Von Atzelgift bis Westerland
– Es war auch wirklich an der Zeit: 2012 ist das Jahr, in dem Oer-Erkenschwick endlich seinen festen Platz auf der Deutschlandkarte des Rock und Pop findet. Mit dem Song „Erkenschwick“, zu hören auf „Zwischen den Runden“, dem vierten Album der Hamburger Band Kettcar. Mit dem bitterbösen „Schrilles, buntes Hamburg“ und dem finalen „Zurück aus Ohlsdorf“ finden sich zwei weitere Songtitel mit Ortsnamen auf diesem Longplayer. Damit touren die Musiker um Marcus Wiebusch gerade kreuz und quer durch die Republik. Da starten wir eine neue Geografie-Stunde mit einer kleinen Deutschlandreise des Rock und Pop. Durch Orte, deren Namen in Songtiteln verewigt sind. Von Thomas Backs
An den Gleisen steht ein kleiner Junge mit seinem Koffer
Er will ans Meer, weil er weiß, dass das Meer immer bleibt, wo es jetzt ist
Und jeder Mensch braucht etwas, das er liebt, und dieser Zug hier fährt nach Erkenschwick
Jetzt weiß er nur nicht ganz genau, ob das überhaupt am Wasser liegt
So der Text zum Gitarren-Pop der Hamburger von Kettcar, das dezente Bar-Piano darf hier nicht fehlen. Nach Herbert Grönemeyers „Bochum“ also endlich mal wieder ein Songtitel, in dem eine Stadt des Ruhrgebiets verewigt ist. Was jetzt noch fehlt: Ein Auftritt von Kettcar in der Erkenschwicker Stadthalle, am Berliner Platz. Der ist nun eigentlich fällig. Oder etwa nicht?
Lustige Episode zum Thema Ruhrgebiet: An seinem südöstlichen Ende, da grenzt das Revier direkt an die Märkische Region. Und genau dort war in den frühen 1980er-Jahren sogar einmal die heimliche Musik-Hauptstadt Deutschlands. Zumindest war Hagen in Westfalen damals ein beliebtes Reiseziel für die Chefreporter von Qualitätsmagazinen wie Bravo, Bunte und Pop Rocky. Neben Extrabreit kamen nämlich auch Nena Kerner und viele andere Musiker aus dieser Stadt. Für Extrabreit („Hurra, Hurra, die Schule brennt“/ „Flieger, grüß`mir die Sonne“) war das ein guter Grund, ihre Heimat in einem Song zu verewigen. „Komm`nach Hagen/ werde Pop-Star/ mach` Dein Glück“ singt Kai Havaii hier ziemlich böse. Damals bittere Ironie, heute irgendwie ein ziemlich großer Spaß.
Was Kettcar können, das können andere Hamburger Musiker auch. Im Jahr 2008 war mit Herrenmagazin eine andere Gitarrenband aus dem Norden auf ganz ähnlichen Wegen unterwegs: Das Quartett benannte sein Debüt-Album nach dem Song „Atzelgift“, der seinen Namen von einem eher winzigen Nest im rheinland-pfälzischen Westerwald hat. Eine der Perlen dieses Longplayers, genau wie der zweite Stadtsong: Der Titel „lnbrg“ ist zerstückelt und zerhackt, gemeint ist ganz einfach Lüneburg:
Wow. Starker Song, starkes Album. Herrenmagazin und Kettcar sind bei weitem nicht die einzigen Musiker, die textlich gerne ihr Faible für Ortsnamen beweisen. Unsere kleine Deutschlandreise führt uns auch nach München, wo es Ende der 1990er oft genug entspannt elektronisch zuging. Sehr zu empfehlen: Der Longplayer „Unterwegs mit Isar 12″ (1997), auf dem eben Isar 12 zwei Orte festhielten: In „Die Straßen von Obergiesing“ und mit der „Frau aus Fürth“. München wurde lange lange Jahre davor schon einmal besungen, von der Spider Murphy Gang. Ja, von wem auch sonst? Mit „No Reggae in Munich“ beschwerten sich die Rocker um Günther Sigl im Jahr 1984 über die fehlende Kulturförderung ihrer Stadtväter. Heiß war auch der dazugehörige Albumtitel: „Scharf Wia Peperoni“ hieß die LP. Kein Scherz.
