Neue Platten von und mit Marianne Faithfull, Caribou, Olivia Louvel, „New Orleans Soul“, The Drums und Aphex Twin, gehört von Tina Manske (TM) und Christina Mohr (MO).
Marianne Faithfull: Give My Love To London
(TM) Als eine Kollegin im Tagesspiegel neulich schrieb, „Give My Love To London“ sei ohne große Höhepunkte, eben ein typisches Altersalbum, da hätte ich ihr gern so richtig eine abgeräumt. Typisches Altersalbum? Welch eine Frechheit! Wer sich die neueste Platte der grande dame Marianne Faithfull, immerhin bereits ihr zwanzigstes, mit offenen Ohren nähert, dem wird es schon sehr bald ans Herz wachsen. 50 Jahre ist die Frau schon im Geschäft, im Herbst wird sie auf Welttournee gehen, und ein Fotobuch über sie erscheint demnächst. Hauptwerk dieser unglaublichen Karriere ist aber natürlich immer noch die Musik. Nach einer schweren Rückenverletzung, die sie sich 2013 zugezogen hatte, war Faithfull eine ganze Weile ans Bett gefesselt und konnte nichts weiter tun, als Songs zu schreiben.
Für „Give My Love To London“ holte sich Faithfull jede Menge großartiger Kollegen ins Studio, unter anderem Adrian Utley (Portishead), Brian Eno sowie Warren Ellis und Jim Sclavunos von den Bad Seeds. Das gespenstische „Late Victorian Holocaust“ entstammt der Feder von Nick Cave, doch die besten Stücke sind die von Roger Waters: „Sparrows Will Sing“ und „Mother Wolf“, beide den miserablen Zustand der Welt beklagend. In Titeln wie „Falling Back“, geschrieben mit Anna Calvi, zeigt sich dann wieder die opulente drama queen – in diesen Geigen kann man schwe-hel-gen. Und wenn sie dann gegen Ende Cohens „Going Home“ covert, ist das eine wunderbare Hommage.
Marianne Faithfull: Give My Love To London. Naive (Indigo).
Marianne Faithfull live:
11.10.14 Stuttgart, Liederhalle, Hegelsaal
17.10.14 Leipzig, Haus Auensee
18.10.14 Hannover, Theater am Aegi
20.10.14 Düsseldorf, Mitsubishi Electric Halle
15.11.14 München, Circus Krone
25.11.14 Berlin, Tempodrom
26.11.14 Hamburg, Kampnagel
Caribou: Our Love
(MO) Ein Album voller Liebe: Nach dem unerwarteten Riesenerfolg von Caribous Konsensplatte „Swim“ (2010) und des Nebenprojekts Daphni wollte Dan Snaith seinen Fans einfach mal etwas zurückgeben, sich bedanken – schöner als mit „Our Love“ hätte ihm das kaum gelingen können. Die Tracks entstanden als bewusste Kontaktaufnahme „nach draußen“, weniger als autistisches Studiogefummel, dem sich der kanadische Mathematikersohn sonst beschäftigte. Warm, schimmernd und mit durchgehend positiven Vibes verbinden sich auf „Our Love“ das Schönste aus Ibiza-House und Wohnzimmerdisco, die Tracks sind so intim wie umarmend. Und kein bisschen eintönig: Jessy Lanza leiht dem souligen „Second Chance“ ihre sweete Stimme, „Mars“ tanzt auf einem Afrobeat, mit „Your Love Will Set You Free“ huldigt Snaith seiner tiefen Verbundenheit zum Krautrock.
Die Liebe (weniger wilder Sex: eher universal, familiär, freundschaftlich und doch, auch ein bisschen romantisch wie z.B. in „Julia Brightly“) erschöpft sich als Albumthema nicht, sondern führt zu immer wieder neuen Euphorieschüben, ein bisschen schüchtern vielleicht, schließlich ist das hier eine Platte von Dan Snaith – es soll ja Leute geben, die den Opener und Über-Dancehit „Can´t Do Without You“ oder den Rave-nostalgischen Titeltrack schon jetzt nicht mehr hören können, aber mal ehrlich: dann schließt euch doch mit euren Bob Dylan-Bootlegs zu Hause ein und bleibt allein, ohne Caribous leuchtende Liebesmusik. Ihr Armen.
Caribou: Our Love. Cityslang. Zur Facebookseite.
Olivia Louvel: Beauty Sleep
(MO) Dass dramatisches Talent im Pop nicht schadet, stellt ja unter anderen Amanda Palmer eindrucksvoll unter Beweis. Auch Olivia Louvels Karriere begann im Zirkus: Die klassisch ausgebildete Sängerin tourte drei Jahre lang mit der Trapezkünstlertruppe „Les Arts Sauts“ und führte – in zwölf Metern Höhe immerhin – das Stück „Madwoman´s Vision“ von Meredith Monk auf. Inzwischen arbeitet die in Paris geborene und in England lebende Louvel am Liebsten am Computer und bastelt extravagante Tracks, die ihr Kooperationen mit Alan Wilder (Ex-Depeche Mode, Recoil) und Tourneen mit Recoil und Planningtorock einbrachten. Mit ihrem neuen Album „Beauty Sleep“ lotet die Produzentin und Performerin das Animalische im Menschen aus bzw. rekurriert darauf, dass wir schließlich auch nur Säugetiere sind.
