Geschrieben am 13. April 2011 von für Musikmag

Die Entdeckung der Langsamkeit – Mut zum Komacore!

Offensichtlich eignet sich bestimmte Musik nicht für gesellige Abende. Für die Zeit dazwischen hat unsere Autorin Janine Andert die musikalische Langsamkeit entdeckt.

In Österreich gibt es einen Verein zur Verzögerung der Zeit, der sich für eine Entschleunigung der Welt einsetzt. Gegen sinnlose Hektik! Gegen übertriebene Eile! Gegen die Schnelllebigkeit! Dahinter steckt die Idee, sich nicht unnötig von der aufgeregten Eigendynamik der westlichen Welt vereinnahmen zu lassen. Einfach mal durchatmen und den Blick für die kleinen Dinge wiederentdecken, das Wesentliche sehen. Da der Rhythmus von Musik bekanntlich die Herzfrequenz beeinflusst und somit das Körpertempo vorgibt, stellen wir euch den garantiert richtigen Soundtrack für die Entdeckung der Langsamkeit vor:

Erhöhter Adrenalinausstoß

Willkommen in der Welt schaurig-schöner Ästhetik! 2010 konzipierte RUIN alias Martin Eder zusammen mit dem Kammerorchester KALEIDOSKOP die düstere Musik-Performance „Half Skull“ für die Berliner Sophiensäle. Neben dem Solistenensemble erhielt RUIN hochkarätige Unterstützung vom ungarischen Black-Metal-Künstler Attila Csihar (Mayhem, Sunn O)))) und Jochen Arbeit (Einstürzende Neubauten). Nun wird der Mitschnitt des cineastisch anmutenden Meisterwerks auf CD veröffentlicht.

Das aus 14 Streichern bestehende Solistenensemble KALEIDOSKOP wurde 2006 vom Cellisten Michael Rauter und dem Dirigenten Julian Kuerti ins Leben gerufen. Wie schon der Name verrät verstehen sich die Mitglieder als Solisten, und doch vereint das Musikerkollektiv die Idee vom Aufbrechen traditioneller Konzertformen und konventioneller ‚klassischer’ Musik. Mit der Entwicklung neuer Klangsprachen und dem Einsatz anderer Kunstformen wie Architektur, Literatur, Tanz, Schauspiel und Lichtdesign sollen alle Sinne des Hörers stimuliert werden. Im neu geschaffenen Kontext erschließen sich bisher unbekannte Erfahrungen in der Wahrnehmung und Rezeption klassischer Musik. Seit 2008 sind KALEIDOSKOP „Ensemble-in-Residence“ im Berliner RADIALSYSTEM V, eine der ersten Adressen für den interdisziplinären Dialog zwischen den Künsten.

Martin Eder, einer der erfolgreichsten deutschen Gegenwartskünstler, ist hingegen bekannt für seine idyllischen Scheußlichkeiten in Öl, einer Mixtur aus trashigem Kitsch, Lolita-Erotik und Surrealismus. Lasziv dreinblickende Frauenakte werden zusammen mit kuscheligen Häschen und Kätzchen drapiert. Das ist so süßlich, dass es schmerzt. Eder beschreibt seine Bilder als in Hochzeitskleider verpackte Aggressionen, die er sich nie an die eigene Wand hängen würde. Aufgrund ihrer immanenten Tendenz zum Pornografischen und der gleichzeitigen übertriebenen Niedlichkeit haftet den Bildern eine polarisierende Radikalität an.

Der antithetische Denkansatz findet sich auch in seiner Musik – im Diskursfeld sich widerstreitender Klangwelten verbirgt sich mehr als es zuerst scheint. Man fühlt sich an David Lynch erinnert, dessen Hyperkolorit alltäglicher Situationen umso mehr auf die dahinter verborgenen Abgründe und die Ambivalenzen des Lebens verweist. Und so wie Lynch in seinen Filmen Bild, Ton und Text synästhetisch miteinander verbindet, sich alle Medienformen zu einem Ganzen vereinen, dessen Sinn nur im Zusammenschluss fassbar ist, versteht sich auch Eders musikalisches Schaffen als eine Erweiterung seiner Malerei, quasi der Soundtrack zum Bild.Noch bis vor zwei Jahren glich der Musiker Martin Eder einer Monsters-Version von Roy Orbison. Als Richard Ruin & Les Demoniaques sang er düster-traurige Balladen, die ganz unironisch einen Preis für die beste Adaption von Pathos getragenen 60s-Schnulzen verdienen. Vom Pathos konnte sich Eder nicht ganz verabschieden, dafür aber von konventionellen Songstrukturen.

