Geschrieben am 27. April 2011 von für Musikmag

Blitzbeats

Neue Platten von Fleet Foxes, Holy Ghost!, John Foxx & The Maths, Poly Styrene, The Mountain Goats, Toro Y Moi und TV On The Radio, besprochen von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (CM).

TV On The Radio: Nine Types Of LightZugänglich

Manchmal ist die Koinzidenz von Glück und Unglück nur schwer zu ertragen. In der letzten Woche ist Bassist Gerard Smith an Lungenkrebs gestorben. Er wird leider nicht mehr erleben, wie „Nine Types Of Light“, die neueste Platte von TV On The Radio, auf der er wieder einmal wunderbare Bassläufe beisteuerte (siehe „You“), weltweit durch die Decke geht. Wie schon auf ihrem Meisterwerk „Dear Science“ aus dem Jahr 2008 schütteln die fünf Musiker auch auf dem neuesten Album Ideen, Melodien und Arrangements aus dem Ärmel, dass man blass wird vor Neid, und packen sie in Songs zwischen Postpunk, Hip-Hop, Electro und Soul. Dass es dieses Mal zugänglicher zugeht als noch auf den Platten zuvor, ja, dass man sich Songs wie „Second Song“ oder „Keep Your Heart“ jederzeit im morgendlichen Formatradio vorstellen kann, ändert nichts daran, dass hier großartige sophistication in Komposition und Interpretation am Werk ist – jeder Ton sitzt da, wo er sitzen muss, mit einer schier unglaublichen Eleganz wird hier Pop-Perfektion betrieben, die sich zahlreich verästelt. „No Future Shock“ badet in afrikanischen Beats, „Killer Crane“ erinnert gar an die ruhigen-beunruhigenden Meisterwerke des frühen Peter Gabriel, „New Cannonball Blues“ hätte man sich von Massive Attack gewünscht. Nichts an dieser Platte ist irrelevant, und doch kann man unbeschwert dazu tanzen. Ja, tatsächlich scheint sich seit „Dear Science“ und dem Umzug ins sonnige Kalifornien so etwas wie Hoffnung ist Indie-Universum eingeschlichen zu haben. Herrlich – und unendlich schade, dass es TV On The Radio in dieser Formation nie mehr geben wird. (TM)

TV On The Radio: Nine Types Of Light. Interscope (Universal).
Die Website der Band. TV On The Radio bei Facebook und auf Myspace.

Toro Y Moi: Underneath The PineSchööön…

Soft ist das neue cool: Wie die australische Band Cut Copy bastelt Chaz Bundick alias Toro Y Moi aus scheinbar Gegensätzlichem wie groovigem Discosound und Westcoast-Singer-/Songwriter-Folkpop, Filmmusik à la Ennio Morricone, Dreampop und Psychedelik eine berückende Mischung, die wie geschaffen dafür ist, den kommenden Sommer musikalisch zu untermalen. Im vergangenen Jahr handelte sich der aus South Carolina stammende Bundick für sein Debütalbum „Causers Of This“ jede Menge Lorbeeren ein, das Genre „Chillwave“ wurde eigens für ihn aus der Taufe gehoben. Okay, „Underneath The Pine“ ist kein Album für Menschen, die erwarten, dass von Musik revolutionäre und umstürzlerische Impulse ausgehen. Chaz Bundick macht schöne Musik, die er mit verhalltem Gesang begleitet. Manchmal erinnert das an Air, zuweilen auch an The Sea and Cake und Tortoise – Musik, die also nicht nur schön ist, sondern an unerwarteten Stellen mit unerwarteten Details überrascht, Steve Reichschen Piano-Tricksereien beispielsweise. „Before I´m Done“ oder „How I Know“ sind von Experimentalmusikern wie David Axelrod beeinflusst – und doch schafft Toro Y Moi viel mehr, als reiner Zitatpop zu sein. Acts wie Bundick und Cut Copy sind Meister der Neu-Aneignung, der Aufarbeitung und Neusortierung von Vergangenem – im Netzzeitalter ist ja ohnehin nichts, also auch kein Musikstil wirklich vorbei und überholt, sondern permanent präsent. Toro Y Moi schöpft aus dem Vollen und fügt die Fundstücke neu zusammen. Man sollte ihm keinen Vorwurf dafür machen, dass sich das so schön anhört. (CM)

Toro Y Moi: Underneath The Pine. Carpark (Indigo).
Die Band auf Myspace sowie auf Facebook.