Eine andere Band aus München zog es nach der Wende in den Osten, zumindest musikalisch. „Dresden Neustadt“ heißt der Track, mit dem die Monostars von der Isar das bunteste Viertel der sächsichen Metropole verewigt haben. In den Jahren vor der Wende, da machte neben Mr. Lindenberg himself auch Nina Hagen ihr Ding: Mit „Erfurt und Gera“ haben es bei der guten Frau gleich zwei Orte aus Thüringen in einen Titel geschafft. Das kommt wirklich eher selten vor.
Berlin: „Zweiter Stock, vierter Hinterhof. Neben mir wohnt ein Philosoph“
Die Hauptstadt? Aus den nuller Jahren bleibt vor allem Robert Drakogiannakis` Kölner Band Angelika Express mit dem Schlachtruf „Geh doch nach Berlin!“ (2003) im Ohr. Eine kleine Hymne für alle, die nicht mitgegangen sind. Geht gut ab, diese Scheibe. Mein persönlicher Berlin-Favorit kam aber immer schon von einer echten Berliner Band: Diese alte Hymne von Ideal, die ist einfach nicht zu toppen. Auch nicht durch die beste Band der Welt, deren leicht verspätetes „West-Berlin“ ebenfalls ein großer Spaß ist. Nicht vergessen: DAF DOS und die stampfenden Beats von „Zurück nach Marzahn“ (1996). Das bringt immer noch Freude.
Weiter geht`s: BelaFarinRod waren noch BelaFarinHagen, als sie mit „Westerland“ (1988) zum ersten Mal als Geografen unterwegs waren. Eine feine kleine Surfmelodie auf das Sylter Refugium der Besserverdienenden, die es damals in die Charts und auf die Schülerpartys der Republik schaffte. Ja, Die Ärzte haben eben schon immer in ihrer eigenen Liga gespielt. Auffällig: Fast alle Künster lieben die Gegensätze, die Ortsnamen-Hitsliste bewegt sich zwischen Metropolen und den verlassenen Gassen der Provinz. Durch letztere können Musikliebhaber seit 2005 mit Sven Regener und Element Of Crime in „Delmenhorst“ wandeln. Auch Nordrhein-Westfalen hat seine kaffigen Ecken, Hannovers Fun-Punks Abstürzende Brieftauben verewigten eine davon in der späten Single „Pa-Pa-Paderborn“ (1993). Die großen Hallen füllten damals bereits die Toten Hosen, in ihren Anfangsjahren besangen sie ihre Heimat am Rhein mit dem Evergreen „Modestadt Düsseldorf“. Ach ja, Frankfurt am Main können wir auch besuchen, auf dieser Reise. Genauer: Den Stadtteil „Rödelheim“. Home of Schwester S.
Favoriten der Stadtsongs? Schwierig. Dirk von Lowtzow und Tocotronic haben mal Hamburgs ÖPNV verewigt, mit „Nach Bahrenfeld im Bus“. Am meisten lief hier vielleicht „Freiburg“, von ihrem ersten Longplayer „Digital ist besser„ (1995). Auch schon ein bisschen länger her. Right here, right now? „lnbrg“ von Herrenmagazin. Ganz bestimmt.
Bonustrack: Am Ende noch einmal zurück zum Ausgangspunkt. Oer-Erkenschwick. Als Kind des Ruhrgebiets hatte ich das Vergnügen, ein paar Mal beruflich das nette kleine Stadtarchiv in dieser alten Bergbaustadt zu besuchen. Rubrik „Geschichte und Geschichten“. Für das dortige Stadtmagazin Oer-Erkenschwick erleben. Wirklich spannend, der Blick in gesammelte Zeitungsbände und Programmhefte. Kettcar-Fans, die etwas über die Entstehung der City zum Ende der 1950er-Jahre wissen möchten, die können im Anhang lesen, wie das Zentrum auf der grünen Wiese gebaut wurde. Der Rest widmet sich eben gleich der Musik. Viel Vergnügen.
Thomas Backs
Kettcar: Zwischen den Runden. Grand Hotel Van Cleef (Indigo). Zur Website.
Herrenmagazin: Atzelgift. Motor (Edel). Zur Website.
Anhang: Geschichte und Geschichten: Für den Menschen von heute und morgen – Wie Oer-Erkenschwick sein Zentrum auf der grünen Wiese baute: Kulturhauptstadt Oer-Erkenschwick