Prägend für diese musikalische Wende war wohl sein Nahtoderlebnis im Jahr 2005. Bei einer Herzkatheder-Untersuchung kam es zu einer Komplikation, die sein Herz für kurze Zeit stehen ließ. Eder nimmt diesen Moment in der Reflexion als einen Moment der wahnsinnigen Ruhe wahr, die er seitdem auch versucht in sein Leben zu integrieren. Dass „Half Skull“ eine äußerst morbide Schönheit aufweist, überrascht daher wenig. Mittlerweile verzichtet Eder auf den Gesang und zerlegt seine Songs in eine Melange aus zeitgenössischer klassischer Musik, Essenzen aus Drone, Doom und Black Metal und Ambient-Klängen. Dieses Geflecht wird dann noch einmal durch Filter und Effekte gejagt und mit Loops versehen. So entsteht eine faszinierend-schläfrige Soundcollage, die trotz ihrer radikalen Langsamkeit für einen erhöhten Adrenalinausstoß sorgt.

Bei Tracks wie „Blck Phlgm“ erzeugen die Streicher eine Finsternis, die das Blut in den Adern gefrieren lässt. Das Herz puckert vor Angst. Dabei kommt die Einleitung mit nur leicht elektronisch verfremdeten Passagen ganz harmlos daher. Doch schon im zweiten Track „Osoizarg Orgella“ deuten die Streicher an, dass sie disharmonisch sägen können. Es brummt, kreischt und fiept in Zeitlupe vor sich hin. Im Kopf entsteht ein Stummfilm aus den Anfängen des letzten Jahrhunderts. Das Orchester hebt zum schaurigen Szenenfinale an und dekonstruiert die Ansätze einer Melodie so brachial, dass es körperlich spürbar wird. Wie ein Schlaflied für Kinder beruhigen die ersten Töne von „Satan Comes, Satan Leaves“. Die dann einsetzenden Verzerrungen und das Gefrickel müssen wohl kaum erwähnt werden. Wie sonst sollte sich das Kinderlied in einen Albtraum verwandeln?

All dem wohnt ein unheilvoller Grundtenor inne, der aber, ob seiner theatralischen Inszenierung, wie eine Katharsis wirkt. Zerborstene, nicht abklingen wollende Töne treffen auf fragile und bisweilen sogar zarte Klänge, über die sich ein dunkles Rauschen legt. Beim Track „Gekämmtes Haar, Appolonia“ wird zum ersten und einzigen Mal gesprochen – düstere Visionen, mit denen man die Apokalypse einleiten könnte. Warum ausgerechnet Appolonia, katholische Märtyrin und Schutzheilige der Zahnärzte, hier eine Rolle spielt, bleibt rätselhaft. In „Landscape With Gallows“ bricht dann endlich der Pathos durch. Filmisch gesehen wäre das der Moment, in dem eine nicht irdische Macht im gleißenden Licht erstrahlt. Der schräge Höhepunkt der Verzerrungen und des atonalen Streichersägens wird in „Geister 4240342“ erreicht.

„Half Skull“ ist eine sakrale, atmosphärisch dichte Offenbarung, die in ihrer Intensität über bekannte Hörgewohnheiten hinausgeht.Wenn ein bildender Künstler sich auf dem Terrain der Musik bewegt, ist es selbstverständlich, dass sich das Cover-Artwork sehen lassen kann. Das apokalyptische Kammerstück „Half Skull“ umfasst 12 Tracks. Folglich wurden für die CD-Gestaltung 12 Materialen verwand, die den musikalischen Inhalt repräsentieren. Im Siebdruckverfahren wurden Altöl, Wodka, Fett, Blut, Seife, Aspirin, Tabak, Metall, Knochen, Asche, Ruß und Salz zu einer dicken, schwarzen Kruste verschmolzen, die als Quadrat das Cover zieren – Symbol für einen schwer zu durchdringenden musikalischen Brocken aus Klang, Lärm, Geräusch, Rhythmik und Melodie.