John Foxx & The Maths: InterplayVon einem, der analog auszog

Er ist einer der großen Synthiepop-Pioniere, der Mitbegründer von Ultravox, der uns als Soloartist schon in den 80er-Jahren mit dunklen Videos und kalten Songs („Underpass“! „Metal Beat“!) beglückte. Mit seinem neuen Album „Interplay“, das auf seinem eigenen Label Metamatic Records veröffentlicht wird, tut John Foxx so, als sei seit damals einfach keine Minute vergangen. Seit „Metamatic“, erschienen 1980, ist „Interplay“ das erste Album, bei dem Foxx nur analoge Synthesizer verwendete. Auch im vierten Jahrzehnt seines Schaffens steckt Foxx damit jüngere Mitbewerber wie Depeche Mode locker in die Tasche und schlägt dazu noch breite Brücken in Richtung Krautrock. Seine sonore Stimme, die bei aller einschmeichelnden Lässigkeit selbst Eisbären gefrieren lässt (cooooool, you might say) ist einfach unschlagbar. Gleichzeitig haut er aber auch wieder Refrains raus, die sofort ins Blut gehen („Summerland“). Als Mitstreiter ist der Synthesizer-Sammler Benge aka The Maths (bekannt von schönen Sammlungen wie „20 Systems“) mit an Bord, und die Herangehensweise ist eine einfache: Lasst das Alte neu klingen. Auch das Artwork bildet den Ansatz ab, alte Techniken in moderner Weise zu benutzen. Mission geglückt. (TM)

John Foxx & The Maths: Interplay. Metamatic Records (Cargo).
Die Homepage der Band. John Foxx & The Maths auf Myspace sowie bei Facebook.

Holy Ghost!: ditoUnbefangen

Wir prophezeien, dass mindestens zwei Songs von Holy Ghost! bald in der Werbung für Mobilfunkanbieter oder Softdrinks landen: Die New Yorker Schulfreunde Alex Frankel und Nick Millhiser machen schon lange zusammen Musik, seit drei Jahren firmieren sie unter Holy Ghost!. Ihre erste Single „Hold On“ von 2007 ist auf dem nun erschienenen Debütalbum zu hören und neben „Wait And See“ und „Hold My Breath“ ein heißer Kandidat für Werbezwecke. Holy Ghost! verstehen sich wie Empire of the Sun oder MGMT nämlich prächtig darauf, Achtzigerjahre-Vintage-Synthiepop mit tanzbaren Discobeats und hitverdächtigen Refrains zu verquirlen. Das Schöne an Bands wie Holy Ghost!, Empire o.t.S. und anderen jugendlichen Hipstern ist ja, dass sie völlig unbefangen an die Musik herangehen, die ihre Eltern zu Schulzeiten gehört haben. Frankel und Millhiser kramen im Elektronikbaukasten und fischen mal coole New Order-Hooks, mal grenzwertige Eurotrash-Daddeleien im Stile Modern Talkings heraus und schwupps, fertig ist der neue alte Sound, den heute niemand peinlich findet, ganz im Gegenteil. Bei „Slow Motion“ hört man gar Reminiszenzen an New Kids on the Block heraus, in der historischen Distanz geht das aber schon in Ordnung. Songs wie „Do It Again“ sind in ihrer synthetischen Überschwänglichkeit einfach unwiderstehlich, auf Albumlänge allerdings fransen Holy Ghost! ein wenig aus. Trotz des gegen Ende hinzugefügten satten Housegrooves macht die durchgängig hochgepitchte Ton- und Stimmungslage ein Gefühl im Bauch wie zuviel Florida Boy Orange. Womit wir bei der bereits erwähnten Softdrink-Werbung angelangt wären… (CM)

Holy Ghost!: dito. DFA (Cooperative).
Die Band auf Myspace und bei Facebook. Die Website der Künstler.

Poly Styrene: Generation IndigoBewährt

Wenn man weiß, dass die Künstlerin schwer krank ist, ist man in der kritischen Rezeption eines neuen Werks möglicherweise etwas befangen. Poly Styrene, ehemalige Sängerin von X-Ray-Spex und archetypisches Riot Grrrl der allerersten Stunde, erkrankte kurz vor Veröffentlichung ihres Comebackalbums „Generation Indigo“ an Brustkrebs, dem sie am 25. April im Alter von 53 Jahren erlegen ist. „Generation Indigo“ ist damit ihr musikalisches Erbe – und eine prima Platte: die Britin kreischt zwar nicht mehr so entfesselt und aufgedreht wie zu seligen Punktagen, aber nichts wäre schlimmer, als wenn sich Poly an Aufgüssen von „OH Bondage! Up Yours“ oder „Identity“ versucht hätte. Polys Stimme klingt erstaunlich hell und jugendfrisch, manchmal ein bisschen wie Debbie Harry. Die zwölf von Youth (The Verve, Edwyn Collins) produzierten Songs pendeln fröhlich und entspannt zwischen 80er-Synthiepop und Dub-Reggae, ein bisschen Disco hier, ein wenig Rock dort, Punk-Attitüde überall. Der Opener „I Luv Ur Sneakers“, „L.U.V.“ und die Single „Virtual Boyfriend“ sind knackige, tanzbare Hits mit Ohrwurm-Melodien, die auch junge Gossip-Fans begeistern dürften. Denn: „Generation Indigo“ ist keineswegs so revolutionär wie das legendäre X-Ray-Spex-Album „Germ Free Adolescents“. Poly Styrene bevorzugte zuletzt eher bewährte Sounds, die im Großen und Ganzen dem „Indie“-Sektor zugerechnet werden können. Wie ihre Kolleginnen von den Slits, die sich vor anderthalb Jahren mit einem neuen Album zurückmeldeten, musste Poly Styrene nicht mehr beweisen, dass sie eine der wildesten, wagemutigsten und ungewöhnlichsten Punk-Frauen war. Ihre damals demonstrativ getragene Zahnspange schimmert auch auf ihrem letzten Album durch, wenn sie bei „No Rockefeller“ oder „Kitsch“ unmissverständlich klarmacht, dass ihr Herz noch immer ganz ganz links schlägt. „Generation Indigo“ ist eine rundum erfreuliche Platte, die das Loch, den Poly Styrenes Tod in die Musikwelt reißt, nur noch größer macht.  (CM)