Auf dem Cover präsentiert sich Louvel als Mad Birdwoman, die Musik indes ist von berückender, seltsamer Schönheit – kein bisschen irre, sondern vielschichtige Songs aus reduzierten Beats, irgendwo zwischen R’n’B, Soul, Kraftwerk und Björk, sogar ein vertontes Shakespeare-Sonett („Live With Me“) ist dabei. Was Stücke wie „In My Shed“ (eine Neubearbeitung des Recoil-Songs „Stone“) oder „Paper Boy“ so herausragend macht, ist Olivia Louvels Stimme, die sie wie ein Instrument einsetzt: Sie knurrt, schluchzt, croont und seufzt und wirkt wie eine moderne Schamanin. Louvel ist eine wahre Multimediakünstlerin: Zu jedem Song von „Beauty Sleep“ gibt es einen experimentellen Kurzfilm.
Olivia Louvel: Beauty Sleep. Cat Werk Imprint. Zur Webseite.
Various: New Orleans Soul
(TM) Aus dem Hause Soul Jazz Records kommt schon wieder eine formidable Compilation. „New Orleans Soul“ feiert ebendiesen, und zwar zu seiner Hochzeit, in den 60er- bis Mitte der 70er-Jahre. New Orleans war schon immer ein Zentrum von inspirierender Musik, untrennbar verbunden mit der Geschichte der Sklaverei (dass es eine Kolonialzeit gab, in der das Schlagzeugspielen in den USA nur im Congo Square von New Orleans erlaubt war, weil sich dort am Sonntag die Sklaven trafen, mag man sich heute nur schwerlich vorstellen).
Den New Orleans Funk, der aus dem Soul entstand, hat Soul Jazz bereits in mehreren Compilations vorgestellt. Mit dieser Platte wenden wir uns also dem Vorgänger zu. New Orleans Soul inkorporierte Elemente aus Gospel, Rhythm & Blues und lateinamerikanische Einflüsse. Der wichtigste Mann im New Orleans Soul aber war Allen Toussaint, der unzählige Hits schrieb, arrangierte und produzierte. Die von vorne bis hinten unterhaltsame Platte präsentiert Interpreten wie Aaron Neville, Irma Thomas, Eddie Bo und viele andere. Ein wieder einmal sehr informatives Booklet mit ausführlichen Informationen zu den einzelnen Musikern komplettiert das Package.
Various: New Orleans Soul. The Original Sound of New Orleans Soul 1960-76.
The Drums: Encyclopedia
(MO) … Dann waren es nur noch zwei: The Drums, einstiges Quartett aus Brooklyn, sind jetzt als Duo unterwegs. Nachdem auch Drummer Connor Hanwick seinen Dienst quittierte, blieb Jonny Pierce und Jacob Graham nichts anderes übrig, als das dritte Drums-Album „Encyclopedia“ in reduzierter Besetzung fertigzustellen. An der Titelzahl allein lässt sich zumindest kein Verlust erkennen: Ganze dreizehn Stücke beinhaltet „Encyclopedia“, von denen aber – um es gleich zu sagen – nicht alle im Gedächtnis bleiben.
Aber das scheint ohnehin Schicksal und/oder Methode von The Drums zu sein: Auch vom Debütalbum und dem Zweitling „Portamento“ erinnert man hauptsächlich die eindeutigen Hits wie „Let´s Go Surfing“ und „Money“. „Encyclopedia“ startet umwerfend mit dem ungewohnt lauten, wilden, aufrührerischen „Magic Mountain“, das melodiöse „I Can´t Pretend“ schwelgt in Pixies-Gitarrenriffs und Sixties-Atmosphäre, mit „I Hope Time Doesn´t Change Him“ gelingt den Drums einer ihrer bisher anrührendsten Songs voller Nostalgie und unterschwelliger Sexyness.
Und so lässt es sich weiterschwärmen, ungefähr bis zur Mitte des Albums, dann schlafft der Spannungsbogen ziemlich ab, bzw. wiederholt sich das Muster aus Surf- und Sixtiessounds, vermischt mit Gitarren-/Synthiewave und Jonnys kreischigen Vocals als Topping. Man ist sich nicht ganz sicher, ob man den Song von eben schon mal gehört hat oder nicht, Aufmerksamkeit wird erst vom vorletzten Song, dem balladesken „Wild Geese“ wieder geweckt. Weil die erste Hälfte von „Encyclopedia“ aber so außerordentlich catchy und gelungen ist, breiten wir über die restlichen Songs gnädig ein großes Badehandtuch und blinzeln mit Jonny und Jacob in die Sonne.
The Drums: Encyclopedia. minor records (Rough Trade). Zur Homepage.
Aphex Twin: Syro
(TM) 13 Jahre war es still um Richard D. James, da ist eine neues Album von Aphex Twin im Grunde schon die eigentliche Meldung, denn Neues muss man bei „Syro“ nicht erwarten. Die Kids, die sich um die Jahrtausendwende zu Aphex Twins „Drukqs“ die Beine verschwirbelt haben, sind mittlerweile erwachsen und bauen im Schlafzimmer selbst ebensolche technoiden Tracks zusammen. Seinen Epigonen ist James aber noch immer weit voraus: niemand verbindet so traumwandlerisch ambiente Sphärenklänge mit pluckernden Synthies.
Allerdings spielt sich hier kein Titel in den Vordergrund, die Platte plätschert angenehm unaufdringlich vor sich hin. Aphex Twin tut keinem mehr weh, und so kann man mit „Syro“ einen sehr entspannten Abend verbringen. Im Artwork listet James sage und schreibe 138 Synthesizer-Typen auf, die auf dem Album verwendet werden. Das mag überflüssig sein, schließlich ist die Musik der Star, aber ein bisschen schön nerdig ist es eben auch.
Aphex Twin: Syro. Warp (Rough Trade).