Um in der Sprache der Bildenden Kunst zu bleiben: Mit „Half Skull“ verhält es sich wie mit einem von Ad Reinhardts schwarzen Gemälden – alle bunten Farben übereinander geschichtet ergeben Schwarz. Erst durch genaues Hinschauen werden die unterschiedlichen Nuancen sichtbar und lassen den Betrachter nicht mehr los.

Wer sich von der schweren Dröhnung selbst überzeugen will, sollte den Auftritt von RUIN & Solistenensemble KALEIDOSKOP am 14.4.2011 in der Berliner Volksbühne nicht verpassen. Zum einen wird an diesem Abend das Album „Half Skull“ präsentiert, zum anderen wurde für diesen Anlass das neue Programm „Above a Blinding Sun (.i..N.)“ entwickelt.

RUIN & Solistenensemble KALEIDOSKOP: Half Skull. Viva Hate (Cargo Records).
Die Homepage des Ensembles und hier ebenso. Die Künstler bei Facebook.

Endzeit-Soundtrack

Experimentell und auf der farbigen Musikskala im Bereich dunkelgrau geht es weiter. 1999 schlossen sich auf Sizilien vier junge Männer zu einer Band zusammen. Gelangweilt vom Sonnen am Meer in Siracusa warteten sie auf den Weltuntergang. (Für die, die sich nicht mehr erinnern, für das neue Millennium wurde von bösen Zungen wieder einmal der Weltuntergang prophezeit.) Den nahen Tod vor Augen wollten die Jungs von Mashrooms vor allem eines: die heißesten Bräute der Stadt abschleppen. So etwas soll als Mitglied einer Band ganz gut funktionieren. Dummerweise war die Welt ein Jahr später immer noch da und das mit den Mädels hat auch nicht ganz geklappt (sagt die Band). Dafür hatten die Jungs Spaß am Musizieren gefunden und Mashrooms blieb bestehen.

Mittlerweile zu fünft veröffentlichen sie jetzt ihr drittes Album. Entgegen aller kulturellen Vorurteile warten Mashrooms aber nicht mit la dolce vita auf, sondern arbeiten immer noch am Endzeit-Soundtrack. Und das auf eine äußerst skurrile Weise: Ein kleines Kammerorchester (Geige, Cello und Klavier) wird von Hard-Rock-affinen Schlagzeug, Bass und Gitarre begleitet. Soweit geht das noch als Post-Rock durch. Elegisch treibt der Sound, um von einer gefühlten Bohrmaschine unterbrochen zu werden. Ist nur eine Gitarre, aber die gemütliche Langsamkeit ist aufgebrochen. Sprechtexte mit politischen Botschaften folgen: soziale Veränderungen auf Sizilien, die vorherrschende Gewalt. Das Cello wird in „Playground“ zu einem disharmonischen Monstrum im Fluss der Musik. Das ist mitunter furchtbar anstrengend. Die Kombinatorik unterschiedlicher Stilelemente hat durchaus Potenzial. Nur fehlt am Ende so etwas wie ein Funke, etwas, das über gute Arrangements und politischen Idealismus hinaus trägt. Um als Beruhigungsmittel durchzugehen sind die schiefen und verzerrten Töne dann doch zu nervös. Dennoch, als Übergang von Post-Rock zu experimentellen Industrial-Scheiben ist das Album einsetzbar. Als Codein-Ersatz zur Mitternacht ist es eher nicht zu empfehlen.

Mashrooms: s/t. Wild Love Records.
Die Website der Band. Mashrooms auf Myspace und bei Facebook.