Poly Styrene: Generation Indigo. Future Noise (Rough Trade).
Die Künstlerin bei Facebook und auf Myspace sowie die Website von Poly Styrene.

The Mountain Goats: All Eternals DeckHerz der Finsternis

John Darnielle macht einfach immer weiter. Man kann sich nie ganz sicher sein, welche Monster und Alpträume hinter dem Mann, der sich auch The Mountain Goats nennt – jetzt mit Bassist und Drummer zum Trio gereift -, her sind, aber er wird einen Scheißdreck tun und sich ihnen geschlagen geben. Dies ist die gefühlte 400ste Scheibe mit wieder einmal einigen der gruseligsten Prosagedichten, die sich in englischer Sprache singen lassen, begleitet von scheinbar einfachen, aber bis ins Letzte durchdachten Kompositionen. In harten Zahlen ist es tatsächlich das 14. Album des Singer/Songwriters. Wieder einmal bevölkern Vampire, Päderasten und personifizierte Boshaftigkeiten die Szenerie – „you don’t wanna see these guys without their masks on“, warnt Darnielle in „The Autopsy Garland“. Das alles passiert aber wiederum vor dem Hintergrund äußerst beschwingter Folksongs, sodass sich der Hörer allzeit sicher aufgehoben fühlt. Gut, dass es Beständigkeit gibt in dieser Welt: Die Arschlöcher machen weiter, schlimme Dinge passieren, die Erde dreht sich, Stadt und Land miefen um die Wette – und John Darnielle macht seine tollen, mystischen, kryptischen Lieder aus dem Herzen der Finsternis. (TM)

The Mountain Goats: All Eternals Deck. Tomlab (Indigo).
Die Homepage des Trios. The Mountain Goats bei Facebook und auf Myspace.

Fleet Foxes: Helplessness BluesEcht und handgemacht

Ohne es nachgeprüft zu haben, ist sich die Rezensentin sehr sicher, dass „Helplessness Blues“, zweites Album der Fleet Foxes aus Seattle, von Magazinen wie dem Rolling Stone zum Album des Monats Mai erkoren wird. 2008 riss das Sextett um den bärtigen und karobehemdeten Robin Pecknold mit seiner Debüt-EP und dem darauffolgenden Album Kritiker und Fans zu Jubelstürmen hin, mit „Helplessness Blues“ wird dasselbe geschehen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: die neuen Songs der flüchtigen Füchse sind ganz und gar meisterhaft, dass die Band sie selbst als „baroque harmonic pop jams“ bezeichnet, kann nur als Koketterie gebenedeiter Musiker interpretiert werden. Der Opener „Montezuma“, „Bedouin Dress“ oder fröhlicher Nonsens wie „Sim Sala Bim“ bestechen durch brillante Instrumentierung und lockerleichte, transparente Arrangements; trotz aller Perfektion wirken die Songs, als seien sie wie nebenbei beim Abhängen auf der Veranda entstanden. Die Fleet Foxes zelebrieren die Musik der 1960er-Jahre mit einer Ausschließlichkeit, die man nur vorbehaltlos bewundern oder rundheraus ablehnen kann. Beach Boys, Simon & Garfunkel, die Byrds und vor allem Crosby, Stills, Nash & Young sind die großen Heiligen der Foxes, denen sie in einer Perfektion huldigen, die die Vorbilder selbst nicht hatten. Der Blues der Fleet Foxes leuchtet und strahlt, ist sowieso viel mehr Folk als Blues und trägt eine sanfte Americana-Country-Ahnung in sich. Sonnensatte Melodien und harmonischer Satzgesang bestimmen die zwölf Lieder, die alle schon beim ersten Hören im Ohr bleiben – und auch werden, denn „Helplessness Blues“ ist eins dieser Alben, die Redakteure vom bereits erwähnten Rolling Stone als „Platten für die Ewigkeit“ bezeichnen. Die Fleet Foxes machen Musik für Menschen, denen es auf das Echte, Handgemachte ankommt, die synthetische Bearbeitung verachten und die der Meinung sind, dass die bedeutendste Popmusik in den Sechzigern gemacht wurde. Die Rezensentin ist sich nicht ganz sicher, ob sie diese Auffassung teilt. (CM)

Fleet Foxes: Helplessness Blues. Bella Union/Cooperative (Universal).
Die Homepage des Sextetts. Fleet Foxes auf Myspace und bei Facebook.

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