zur Webseite von Visage.
Neon Neon: Praxis Makes Perfect. Lex Records (Alive). Zur Webpräsenz des Projekts bei Lex Records.
DJ Koze: Amygdala. Pampa Records. Zur Webseite von Pampa Records.

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