Nachtmusik

Wenn wir schon bei beruhigender Musik sind, darf natürlich nicht EMIs Reihe der “Late Night Tales” fehlen. Seit rund zehn Jahren zieht sich das Label jährlich eine Band heran, die einen Sampler mit langsamer Nachtmusik zusammenstellen darf. In der Vergangenheit konnten unter anderem die Flaming Lips, Belle & Sebastian, Air, Nouvelle Vague und die Arctic Monkeys für dieses Projekt rekrutiert werden. Grundsätzlich ist jedes Album empfehlenswert für Menschen, die auf beruhigende Töne stehen. In diesem Jahr gab sich die texanische Band Midlake die Ehre. Als ehemalige Jazz-Studenten mit einem Hang zu psychedelischem Rock und den langsamen Spielarten des Indie-Pops sind die fünf Musiker geradezu prädestiniert, uns die nächtlichen Stunden zu versüßen. Neben ihrer eigenen beigesteuerten Coverversion von Black Sabbath’s „Am I Going Insane“ glänzen Björk, Scott Walker, die unvergleichliche Nico, Beach House und 14 weitere Interpreten mit verträumten Mitternachtssongs. Ein erster Eindruck kann hier gewonnen werden.

Midlake: Late Night Tales. Late Night (EMI).
Die Band auf Myspace sowie bei Facebook und die Homepage.

Viel los im Hintergrund

Das amerikanische Duo L’Altra (Italienisch für „die Andere“) ist seit 1999 ein Garant für bittersüßen Indiepop zwischen Wachen und Träumen. Ihr viertes Studioalbum „Telepatic“ fügt sich nahtlos in die narkotische Klangwelt der Band ein. Dabei ist den leisen Tönen das Auf und Ab des bandinternen Personalkarussells nicht anzumerken. Gegründet wurde L’Altra von Lindsay Anderson, Joseph Desler Costa, Ken Dyber und Eben English in Chicago. Davon ist nur noch das Ex-Pärchen Anderson/Costa übrig geblieben, die sich schon bei den Aufnahmen für das 2000er-Debütalbum „Music Of A Sinking Occasion” nach siebenjähriger Beziehung trennten. Die Melancholie verflossener Beziehungen, die wehmütig, aber nicht im Streit auseinander gingen, ist dann auch zum musikalischen Programm geworden. Ganz im Gegensatz zum stürmischen Gebären hinten den Kulissen klingt Lindsays Stimme nach rosafarbenen Wattewolken, die durch Costas sanften Gesang am Himmel gehalten werden. Mehr noch als auf den Vorgängeralben zeichnet sich „Telepathic“ durch einfühlsame Duette aus, die wie gewohnt von Lindsays schwebendem Pianospiel, Costas gedämpfter Gitarre und schleichenden Percussions begleitet werden. Das alles noch ein wenig mit subtilen elektronischen Klängen und Streichern unterlegt und fertig ist ein der Welt entrückter Sommertraum.Der Opener „Dark Corner I“ und Rausschmeißer „Dark Corner II“ sind als Titelnamen etwas irreführend.

Gut, euphorisch ist anders. Freunde von Morgenradiosendungen könnten unter Umständen meinen, dass das wirklich recht finster und vor allem dem Aufwachen nicht dienlich ist. Hat aber auch niemand behauptet. „Telepathic“ ist eher die Art dunkle Ecke, die, Gott sei Dank, von grellem Licht verschont bleibt. Quasi eine kleine, warme Insel, die sich durch Stetigkeit und dichte Arrangements auszeichnet. Von dort kann auf das bedrohliche Meer geschaut und der wunderbare Titel „When The Ship Sinks Make It Sing“ schwermütig mitgelächelt werden.

Unterstützt wurden L’Altra von erprobten Spezialisten der Langsamkeit: Josh Eustis (Telefon Tel Aviv, Sons of Magdalene), Josh Abrams (Bonnie ‚Prince’ Billy) und Norman Palm. Wobei die Liste der Gastmusiker schier endlos ist. Wie immer bei L’Altra – viel los im Hintergrund, zu hören ist am Ende trotzdem nur sanft treibende Musik.

L’Altra: Telepathic. Acuarela (Broken Silence).
Die Homepage der Band. L’Altra auf Myspace und bei Facebook.

Unaufgeregte Momente

Der schottische Singer-Songwriter Alexi Murdorch leistet mit der Wiederveröffentlichung seines 2009er-Langspielers „Towards The Sun“ seinen Beitrag zur Verlangsamung der Welt. Einen Großteil der Songs für sein zweites Album nahm der in London geborene, in Schottland, Griechenland und Frankreich aufgewachsene und später in den USA studierende Halbgrieche in einer einzigen Nacht in Vancouver auf. Damals, 2009, auf einer Nordamerika-Tour. Was beweist das? Je aufregender das Leben, desto größer die Sehnsucht nach Ruhe.

Murdochs großes Vorbild dürfte Nick Drake sein, zumindest musikalisch. Was den Lebenslauf betrifft, ist das nicht zu hoffen. „Towards The Sun“ erinnert extrem an den amerikanischen Ausnahmekünstler Drake, der 1974 aufgrund einer Überdosis Antidepressiva aus dem Leben schied und einen Großteil seiner Musik in seinem Wohnzimmer aufnahm. Stimmlich, atmosphärisch und hinsichtlich des musikalischen Duktus sind sich Drake und Murdoch bis zum Verwechseln ähnlich. Allerdings kann Murdoch mit der Unterstützung vom Who is Who der New Yorker Musikszene punkten. Für die nachträgliche Instrumentierung und Ausgestaltung von „Towards The Sun“ standen ihm unter anderem Jon Natchez (Ukulele, Saxophon, Klarinette bei Beirut), Kelly Pratt (Trompete und Euphonium bei Beirut) und Kyle Resnick (Trompetenaushilfe bei The National und Sufjan Stevens) zur Seite. Die Größe dieser Nachbearbeitung besteht darin, dass sie die Intimität der ursprünglichen Aufnahmen nicht ruiniert, sondern an den richtigen Stellen den Sound lediglich ein wenig voller macht.

Bei so viel umarmender Schwermütigkeit kam Regisseur und Oscar-Preisträger Sam Mendes nicht umhin, Murdoch für den Soundtrack seines 2009er-Films „Away We Go“ zu verpflichten. Ganze neun Songs steuerte Murdoch bei, darunter auch den Titeltrack „Towards The Sun“. Er schafft es, neben Größen wie The Velvet Underground, Bob Dylan, George Harrison und den Stranglers zu glänzen.

Überhaupt scheint die amerikanische Filmindustrie Murdoch für sich entdeckt zu haben. Seine Lieder werden in unzähligen Serien, darunter „O.C., California“ und „Dr. House“, verwendet. Damit lässt sich „Towards The Sun“ treffend beschreiben: Dieses Album ist die ideale Musik für die unaufgeregten Momente im Alltag. Der Soundtrack für Tagträume, verliebte Trägheit oder einen kleinen Seufzer, aber immer mit einem Lächeln auf den Lippen und wohliger Wärme im Herzen. Wer sich Murdoch nun als einen stripped to the basics-Klampfenspieler vorstellt, irrt gewaltig. Ganz im Zeichen der Zeit hat er die Loop-Maschine entdeckt und weiß, dass man ohne Harmonium, Geige und dem ganzen Multiinstrumentalistenkram heute keine Bühnen mehr betreten darf. „Towards The Sun“ ist schön im wahrsten Sinne des Wortes. Bleibt abzuwarten, ob dem Album die gleiche Ehre wie Murdochs in Eigenregie aufgenommenen 2006er-Debüt „Time Without Consequence“ zuteil wird: bisher über 100.000 Mal verkauft und mit Erwähnung in der berüchtigten Rolling-Stone-Bestenliste „Top Ten Artists To Watch“.

Alexi Murdoch: Towards The Sun. City Slang (Universal).
Die Homepage des Künstlers. Alexi Murdoch bei Facebook und auf Myspace.

Wattierte Welt

Single-Auskoppelungen sind ja eigentlich nicht erwähnenswert und nur für Hardcorefans und Musik-Nerds von Bedeutung. Anders sieht es bei Junip, der schwedischen Band um José González, Tobias Winterkorn und Elias Araya, aus. Bei denen ist erstens gleich eine ganze EP aus der Single geworden, und zweitens ist González’ Stimme so unfassbar entspannt und leicht, dass man sich selbst das Einsingen des Telefonbuchs kaufen sollte.

Keine Angst, die „In Every Direction EP“ ist weit entfernt von der Belanglosigkeit eines Telefonbuchs. Vielmehr wartet sie mit drei neuen Stücken auf, die auf dem 2009er-Album „Fields“ nicht zu finden sind. Hinzukommen zwei sehr hörenswerte Remixe des „Fields“-Openers „In Every Direction“. Oder anders ausgedrückt: alles, bei dem José González seine Stimme mit im Spiel hat, ist als spannungslösendes Mittel einsetzbar. Die Mischung aus Folk und elektronischen Klängen wattieren die Welt. Dabei ist der Sound weder überproduziert noch hippieesk. Die unkapriziösen Melodien tragen vielschichtig durch die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Im ersten Moment unauffällig, bekommt der Hörer diesen bonbonen Puritanismus nicht mehr aus dem Ohr.

JUNIP sind generell ein Hauch von Magie – sie zaubern ein Lächeln in jedes Herz. Oder beschreiben wir Junip mit José González’ Coverversion von The Knifes „Heartbeats“. Der Song erfuhr 2006 weltweite Bekanntheit durch einen Werbespot der Firma Sony. Ja, genau, der Spot, in dem Tausende bunter Flummies durch die sonnigen Straßen San Franciscos hüpfen. Bei Junip tritt im Gegensatz zu González’ Solopfaden die Akustikgitarre in den Hintergrund und der Klangteppich wird durch einen Synthesizer komplettiert. Im Vordergrund stehen aber immer noch wunderbare Melodien und eben González’ samtener Gesang.

Junip: In Every Direction EP. City Slang (Universal).
Die Band bei Facebook und auf Myspace sowie ihre Website.

Zum Mitwippen

Bei all den musikalischen Beruhigungspillen bringen The Head and the Heart wieder ein wenig schwingende Dynamik in den Reigen. Nicht, dass die sechs Musiker aus Seattle mit überbordender Euphorie aufwarten würden, aber ihr Takt entfernt sich schon immens von düsterem Drone Metal. Fröhliche Akkorde, die eher in das Vorprogramm von Mumford & Sons passen – damit springen Josiah Johnson (Gesang/Gitarre), Jonathan Russel (Gesang/Percussions), Charity Thielen (Geige/Gesang), Kenny Hensley (Klavier), Tyler Williams (Drums) und Chris Zasche (Bass) auf den Zug des Pop-Folks auf, der derzeit in der Musikwelt hoch im Kurs steht. Das Innovationspotenzial dieses Ensembles ist gleich Null und animiert höchstens zum Gähnen.

Wer sich von der Austauschbarkeit nicht stören lässt, wird im selbstbetitelten Debütalbum der Band ein wundervolles Sommeralbum finden. Luftige Melodien spielen sich federleicht über den Kopf ins Herz. Genügend Melancholie schwingt trotzdem mit. Die scheint momentan ebenfalls dem Zeitgeist zu entsprechen. Das amerikanische SPIN-Magazin hat The Head and the Heart gar als neuen Hype entdeckt.

Warten wir ab, ob die erst vor eineinhalb Jahren gegründete Band die Schnelllebigkeit des Musikbusiness überleben; fürs Erste erfreuen wir uns einfach an Mitwipp-Liedern für die von Hitze beseelte Sommer-Trägheit.

The Head and the Heart: dito. Heavenly Recordings/Cooperative Music (Universal).
Die Homepage der Band. The Head and the Heart bei Facebook und auf Myspace.

Damit entlassen wir euch in den mit schnellen Schritten nahenden Frühling oder um es mit den Worten der weltbesten Drone-Doom-Metal-Band und den Meistern des Komacores, Bohren und der Club of Gore, zu sagen: “Bleibt fröhlich!”

Janine Andert

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